Endlich mal wieder etwas Neues von der deutschen Autorin Tania Witte. “Einfach nur Paul” heißt ihr aktuelles Werk, das einen Jungen in den Mittelpunkt stellt, dessen Alltag total auf den Kopf gestellt wird, als er erfährt, dass seine Mutter nicht seine biologische Mutter ist. Die Geschichte einer Suche. Nach der eigenen Identiät, nach der echten Mutter und nach dem richtigen Platz im Leben. Bewegend, authentisch, ernst, aber auch locker-leicht und charmant erzählt. Mit Charakteren, die man einfach ins Herz schließt. Für Jugendliche ab 13 Jahren und interessierte Erwachsene.
Paul ist 16 Jahre alt und Sänger in einer Schulband. Er ist eigentlich ganz beliebt. “Der Sänger der Schulband zu sein, trug vermutlich dazu bei. Und das, obwohl ich nicht mal besonders gut sang, da waren sich alle einig, die Ahnung von Musik hatten.” (Zitat aus “Einfach nur Paul” S.13) Aber seine beste Freundin Amira, die die Band in der 8.Klasse gegründet hat, wollte ihn unbedingt dabei haben. Und da er kein Instrument spielte, blieb nur die Position des Sängers. Eigentlich mag Paul lieber elektronische Musik, träumt davon heimlich ein erfolgreicher DJ zu sein. Aber Paul mag eben auch Amira. Mehr sogar als mögen. Seit fünf Jahren ist er in sie verliebt. “Okay, Ru, was ist los?” Amira legte die Hand auf meinen Oberschenkel. Abgesehen von deiner Hand auf meinem Bein? Ich verkniff mir den Kommentar, weil das nirgendwohin führte und ich meine Gefühle für Amira im Griff behalten musste. Es kostete extrem viel Energie — Energie, die ich gerade nicht hatte. Obwohl ich wusste, dass es ein Fehler war, stellte ich den Eisbecher ab und legte die freie Hand auf Amiras, woraufhin sie ihre wegzog. Natürlich.” (Zitat S.13) Denn Amira, die er einmal sogar geküsst hat, erwidert seine Gefühle nicht. Und das weiß Paul. Trotzdem ist er gerne mit ihr zusammen. Kann ihren Trost gut gebrauchen, vor allem in letzter Zeit, weil er sich ständig mit seinem Vater streitet. Irgendwie hat Paul das Gefühl ihm gar nichts mehr recht machen zu können. Einerseits soll er endlich mal ein Mädchen mit nach Hause bringen, andererseits aber auch nicht zu “wild” sein: “
Wer erwartet denn bitte, von seinem Ü40-Historiker-Vater auf Insta gestalkt zu werden? Facebook, okay, aber Insta?” Sie lachte. “Hat er auch einen TikTok-Account?” “Oh, bitte! Es ist schon schlimm genug, dass er jedes einzelne meiner Fotos auf Insta gesehen hat, mach mir nicht noch TikTok kaputt.” “Hast du ihm denn mal gesteckt, dass du nicht mit jeder, mit der du Fotos machst, was hattest?” (Zitat S.17) Doch dann wird das familiäre Zusammenleben so richtig auf den Kopf gestellt, als seine kleine Schwester für einen Blutgruppentest für den Biologieunterricht etwas herausbekommt, das sie auf diesem Wege niemals hätten erfahren sollen. Paul kann aufgrund von Gesetzen der Vererbungslehre und seiner Blutgruppe nicht das Kind seiner Eltern sein! “Meine Mutter, die echte, also: die biologische, ist kurz nach meiner Geburt abgehauen. Hat nichts mitgenommen außer ihren Papieren — und eine Vollmacht oder so dagelassen, in der sie auf sämtliche Sorgerechtsansprüche verzichtet.” (Zitat S.64) Plötzlich ist alles anders.
