“Trügerischer Sog” ist ein Thriller der deutschen Autorin Alexandra Kui. Sie entführt ihre Leser an die Nordsee, auf eine abgelegene Insel. Dort soll eine unharmonische Schulklasse von einer Lehrerin wieder auf Spur gebracht werden. Eine Klassenfahrt, auf der eine ungewollte Eigendynamik entsteht. Eine Geschichte über Mobbing, Manipulation und Macht. Mitreißend und unterhaltsam geschrieben, aber auch heftig und ein bisschen düster. Für Jugendliche (Jungs & Mädchen gleichermaßen) ab 13 Jahren und interessierte Erwachsene.
Kim schwärmt nicht nur heimlich für seine Mitschülerin Sara - die noch nicht allzu lange an ihrer Schule ist — sondern ein wenig auch für seine Klassenlehrerin Frau Hoppe. Das, obwohl beide ihn nicht wirklich bemerken. Im Unterricht hat er Sara jedoch genau im Blickfeld: “Vor allem in den langweiligen Stunden musste ich mir größte Mühe geben, nicht dauernd ihre langen Haare anzustarren, die wie Weizen in der Sonne glänzten, wenn sie sie lachend zurückwarf. Zum anderen, weil ich unabhängig von meiner Verknalltheit eine Heidenangst vor ihr hatte. Das ging es mir wie allen anderen.” (Zitat aus “Trügerischer Sog” S.16) Denn Sara gibt in der Klasse den Ton an, hat alle Mitschüler im Griff. Sie kann bösartig und intrigant sein. Hat sich längst mit den Anführern der Klassezusammengetan. Sie entscheidet, wer dazugehört. Sie entscheidet, wer ein Außenseiter ist. “Auf ihre Art war Sara genauso brutal wie Nick, nur dass ihre Gewalt eben auch mal plaudernd und augenklimpernd daherkam. Sie besaß die Gabe, unheimlich charmant rüberzukommen, während sie die nächste Gemeinheit längst im Anschlag hatte wie ein hinterm Rücken gezücktes Messer.” (Zitat S.105) Ihre Mitschüler bezeichnet sie als “Namenslose”. Die Klasse als “Friedhof der Namenlosen” (Zitat S.12) Bis es Frau Hoppe irgendwann reicht und sie die Schüler für ein Unterrichtsprojekt auf Klassenfahrt schickt. Sie will die Differenzen in der Klasse beseitigen. Dazu fahren sie auf die Nordseeinsel Maroog, auf der es nicht einmal Handyempfang gibt. Und allmählich scheinen sich die Verhältnisse umzukehren. Es kommen Schüler aus der Deckung, die Sara zuvor tyrannisiert hat. Sogar Kim wächst über sich hinaus: “Ich hatte mich mit Nick angelegt, das Video von der knutschenden Hoppe gedreht und jetzt, wo ich gerade richtig in Fahrt kam, sammelte ich spontan Beweise dafür, dass Sara nicht so unbesiegbar war, wie alle dachten.” (Zitat S.57) Denn auch Sara hat verletzliche Seiten an sich. Und genau das wird ihr bald zum Verhängnis…
Das Cover wirkt düster und geheimnisvoll — sehr passend. Hier wurde auch auf Details geachtet, schaut man sich die Prägung auf dem roten Boot näher an. “Hope” steht dort, was bereits in dem unheilvoll klingenden Prolog angedeutet wird: “Ohne die Hoffnung kann die Hoppe, kann Hope es nicht an Land geschafft haben, nicht bei diesem Wetter. Erst der Sturm, dann die Flut. Sie hat so viel riskiert — und sie tat es für uns. Was hat sie jetzt davon? Sie ist erledigt da draußen auf See.” (Zitat S.8) Was ist mit der Lehrerin passiert? Ehe man sich dieser Frage im Hauptteil des Buches stellen kann, erwartet den Leser jedoch noch eine Warnung. Wenn man sich eine Heldengeschichte wünsche, ein Abenteuer, bei dem die Hauptfigur in große Gefahren gerät, so solle man diesen Wunsch bitte noch einmal überdenken: “Es geht nichts über ein stinknormales Leben. Ich muss es wissen, ich hatte eins — und dann wurde es schlagartig anders. Erst ungemütlich, dann schlimm, dann schlimmer als schlimm. Und es ist noch nicht zu Ende. Ausgang offen.” (Zitat S.9) Wer mit so etwas nicht umgehen könne, solle bitte nicht weiterlesen! Dass “Trügerischer Sog” einen unerwarteten Ausgang nehmen könnte, das macht der Beginn hier bereits deutlich; dass es eine erkenntnisreiche Reise für Leser*innen und