Dass die deutsche Autorin Tania Witte — bekannt aus dem Autorinnenduo Ella Blix mit Antje Wagner (“Der Schein”) — auch hervorragend alleine erzählen kann, das beweist sie in ihrem neuen Jugendbuch “Die Stille zwischen den Sekunden”. Eine Geschichte über die Nähe, die in Familien, Freundschaften und in einer beginnenden Liebe entstehen und die aber auch genauso schnell wieder jäh zerstört werden kann, beispielsweise durch die Folgen eines Terroranschlags. Ein tiefgründiger, bewegender Roman — ein Kaleidoskop aus langsam entstehendem Entsetzen, Tragik und Täuschung. Dieses Buch wird man definitiv so schnell nicht vergessen! Für Jugendliche ab 13 Jahren und für interessierte Erwachsene.
Hannover. Die 16-jährige Mara ist eher etwas unscheinbarer. Ein Selfie von sich selbst posten? Nein, so etwas würde sie nicht machen. Deshalb schwärmt sie auch nur heimlich für Chriso. “Chriso hieß eigentlich Christian und ging in die Zwölf, zwei Klassen über mir. Seit einem Austauschjahr in den USA hatte er einen eigenen Youtube-Kanal — klar, dass alle ihn bewunderten, als er auf unserer Schule landete.” (Zitat S.7) Jedes zweite Mädchen schwärmt für ihn. Und auch wenn Mara von ihm völlig links liegen gelassen wird und sich nicht einmal sicher ist, ob er überhaupt weiß, wie sie heißt, hatte sie ganz zu Beginn — als er neu an die Schule kam — einen ganz besonderen Moment mit ihm. Als sie angerempelt wurde und ihr Handy herunterfiel und Chriso es geistesgegenwärtig auffing und ihr direkt in die Augen sah. “Dann legte er mir das Telefon zurück in die Hand, ganz vorsichtig, als ob es sehr wertvoll wäre. Als ob ich sehr wertvoll wäre. “Danke”, stammelte ich. Ganz kurz berührten mich seine Fingerspitzen.” (Zitat S.8) Doch das ist jetzt ein Jahr und vier Monate her und eigentlich ist Chriso manchmal richtig oberflächlich und nur darauf aus heimlich Gespräche mitzufilmen von Leuten, die über irgendjemanden ablästern. Diese anonymisierten Filme werden dann auf seinem Kanal veröffentlicht und mit allerlei witzigen und fiesen Kommentaren versehen. Viel Nähe hingegen verspürt Mara, wenn sie mit ihrer besten Freundin Lyd zusammen ist, mit der sie auch mal schweigen kann, ohne dass es unangenehm ist. Und besonders nah fühlt sie sich Sirîn, die auf eine andere Schule geht und die sie bei einem Kochkurs kennengelernt hat. Die Mädchen haben viele Gemeinsamkeiten, unter anderen das Kochen, haben sogar am selben Tag Geburtstag und sind wie Seelenverwandte: “Sirîn und ich, das war Magie.” (Zitat S.105) Sirîn stammt aus einer kurdischen Familie, die sie manchmal etwas sehr behütet. Mit Jungs unterwegs sein, das darf Sirîn nicht. Und doch ist selbst Mara wie ein Mitglied in der Familie Duman geworden. Sogar ihren 16.Geburtstag haben sie zusammen mit allen bei Sirîn gefeiert: “Danach brachten wir Sirîns Eltern “Wie schön, dass du geboren bist” bei und sie uns ein kurdisches Volkslied, das vor allem aus Trillern zu bestehen schien. Und am Ende sangen wir noch einmal alle zusammen in allen Sprachen, die wir konnten, “Happy Birthday”. Dann fielen wir uns in die Arme und ich schwöre, es war das beste Fest meines Lebens gewesen…” (Zitat S.104) Aber dann kommt es eines Tages zu einem Terroranschlag in einer U‑Bahn, in welche Mara eigentlich steigen wollte und die sie aber gerade im letzten Moment verpasst hat: “Die Türen der Bahn schlossen sich bereits. Mit einem letzten Hechtsprung zwängte ich meine Schultern zwischen die Türen, aber der Spalt war zu klein. Ich prallte ab. “Scheiße!” Meine Hände donnerten gegen die Scheiben, zweimal. Die Menschen in der Bahn sahen erschrocken von ihren Handys auf. Eine Frau legte beschützend die Arme um