Wer ist er denn nun überhaupt? Auf der Suche nach der Wahrheit muss Paul einige Hürden meistern…
Das Cover ist schlicht, aber doch treffend. Ein jugendliches Leben, das buchstäblich in Bewegung gerät. Auch der Titel ist sehr passend gewählt. Das Buch beginnt mit einem Tagtraum und einer äußerst coolen Überleitung zum eigentlichen Geschehen: “Der angesagteste Club Berlins pulsiert in meinem Rhytmus. Meine rechte Hand schlägt den Beat in die Luft, die andere klebt an den Reglern, als sich von hinten ein Arm um meine Taille schlingt. Ich neige den Kopf, mir weht ein Duft in die Nase und einen Moment lang gerät die Welt aus dem Takt. Amira. How I wish. und alles, was ich fühle ist — “Bist du krank?” ich schüttelte ich zurück in die Realität, in der vor mir keine Mischpulte standen, sondern ein zerkratzter Schultisch” (Zitat S.6) Der Roman wird hauptsächlich aus Pauls Sicht in der Ich-Perspektive erzählt. Nur zuweilen wird ein Text in einem anderen Schriftbild eingeblendet. Dies sind allesamt Briefe, die seine richtige Mutter in all den Jahren an ihn geschrieben hat: “Vergiss das nie, egal, was passiert: Du bist perfekt. Es ist die Welt, die das nicht ist. Und ich. Ich bin auch nicht perfekt. Oder vielleicht schon, aber nicht so, nicht hier. Wahrscheinlich nicht für dich und ganz sicher nicht für deinen Vater. Ich lese es in seinen Augen. Wenn er dich ansieht, leuchtet er, wenn sein Blick zu mir gleitet, erlischt er.” (Zitat S.24) Briefe, die manchmal fast schon ein bisschen zu viel und zu früh verraten, und ein wenig von der Spannung nehmen. Die Sprache von Tania Witte ist jugendsprachlich, leicht und locker, sehr modern und passend zur Zielgruppe. Das merkt man an den Themen, über die Paul und Amira sich unterhalten, und der Art, wie sie dies tun. Um Pauls zwiespältigen Gefühle zu beschreiben, hat die Autorin ein interessantes
Stilmittel gewählt, das immer öfters in der Geschichte auftaucht: “Amira boxte mich gegen den Oberarm, wie jedes Mal, wenn ich in meinem Kopf verschwand. “Du denkst zu viel und teilst zu wenig”, hieß das und meistens lag sie damit richtig. Es gab in der Tat zwei Pauls: einen in meinem Kopf und einen anderen, den der Rest der Welt sehen konnte. Sie hatten meist wenig miteinander zu tun.” (Zitat S.8) Paul als Charakter hat mir sehr gut gefallen. Er steckt voller geheimer Sehnsüchte und jugendlicher Energie. “Außerdem dachte ich, dass ich zu viel dachte, und dann überlegte ich, wie ich das abstellen könnte, und darüber dachte ich dann so lange nach, bis…” (Zitat S.215) Mal ist er in seinen komlizierten Gedankengängen gefangen und mal einfach nur am handeln. Aber eben “Einfach nur Paul”. Es geht um Identiätssuche in diesem Roman, was nicht aufdringlich, sondern mehr so lässig nebenbei passiert. Teilweise mit Witz und Charme, wenn Paul beispielsweise (bei einem
Überraschungsbesuch von Amira) mal schnell ins Bad geht “um mein bestes Selbst zu suchen. Spoiler: Ich fand es nicht.” (Zitat S.102), aber immer mit viel Herz. Die Figuren sind schön ausgearbeitet, haben Tiefgang und wirken authentisch. Besonders Pauls kleinere, 14-jährige Schwester, die er nur “Keks” nennt, fand ich höchst bezaubernd. In einer Szene macht sie Paul extra Waffeln, um ihn auf jene Sache aufmerksam zu machen: “Na ja, bis jetzt musste ich mich nicht anstrengen, damit du mich magst. Du musstest ja, wir sind schließlich Geschwister. Aber wenn wir bloß Papa teilen und Mama nicht mhr, also DNA-mäßig, dachte ich, du könntest eine kleine Erinnerung vertragen, dass man auch Halbschwestern lieben muss.” (Zitat S.80) Während es im Mittelteil kurz mal etwas ruhiger wird, hat mich die Autorin am Ende mit einer Wendung dann doch ziemlich überrascht. Das Ende ist passend, lässt noch Raum für eigene Gedanken.
Du magst Tania Wittes Erzählstil? Dann lies noch ihre beiden anderen Jugendbücher “Die Stille zwischen den Sekunden”, ein ebenfalls sehr bewegender, tiefgründiger Roman und “Marilu”, das mir auch sehr gut gefallen hat. Oder greif zu den Büchern von Ella Blix, denn hinter diesem Pseudonym verbirgt sich nicht nur Antje Wagner, sondern auch Tania Witte. Gemeinsam geschrieben haben sie “Der Schein” und “Wild: Sie hören dich denken”. Ein Mädchen, das herausfindet, dass ihr Vater nicht ihr leiblicher Vater ist, das findet du in diesen beiden Romanen “Schweigen ist Goldfisch” von Annabel Pitcher und “Diese eine Lüge” von Dante Medema. Als Baby in der Klinik vertauscht und bei “falschen” Eltern aufgewachsen, das ist die Protagonistin in “Herzmuschelsommer” von Julie Leuze. Sehr empfehlen kann ich auch “Das Jahr, nachdem die Welt stehen blieb” von Clare Furniss und “Marienkäfertage” von Uticha Marmon. In letzterem findet die Hauptfigur heraus, dass sie adoptiert wurde. Auf die Suche nach dem richtigen Vater macht sich auch das Mädchen in “Bis ich ihn finde: Die Geschichte einer Vatersuche” von Chrstine Fehér.
Bibliografische Angaben:Verlag: Arena ISBN: 978-3-401-60684-2 Erscheinungsdatum: 14.Oktober 2022 Einbandart: Hardcover Preis: 15,00€ Seitenzahl: 272 Übersetzer: - Originaltitel: - Originalverlag: - Originalcover: -
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