Tania Witte — Die Stille zwischen den Sekunden

Kasimira25.März 2019

Dass die deut­sche Autorin Tania Wit­te — bekannt aus dem Autorin­nen­duo Ella Blix mit Ant­je Wag­ner (“Der Schein”) — auch her­vor­ra­gend allei­ne erzäh­len kann, das beweist sie in ihrem neu­en Jugend­buch “Die Stil­le zwi­schen den Sekun­den”. Eine Geschich­te über die Nähe, die in Fami­li­en, Freund­schaf­ten und in einer begin­nen­den Lie­be ent­ste­hen und die aber auch genau­so schnell wie­der jäh zer­stört wer­den kann, bei­spiels­wei­se durch die Fol­gen eines Ter­ror­an­schlags. Ein tief­grün­di­ger, bewe­gen­der Roman — ein Kalei­do­skop aus lang­sam ent­ste­hen­dem Ent­set­zen, Tra­gik und Täu­schung. Die­ses Buch wird man defi­ni­tiv so schnell nicht ver­ges­sen! Für Jugend­li­che ab 13 Jah­ren und für inter­es­sier­te Erwachsene.

Han­no­ver. Die 16-jäh­ri­ge Mara ist eher etwas unschein­ba­rer. Ein Sel­fie von sich selbst pos­ten? Nein, so etwas wür­de sie nicht machen. Des­halb schwärmt sie auch nur heim­lich für Chr­i­so. “Chr­i­so hieß eigent­lich Chris­ti­an und ging in die Zwölf, zwei Klas­sen über mir. Seit einem Aus­tausch­jahr in den USA hat­te er einen eige­nen You­tube-Kanal — klar, dass alle ihn bewun­der­ten, als er auf unse­rer Schu­le lan­de­te.” (Zitat S.7) Jedes zwei­te Mäd­chen schwärmt für ihn. Und auch wenn Mara von ihm völ­lig links lie­gen gelas­sen wird und sich nicht ein­mal sicher ist, ob er über­haupt weiß, wie sie heißt, hat­te sie ganz zu BeginnKasimira — als er neu an die Schu­le kam — einen ganz beson­de­ren Moment mit ihm. Als sie ange­rem­pelt wur­de und ihr Han­dy her­un­ter­fiel und Chr­i­so es geis­tes­ge­gen­wär­tig auf­fing und ihr direkt in die Augen sah. “Dann leg­te er mir das Tele­fon zurück in die Hand, ganz vor­sich­tig, als ob es sehr wert­voll wäre. Als ob ich sehr wert­voll wäre. “Dan­ke”, stam­mel­te ich. Ganz kurz berühr­ten mich sei­ne Fin­ger­spit­zen.” (Zitat S.8) Doch das ist jetzt ein Jahr und vier Mona­te her und eigent­lich ist Chr­i­so manch­mal rich­tig ober­fläch­lich und nur dar­auf aus heim­lich Gesprä­che mit­zu­fil­men von Leu­ten, die über irgend­je­man­den abläs­tern. Die­se anony­mi­sier­ten Fil­me wer­den dann auf sei­nem Kanal ver­öf­fent­licht und mit aller­lei wit­zi­gen und fie­sen Kom­men­ta­ren ver­se­hen. Viel Nähe hin­ge­gen ver­spürt Mara, wenn sie mit ihrer bes­ten Freun­din Lyd zusam­men ist, mit der sie auch mal schwei­gen kann, ohne dass es unan­ge­nehm ist. Und beson­ders nah fühlt sie sich Sirîn, die auf eine ande­re Schu­le geht und die sie bei einem Koch­kurs ken­nen­ge­lernt hat. Die Mäd­chen haben vie­le Gemein­sam­kei­ten, unter ande­ren das Kochen, haben sogar am sel­ben Tag KasimiraGeburts­tag und sind wie See­len­ver­wand­te: “Sirîn und ich, das war Magie.” (Zitat S.105) Sirîn stammt aus einer kur­di­schen Fami­lie, die sie manch­mal etwas sehr behü­tet. Mit Jungs unter­wegs sein, das darf Sirîn nicht. Und doch ist selbst Mara wie ein Mit­glied in der Fami­lie Duman gewor­den. Sogar ihren 16.Geburtstag haben sie zusam­men mit allen bei Sirîn gefei­ert: “Danach brach­ten wir Sirîns Eltern “Wie schön, dass du gebo­ren bist” bei und sie uns ein kur­di­sches Volks­lied, das vor allem aus Tril­lern zu bestehen schien. Und am Ende san­gen wir noch ein­mal alle zusam­men in allen Spra­chen, die wir konn­ten, “Hap­py Bir­th­day”. Dann fie­len wir uns in die Arme und ich schwö­re, es war das bes­te Fest mei­nes Lebens gewe­sen…” (Zitat S.104) Aber dann kommt es eines Tages zu einem Ter­ror­an­schlag in einer U‑Bahn, in wel­che Mara eigent­lich stei­gen woll­te und die sie aber gera­de im letz­ten Moment ver­passt hat: “Die Türen der Bahn schlos­sen sich bereits. Mit einem letz­ten Hecht­sprung zwäng­te ich mei­ne Schul­tern zwi­schen die Türen, aber der Spalt war zu klein. Ich Kasimiraprall­te ab. “Schei­ße!” Mei­ne Hän­de don­ner­ten gegen die Schei­ben, zwei­mal. Die Men­schen in der Bahn sahen erschro­cken von ihren Han­dys auf. Eine Frau leg­te beschüt­zend die Arme um das Baby, das sie vor ihren Bauch gebun­den hat­te, und sah wütend in mei­ne Rich­tung.” (Zitat S.5) Und seit die­sem Anschlag ist plötz­lich alles anders. Sirîns Fami­lie scheint ihre Toch­ter von der Außen­welt abzu­schir­men. Denn ihre Mut­ter hat bereits eine Toch­ter im Irak bei einem Anschlag ver­lo­ren. Und nun darf Sirîn gar nicht mehr nach drau­ßen, bekommt Haus­ar­rest, kann nicht mehr zur Schu­le gehen und bekommt ihr Han­dy weg­ge­nom­men. Sie schreibt Mara nur noch ganz spo­ra­disch. Was wenn sie ihre bes­te Freun­din nun zurück in den Irak schi­cken? Zusam­men mit Chr­i­so, dem sie unwei­ger­lich näher kommt, ver­sucht Mara das Schlimms­te zu verhindern…