das Baby, das sie vor ihren Bauch gebunden hatte, und sah wütend in meine Richtung.” (Zitat S.5) Und seit diesem Anschlag ist plötzlich alles anders. Sirîns Familie scheint ihre Tochter von der Außenwelt abzuschirmen. Denn ihre Mutter hat bereits eine Tochter im Irak bei einem Anschlag verloren. Und nun darf Sirîn gar nicht mehr nach draußen, bekommt Hausarrest, kann nicht mehr zur Schule gehen und bekommt ihr Handy weggenommen. Sie schreibt Mara nur noch ganz sporadisch. Was wenn sie ihre beste Freundin nun zurück in den Irak schicken? Zusammen mit Chriso, dem sie unweigerlich näher kommt, versucht Mara das Schlimmste zu verhindern…
Das Cover von “Die Stille zwischen den Sekunden” ist unheimlich gut getroffen und ein echter Hingucker! Der Roman ist in einzelne Kapitel unterteilt und wird durchgehend aus Maras Sicht in der Ich-Perspektive erzählt. Was mir an dem Buch besonders gut gefallen hat, sind die Figuren, die keinesfalls nach einem 0−8−15 Schema aufgebaut sind, sondern gerade durch ihre Gegensätzlichkeit und Authentizität auffallen. Da wäre zum einen Mara selbst, die sizilianische Wurzeln hat und völlig aktzentfrei italienisch spricht, aber mit ihren blonden Haaren doch eher typisch “deutsch” aussieht. Und da wäre ihre Mutter: liebevoll und aufmerksam, aber — obwohl Italienerin — überhaupt nicht kochen kann. Auch Chriso löst in Mara völlig widersprüchliche Gefühle aus. Zum einen scheint er der oberflächliche Macho zu sein, der nur dumme Witze auf seinem Kanal reißen kann, dann aber nimmt er sie doch irgendwie mit seiner Ausstrahlung für sich ein. Ich muss gestehen, dass ich zu Anfang — nach Chrisos Behauptung es hätte einen lauten “BÄMM!” gegeben und es wäre Panik auf der Station ausgebrochen, noch einmal kurz zurückgeblättert habe. Wollte er sich wirklich wichtig machen und hat sich das ausgedacht? Hat sie nicht sogar Musik auf Kopfhörern gehört? Ist sie nicht in jener Minute, in der die Explosion im Tunnel — weiter entfernt von der Station — geschah, schon losgelaufen? Und warum hat sie zuerst behauptet er wäre gar nicht da gewesen? Da bin ich kurz etwas ins Stocken geraten… Das war für mich nicht so ganz deutlich. Erst beim genaueren Nachlesen entdeckt man die Feinheiten. Die Sprache von Tania Witte ist sehr flüssig und angenehm. Teilweise sogar sehr bildreich und mit interessanten Metaphern: “Ich hatte mich in der Raucherecke versteckt, hinter den Buschskeletten, die wir Rauchbüsche nannten. Sie schützten die Raucher vor den Blicken derer, die nicht rauchten, und gerade schützten sie mich vor den Blicken unserer Mathelehrerin, in deren Unterricht ich sein sollte. Die erste Stunde hatte gerade mal vor zehn Minuten angefangen, aber der Tag war schon so anstrengend, wie ein Drei-Sterne-Menü nachzukochen.” (Zitat S.41) Auch Chatgespräche werden — und das ist schön gemacht — in einem Sprechblasen-Design abgedruckt. Das ist zeitgemäß, ansprechend umgesetzt und lockert den Lesefluss auf. Während ich am Anfang noch nicht wirklich eine Idee hatte, in welche Richtung sich der Roman entwickeln würde — und vor allem die Familie und die Freundschaft zu Sirîn in den Mittelpunkt gestellt wird — verdichtet sich die Geschichte bald immer mehr. Man wird förmlich ein einen Sog hineingezogen, der — je nach Leseerfahrung — bald schon einen schrecklichen Verdacht entstehen lässt. Circa 80 Seiten vor dem Ende habe ich eben jenem bereits ungeduldig entgegengefiebert, um mehr aufklärende Details zu meiner Vermutung zu erfahren. Und siehe da, es war tatsächlich genauso wie ich es erwartet hatte;-) Dennoch bin ich mir sicher, dass eine Menge Leser gegen Ende völlig überrascht und betroffen reagieren werden!
