“Herzmuschelsommer” von der Stuttgarter Autorin Julie Leuze ist ein Roman über die Suche nach den eigenen Wurzeln und dem Finden der wahren Liebe. Ein Buch, das seine Leser in die raue und mythengeprägte Bretagne verschlägt. Mit viel Lokalkolorit, Einfühlungsvermögen und einer schönen Portion Romantik erzählt. Nun neu als Taschenbuch erschienen. Für Jugendliche ab 14 beziehungsweise 15 Jahren und Erwachsene.
Kerentiezh. Ein kleines, (fiktives) Örtchen in der Bretagne. Hier ist die 16-jährige Kim nun gelandet, um ihre Sommerferien zu verbringen. “Eine Frau steigt aus und hastet auf mich zu. Sie ist da. Langsam erhebe ich mich von meinem Koffer. Und schon steht sie vor mir, atemlos und strahlend. Sie ist fünfundzwanzig Jahre älter als ich, doch im dämmerigen Abendlicht sieht sie mir so ähnlich, dass es fast unheimlich ist.” (Zitat aus “Herzmuschelsommer” S.10) Denn vor drei Monaten haben sie und ihre Eltern durch Zufall erfahren, dass Kim nicht ihre leibliche Tochter ist. Dass sie als Baby in der Klinik vertauscht wurde. Mit einem anderen Kind, das Monate danach verstorben ist. Ihre biologischen Eltern wohnen in der Bretagne und nach heftigen Streitereien mit ihrer Mutter hat Kim beschlossen diese endlich kennenzulernen. Sie wird mit offenen Armen empfangen. Und doch hat Kim Schwierigkeitenmit all dem Neuen umzugehen. Die Liebe ihrer “neuen” Mutter erdrückt sie, die Sehnsucht nach ihrer “alten” Mutter, zu der sie auf Distanz gegangen ist, verwirrt sie. Verwirrend ist für sie auch Padrig, den Kim in dem kleinen Örtchen kennenlernt. Der ihr ein paar Sehenswürdigkeiten zeigt und ihr von den vielen Sagen und Legenden erzählt, die sich um die Gegend ranken. Dabei hat Kim doch einen Freund in Deutschland! Tito, der zwei Jahre älter ist als sie und mit dem sie sich in letzter Zeit leider auch oft gestritten hat. Meistens ging es dabei nur um ein Thema: wann sie endlich mit ihm schlafen würde. “So gut Tito auch küsste und so gern ich mit ihm zusammen war — Schmetterlinge im Bauch hatte ich nicht. Was auch der Grund dafür war, dass ich den Sex immer wieder hinauszögerte: Ich wollte abwarten, bis sich die große Liebe zwischen uns einstellte. Irgendwann würde das doch passieren. Oder?” (Zitat S.40) Bald empfindet Kim Schmetterlinge im Bauch, aber daran ist nicht Tito schuld…
“Herzmuschelsommer” wird aus Kims Sicht in der Ich-Perspektive erzählt. Die Sprache ist sehr flott und flüssig, die Hauptperson kommentiert auf sehr natürliche, unkomplizierte Art und Weise ihre Empfindungen. Diese zu schildern ist Julie Leuze sehr gut gelungen. Besonders die Zerrissenheit zwischen zwei Welten, — dem Sitzen zwischen zwei Stühlen — wirkt sehr authentisch: “Ich gehöre nicht hierher, in dieses schweißkalte Meer, zu dieser Frau im Häkelbikini und dem attraktiven Mann mit dem Dreitagebart, aber genauso wenig gehöre ich zu Mama und Papa, die zu Sabine und Bernd geworden sind in dem Moment, da sie erfahren haben, dass uns nichts verbindet als ein Missverständnis. Sie müssen mich überhaupt nicht mehr lieben. Sie haben mir gegenüber überhaupt keine Verpflichtungen mehr!” (Zitat S.47) Die Hauptperson macht eine glaubwürdige Wandlung durch, zu einer jungen Frau, die auch große Entscheidungen treffen kann und für die Liebe zu kämpfen bereit ist. Und auch wenn “Herzmuschelsommer” — neben großer Romantik — keine riesengroßen Spannungsbögen verzeichnet, liest sich die Geschichte sehr unterhaltsam und bringt vor allem Frankreich-Fans die Bretagne nahe: zum Beispiel bei einem Ausflug auf die Insel Bréhat, einem Picknick an einem Menhir, einem Stadtbummel in das Küstenstädtchen Paimpol
oder die Besichtigung der Abtei von Beauport - hier werden Reisesehnsüchte geweckt! (Anmerkung: nur das Örtchen Kerentiezh scheint leider nicht zu existieren, allerdings ist der Name dafür gut gewählt; es ist das bretonische Wort für “Familie”) Interessant fand ich auch die zeitweiligen Rückblenden, in denen beispielsweise das Entstehen von Kims und Titos Beziehung oder die Hintergründe ihrer Familiengeschichte geschildert werden. Julie Leuze verrät nicht gleich alles, sondern macht Andeutungen und zieht ihre Leser geschickt wie an einem roten Faden durch das Buch. Vor allem gegen Ende der Geschichte wird es richtig aufreibend und dramatisch, so dass man den Roman kaum aus den Händen legen möchte! Hinzufügen möchte ich noch, dass Julie Leuze erotische Szenen sehr ungeschminkt und deutlich beschreibt, was nicht in jedem Jugendbuch der Fall ist, daher die Altersempfehlung ab 14 oder sogar ab 15 Jahren (je nach Reife des Lesers).
Du magst den Erzählstil von Julie Leuze? Dann lies doch noch zwei andere Jugendbücher von ihr: “Der Geschmack von Sommerregen” und “Sternschnuppenträume”. Für Ersteres wurde die Autorin mit dem Literaturpreis “DeLiA” ausgezeichnet, als bester deutschsprachiger Liebesroman des Jahres 2013. Ihr neuestes Buch ist “Das Glück an meinen Fingerspitzen” (2018). Andere Romane, die in Frankreich spielen, sind “French Summer: A fucking great road trip” von Marian de Smet (ein Roadmovie quer durch das Land) und “Lavendelsommer” von Cora Berg (Südfrankreich) und “Glücksdrachenzeit” von Katrin Zipse (Südfrankreich, Thaddäaus-Troll-Preis 2014, toll!). Oder gefällt dir die Bretagne so wie in “Herzmuschelsommer”? Dann greif zu “Pardon, Monsieur, ist dieser Hund blind?” von Hervé Jaouen (einer turbulenten Familiengeschichte, Thema: Alzheimer) oder lies die Neuerscheinung “Die Klippen von Perronec” von Elke Satzger. Eine sich auf einmal veränderte Familiensituation findest du ebenso in “Schweigen ist Goldfisch” von Annabel Pitcher oder in “Marienkäfertage” von Uticha Marmon, das ich mir auch sehr gut als Lesealternative vorstellen könnte, da es die innere Zerrissenheit der Hauptperson sehr gut schildert.
Bibliografische Angaben:Verlag: Ravensburger ISBN: 978-3-473-54463-9 Erscheinungsdatum: 18.April 2018 Einbandart: Taschenbuch Preis: 5,99€ Seitenzahl: 352 Übersetzer: - Originaltitel: - Originalverlag: - Originalcover: -
Kasimiras Bewertung:
(4,5 von 5 möglichen Punkten)