Die britische Autorin Tabitha Suzuma hat ein neues Buch geschrieben: “Broken: Der Moment, in dem du fällst”. Nach ihrem Roman “Forbidden: Wie kann sich etwas so Falsches so richtig anfühlen?” (2012 nominiert für den Deutschen Jugendliteraturpreis, über das Tabuthema Inzest) nimmt sie sich erneut eines heftigen Themas an: Missbrauch. Die Geschichte eines Jungen, der als Turmspringer für Olympia trainiert und durch diese schreckliche Tat, deren Opfer er wird, buchstäblich zu zerbrechen droht. Ein wahnsinnig ergreifender, emotionaler Roman, erzählt mit einer intensiven, atmosphärischen Sprache. Lesetipp! Für Jugendliche ab 15 Jahren und Erwachsene.
London. Der 17-jährige Mathéo ist einer der besten Turmspringer des Landes. Er trainiert fleißig, denn die englischen Meisterschaften in Brighton stehen kurz bevor. Und nächstes Jahr erwartet ihn Olympia. Sein Trainer sieht großes Potential in ihm. Privat läuft bei ihm alles super. Er ist in der Eliteclique der Schule, erntet stets bewundernde und anerkennende Blicke und ist mit der attraktiven, aber bodenständigen Lola zusammen. Sie stammt aus nicht gerade vermögenden Verhältnissen, so wie Mathéos Familie, aber ihr Zuhause umgibt eine sehr herzliche und warme Atmosphäre. Ihre Mutter ist verstorben und ihr Vater Jerry ist zugleich ihr bester Freund. Sie komponieren zusammen Lieder und für Mathéo ist Jerry fast wie ein Vater, den er in dieser Form nie hatte. Denn für Mathéo Familie, insbesondere seinen Vater, zählen vor allem gesellschaftliches Ansehen, Erfolg und Disziplin. Zärtlichkeiten, liebevolle Fürsorge, so etwas gibt es in seiner Familie nicht. Nur Tausend Erwartungen und Leistungsdruck. Auch Mathéo will diesen Erfolg: “Es ist schon ein ganz besonderes Gefühl, wenn man in irgendetwas der Beste ist. Und wenn du einmal der Beste bist, dann willst du es auch bleiben. Du willst nicht, dass dieses Gefühl verschwindet.” (Zitat S.134) Doch dann will er es plötzlich nicht mehr. Erfolgreich sein. Nach dieser Nacht in Brighton, den englischen Meisterschaften, bei denen er die Goldmedaille gewinnt. Etwas ist in dieser Nacht, in der er mit den anderen feiern war und zu viel Alkohol getrunken hat, passiert. Etwas, an das er sich nicht mehr erinnert. Er wacht am nächsten Morgen in seinem Zimmer Zuhause auf, welches komplett verwüstet ist. Er hat Schrammen, Wunden überall und ihm ist, “als würde er durch eine zersplitterte Windschutzscheibe auf die Wirklichkeit blicken. […] Seine Gedanken rasen, immer wieder kehrt er zur vergangenen Nacht zurück, versucht seinem Gedächtnis zu entreißen, was geschehen ist. Vergebens. Szenen blitzen auf und verschwinden. Erinnerungen steigen hoch und verschwimmen gleich darauf, fließen ineinander wie Farben in einem abstrakten Aquarell. Er sitzt in einem sich rasend schnell drehenden Karussell, Gesichter, Farben, Lichter zucken an ihm vorbei. Sein Leben fällt auseinander, Fetzen und Stücke fliegen in die Dunkelheit davon.” (Zitat S.10) Mathéo fühlt sich
seltsam leer. Taub gegenüber der Außenwelt. Als ob eine stumpfe Scheibe Glas zwischen ihnen und den anderen ist. Er ist traurig. Verzweifelt. Und weiß nicht warum. Auch seinen besten Freunden bleibt sein Stimmungsumschwung nicht verborgen. Vor allem Lola, die sich Sorgen um ihn macht und der er teilweise aggressiv und ablehnend begegnet, und es sich nicht erklären kann. “So jämmerlich ist ihm zumute, dass er plötzlich gar nicht begreifen kann, warum die Welt sich nicht zu drehen aufhört, warum sie nicht mit ihm leidet. Verzweifelt versucht er, weiter die lächelnde Fassade aufrechtzuerhalten, und gleichzeitig würde er sich am liebsten gegen eine der Scheiben des Wintergartens schmeißen, sich von der Haut zerfetzen lassen, damit er endlich auch äußerlich so aussieht, wie er sich innerlich fühlt.” (Zitat S.136ff) Doch irgendwann kehrt die Erinnerung langsam zu ihm zurück…