Das Cover von “Die Stil­le zwi­schen den Sekun­den” ist unheim­lich gut getrof­fen und ein ech­ter Hin­gu­cker! Der Roman ist in ein­zel­ne Kapi­tel Kasimiraunter­teilt und wird durch­ge­hend aus Maras Sicht in der Ich-Per­spek­ti­ve erzählt. Was mir an dem Buch beson­ders gut gefal­len hat, sind die Figu­ren, die kei­nes­falls nach einem 0−8−15 Sche­ma auf­ge­baut sind, son­dern gera­de durch ihre Gegen­sätz­lich­keit und Authen­ti­zi­tät auf­fal­len. Da wäre zum einen Mara selbst, die sizi­lia­ni­sche Wur­zeln hat und völ­lig akt­zent­frei ita­lie­nisch spricht, aber mit ihren blon­den Haa­ren doch eher typisch “deutsch” aus­sieht. Und da wäre ihre Mut­ter: lie­be­voll und auf­merk­sam, aber — obwohl Ita­lie­ne­rin — über­haupt nicht kochen kann. Auch Chr­i­so löst in Mara völ­lig wider­sprüch­li­che Gefüh­le aus. Zum einen scheint er der ober­fläch­li­che Macho zu sein, der nur dum­me Wit­ze auf sei­nem Kanal rei­ßen kann, dann aber nimmt er sie doch irgend­wie mit sei­ner Aus­strah­lung für sich ein. Ich muss geste­hen, dass ich zu Anfang — nach Chr­i­sos Behaup­tung es hät­te einen lau­ten “BÄMM!” gege­ben und es wäre Panik auf der Sta­ti­on aus­ge­bro­chen, noch ein­mal kurz zurück­ge­blät­tert habe. Woll­te er sich wirk­lich wich­tig machen und hat sich das auKasimirasge­dacht? Hat sie nicht sogar Musik auf Kopf­hö­rern gehört? Ist sie nicht in jener Minu­te, in der die Explo­si­on im Tun­nel — wei­ter ent­fernt von der Sta­ti­on — geschah, schon los­ge­lau­fen? Und war­um hat sie zuerst behaup­tet er wäre gar nicht da gewe­sen? Da bin ich kurz etwas ins Sto­cken gera­ten… Das war für mich nicht so ganz deut­lich. Erst beim genaue­ren Nach­le­sen ent­deckt man die Fein­hei­ten. Die Spra­che von Tania Wit­te ist sehr flüs­sig und ange­nehm. Teil­wei­se sogar sehr bild­reich und mit inter­es­san­ten Meta­phern: “Ich hat­te mich in der Rau­cher­ecke ver­steckt, hin­ter den Busch­ske­let­ten, die wir Rauch­bü­sche nann­ten. Sie schütz­ten die Rau­cher vor den Bli­cken derer, die nicht rauch­ten, und gera­de schütz­ten sie mich vor den Bli­cken unse­rer Mathe­leh­re­rin, in deren Unter­richt ich sein soll­te. Die ers­te Stun­de hat­te gera­de mal vor zehn Minu­ten ange­fan­gen, aber der Tag war schon so anstren­gend, wie ein Drei-Ster­ne-Menü nach­zu­ko­chen.” (Zitat S.41) Auch Chat­ge­sprä­che wer­den — und das ist schön Kasimiragemacht — in einem Sprech­bla­sen-Design abge­druckt. Das ist zeit­ge­mäß, anspre­chend umge­setzt und lockert den Lese­fluss auf. Wäh­rend ich am Anfang noch nicht wirk­lich eine Idee hat­te, in wel­che Rich­tung sich der Roman ent­wi­ckeln wür­de — und vor allem die Fami­lie und die Freund­schaft zu Sirîn in den Mit­tel­punkt gestellt wird — ver­dich­tet sich die Geschich­te bald immer mehr. Man wird förm­lich ein einen Sog hin­ein­ge­zo­gen, der — je nach Lese­er­fah­rung — bald schon einen schreck­li­chen Ver­dacht ent­ste­hen lässt. Cir­ca 80 Sei­ten vor dem Ende habe ich eben jenem bereits unge­dul­dig ent­ge­gen­ge­fie­bert, um mehr auf­klä­ren­de Details zu mei­ner Ver­mu­tung zu erfah­ren. Und sie­he da, es war tat­säch­lich genau­so wie ich es erwar­tet hat­te;-) Den­noch bin ich mir sicher, dass eine Men­ge Leser gegen Ende völ­lig über­rascht und betrof­fen reagie­ren werden!