Fazit: “Die Stille zwischen den Sekunden” hat mir richtig gut gefallen und wird auch definitiv noch lange nachklingen.
Hier findest du übrigens noch ein interessantes Interview mit Tania Witte.
Dir gefällt Tania Wittes Erzählstil? Das erste Jugendbuch, das sie veröffentlicht hat, hat sie gemeinsam mit Antje Wagner geschrieben. Ihr gemeinsames Pseudonym ist Ella Blix und ihr Buch heißt: “Der Schein” — richtig schön spannend! Eine Freundschaft und ein Attentat, das steht ebenso im Mittelpunkt in “Djihad, mon amour” von Dounia Bouzar. Noch etwas heftiger, aber sprachgewaltiger geht es in “Die Attentäter” von Antonia Michaelis zur Sache. Ein Anschlag, der alles verändert, das erlebst du ebenfalls in “Babel” von Jan de Leeuw (toll!) und in “Last Exit: Das Spiel fängt gerade erst an” von Mirjam Mous (spannend, und mit schön viel Tiefgang). Widersprüchliche Figuren und ein Buch, das ganz anders ist, als man erwartet, das kannst du zudem bei der Neuerscheinung “The Hurting: Als du mich gestohlen hast” von Lucy van Smit entdecken. Überlebt zu haben, während andere starben, das ist übrigens auch die Protagonistin in “Love is a mircle” von Elizabeth Scott passiert. ««««««ACHTUNG SPOILER:»»»»»» Das Ende hat mich sofort an eine große Anzahl von Büchern denken lassen, die dieses Erzählmotiv ebenfalls verwenden, lies hierzu zum Beispiel “Als ich dich suchte” von Lauren Oliver oder “Feuerschwester” von Emiko Jean. Gut vorstellen könnte ich mir ebenso “Scherbenmädchen” von Liz Coley oder “Solange wir lügen” von E.Lockhart, in denen die Wahrheit auch erst ganz zum Schluss ans Tageslicht kommt. Ich muss gesehen, ich mag solche Bücher und solche Enden, und habe bereits eine kleine Sammlung an Titeln, die ich allesamt schon etwas älter sind, aber die ich (zu Beginn noch mit größter Überraschung am Ende) verschlungen habe (daher kam ich auch relativ schnell auf die Auflösung;-)) “Böser Bruder, toter Bruder” von Narinder Dhami , “1000 Mal gedenk ich dein” von Heike E. Schmidt, “Tote Mädchen schreiben keine Briefe” von Gail Giles und “Böse, böse” von Elizabeth Woods. ««««««ENDE SPOILER»»»»»
Bibliografische Angaben: Verlag: Arena ISBN: 978-3-401-60474-9 Erscheinungsdatum: 18.März 2019 Einbandart: Hardcover Preis: 15,00€ Seitenzahl: 256 Übersetzer: - Originaltitel: - Originalverlag: - Originalcover: -
Kasimiras Bewertung:
(4,5 von 5 möglichen Punkten)