Tabitha Suzumas größte Stärke ist die authentische Schilderung von Emotionen. Die ganze Brandbreite an Gefühlen legt sie ihrem Protagonisten zu Füßen, aus dessen Sicht der komplette Roman erzählt wird. Mathéos sich veränderndes Verhalten, seine innere Zerrissenheit, seine widersprüchlichen Empfindungen werden mit solch einer gewaltigen Intensität dargestellt, dass man sich kaum dagegen erwehren kann, nicht buchstäblich in den Sog der Geschichte hineingezogen zu werden. Gepaart mit der hervorragenden Sprachgewaltigkeit ist dies ein ganz besonderes (literarisches) Erlebnis. Die Autorin versteht es vor allem sehr gut den Zustand von ins Unterbewusstsein verdrängten Erinnerungen zu schildern. Der Leser befindet sich wissenstechnisch mit Mathéo lange Zeit auf derselben Stufe: Ahnungslos, verwirrt. Was ist in dieser Nacht in Brighton geschehen? Und später, als Mathéo sich dann erinnert, enthält er diese Information dem Leser vor. Das sorgt für Spannung, grauenvolles Erahnen und schließlich erschütternde Gewissheit. Empfehlen würde ich “Broken: Der Moment, in dem du fällst” vor allem reiferen Lesern und erst ab 15 Jahren. Die Problematik ist heftig und auch erotische Szenen werden in unverstellter Klarheit beschrieben. Der Roman zeigt einen Menschen, der dabei ist zu zerbrechen, der zerbricht und nach einem gewaltigen Kraftakt erst wieder lernt ins Leben zurückzufinden.
Fazit: Eindringlich, echt und unvorstellbar ergreifend. Ein Meisterwerk der Emotionen!
Wenn dir “Broken: Der Moment, in dem du fällst” gefallen hat, dann lies unbedingt noch “Forbidden: Wie kann sich etwas so Falsches so richtig anfühlen?” lesen, das ebenso sehr bewegend geschrieben ist. Eine sehr gute inhaltliche Alternative ist “Aidan: Sünde. Lüge. Liebe. Mut.” von Brendan Kiely, in welchem der (in reichen Verhältnissen lebende) männliche Protagonist ebenfalls missbraucht wird und sich dies zunächst nicht eingestehen mag. Letzteres trifft auch auf die Hauptfigur in dem Roman “Scherbenmädchen” von Liz Coley zu. Missbrauch im Jugendbuch, welcher aus der Sicht eines Jungen geschildert wird, gibt es — im Gegensatz zu der Perspektive weiblicher Charaktere — nur in überschaubarer Form: “Dane” von Nicholas Burgess (ergreifend!), “Dunkles Schweigen” von Reality-Autorin Brigitte Blobel, “Wofür die Worte fehlen” von Carolin Philipps und “Davids Versprechen” von Jürgen Banscherus. Eine Autorin, die ebenso emotionale Romane schreibt und Stimmungen sehr gut in Worte fassen kann, ist Louisa Reid. Lies von ihr “In deinem Licht und Schatten” (Thema: Missbrauch) oder “Jeden Tag ein bisschen mehr” (Thema: psychische Abhängigkeit).
Bibliografische Angaben:Verlag: Oetinger ISBN: 978-3-7891-4754-8 Erscheinungsdatum: 22.Februar 2016 Einbandart: Hardcover Preis: 17,99€ Seitenzahl: 384 Übersetzer: Bernadette Ott Originaltitel: "Hurt" Originalverlag: Random House Children's Books Englisches Originalcover:
Englischer Trailer:
Kasimiras Bewertung:
(5 von 5 möglichen Punkten)
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