Fazit:Die Stil­le zwi­schen den Sekun­den” hat mir rich­tig gut gefal­len und wird auch defi­ni­tiv noch lan­ge nachklingen.

Hier fin­dest du übri­gens noch ein inter­es­san­tes Inter­view mit Tania Wit­te.

Dir gefällt Tania Wit­tes Erzähl­stil? Das ers­te Jugend­buch, das sie ver­öf­fent­licht hat, hat sie gemein­sam mit Ant­je Wag­ner geschrie­ben. Ihr gemein­sa­mes Pseud­onym ist Ella Blix und ihr Buch heißt: “Der Schein” — rich­tig schön span­nend! Eine Freund­schaft und ein Atten­tat, das steht eben­so im Mit­tel­punkt in “Dji­had, mon amour” von Dounia Bou­z­ar. Noch etLesealternativenwas hef­ti­ger, aber sprach­ge­wal­ti­ger geht es in “Die Atten­tä­ter” von Anto­nia Michae­lis zur Sache. Ein Anschlag, der alles ver­än­dert, das erlebst du eben­falls in “Babel” von Jan de Lee­uw (toll!) und in “Last Exit: Das Spiel fängt gera­de erst an” von Mir­jam Mous (span­nend, und mit schön viel Tief­gang). Wider­sprüch­li­che Figu­ren und ein Buch, das ganz anders ist, als man erwar­tet, das kannst du zudem bei der Neu­erschei­nung “The Hur­ting: Als du mich gestoh­len hast” von Lucy van Smit ent­de­cken. Über­lebt zu haben, wäh­rend ande­re star­ben, das ist übri­gens auch die Prot­ago­nis­tin in “Love is a mir­cle” von Eliza­beth Scott pas­siert. ««««««ACHTUNG SPOILER:»»»»»» Das Ende hat mich sofort an eine gro­ße Anzahl von Büchern den­ken las­sen, die die­ses Erzähl­mo­tiv eben­falls ver­wen­den, lies hier­zu zum Bei­spiel “Als ich dich such­te” von Lau­ren Oli­ver oder Feu­er­schwes­ter” von Emi­ko Jean. Gut vor­stel­len könn­te ich mir eben­so “Scher­ben­mäd­chen” von Liz Coley oder “Solan­ge wir lügen” von E.Lockhart, in denen die Wahr­heit auch erst ganz zum Schluss ans Tages­licht kommt. Ich muss gese­hen, ich mag sol­che Bücher und sol­che Enden, und habe bereits eine klei­ne Samm­lung an Titeln, die ich alle­samt schon etwas älter sind, aber die ich (zu Beginn noch mit größ­ter Über­ra­schung am Ende) ver­schlun­gen habe (daher kam ich auch rela­tiv schnell auf die Auf­lö­sung;-)) “Böser Bru­der, toter Bru­der” von Narin­der Dha­mi , “1000 Mal gedenk ich dein” von Hei­ke E. Schmidt, “Tote Mäd­chen schrei­ben kei­ne Brie­fe” von Gail Giles und “Böse, böse” von Eliza­beth Woods. ««««««ENDE SPOILER»»»»»

Bibliografische Angaben:
Schilder was wo wer wannVerlag: Arena
ISBN: 978-3-401-60474-9
Erscheinungsdatum: 18.März 2019
Einbandart: Hardcover
Preis: 15,00€ 
Seitenzahl: 256 
Übersetzer: -
Originaltitel: - 
Originalverlag: -
Originalcover: -

Kasimiras Bewertung:

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(4,5 von 5 mög­li­chen Punkten)

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