Protagonist*in werden wird, scheint offensichtlich — eine Herausforderung, ein Gehen über Grenzen. Der Thriller wird abwechselnd aus Kims und aus Saras Sicht in der jeweiligen Ich-Perspektive erzählt. Sara, die eher unsympathische Protagonistin: “Was konnte ich dafür, dass ich ihr Kind war? Dass ich überhaupt lebte? Hatte mich jemand gefragt? Meine Antwort hätte ihnen wahrscheinlich nicht gefallen, denn ich hätte Forderungen aufgestellt. Mir eine bessere Realität ausgehandelt.” (Zitat S.26) Warum ist sie so geworden, wie sie ist? Was hat sie in der Vergangenheit erlebt, das sie so bösartig hat werden lassen? Diesen Gründen darf man langsam nachspüren. Und dann gibt es da noch Kim, den (sympathischeren) Gegenpart, den Außenseiter, der erst langsam über sich herauswächst. An ihm wird besonders gut demonstriert, wie sich Machtverhältnisse in einer Kasse verändern können. “Zum ersten Mal in meinem Leben bekam ich ein leises Gefühl für Macht, konnte erahnen, wie unbesiegbar Sara sich tagein, tagaus fühlen musste […] Dieses Mädchen wusste alles über uns, wir nichts über sie. Macht oder Ohnmacht — wer würde da nicht die erste Option wählen?” (Zitat S.40) Alexandra Kui hat eine interessante Grundthematik in ihr Buch eingebaut, die zum Nachdenken anregt. Soll man Mitläufer sein? Um sich zu schützen? Oder soll man aus sich herauskommen und seine eigene Meinung vertreten, egal wie verletzlich das macht? Vor diese existentielle Frage wird auch Kim im Lauf der Geschichte gestellt. Er, der bisher immer im Schutz der “Namenlosen” unterging: “Zwar war ich nicht übermäßig beliebt, ein Namenloser eben, aber ich hatte wenigstens meine Ruhe und wollte, dass das so blieb. So war es eben. Das System war grausam, aber schützte einen, solange man nicht aus der Reihe tanzte.” (Zitat S.31) Was die Jugendlichen einander in Folge dessen alles antun, das liest sich schon recht heftig und offenbart, dass das Böse in jedem Menschen versteckt liegen kann. Die Entwicklung der Personen war mir in manchen Dingen leider nicht immer authentisch genug (Liebe kam zu plötzlich, Freundschaftsgefühle zu Nick ebenso). Auch am Ende gab es ein paar nicht ganz so schlüssige Momente. ««««««ACHTUNG SPOILER:»»»»»» genauer Tathergang wurde leider überhaupt nicht explizit erwähnt; welche Vorgeschichte hatte die Lehrerin denn nun auf der Insel? Blick in Schrank von Sara lässt sie die Leiche nicht entdecken? Kim dann aber schon? ««««««ENDE SPOILER»»»»»»
Fazit: Ein interessanter, gesellschaftskritischer Thriller, der hinter die Strukturen von Macht blicken lässt und nachdenklich macht, aber auch verstörend sein kann.
Dir gefällt Alexandra Kuis Erzählstil? Dann lies noch ihre anderen Bücher, sortiert nach Erscheinungsdatum: “Lügensommer” (2011, spielt auch an Nordsee), “Falsche Nähe” (2013), “Stille Feindin” (2014), “Marias letzter Tag” (2015) und “Solange es hell ist” (2018). Weitere Klassenfahrt-Romane, die sehr gelungen erzählt sind, sind “Sankt Irgendwas” von Tamara Bach, “Last Exit: Das Spiel fängt gerade erst an” von Mirjam Mous und die “Silberflut”-Reihe von Alex Falkner. Ebenso düster ist “Das dunkle Lied des Todes” von Bjarne Reuter. Vom Mobber zum Mobbingopfer? Das hat mich auch an die Romane “Das wirst du bereuen” von Amanda Maciel und “Denkzettel: Wenn dein Albtraum wahr wird” von Danielle Bakhuis erinnert. Ein sehr lohnenswerter Roman über die Mechanismen der Macht ist auch “Im Schatten der Wächter” von Graham Gardner, das den Deutschen Jugendliteraturpreis erhielt und schon etwas älter “Unter Freunden” von Thomas Fuchs.
Bibliografische Angaben: Verlag: cbj ISBN: 978-3-570-16594-2 Erscheinungsdatum: 22.März 2021 Einbandart: Broschur Preis: 15,00€ Seitenzahl: 320 Übersetzer: - Originaltitel: - Originalverlag: - Originalcover: -
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