Für seinen Roman “Befreiungsschlag” hat sich der deutsche Autor und Bundesverdienstkreuzträger (für literarische Nachwuchsförderung) Stefan Gemmel den Diplomsozialarbeiter und Anti-Gewalt-Trainer Uwe Zissener mit ins Boot geholt und ein Buch über ein wichtiges Thema geschrieben: Jugendgewalt und der Mangel an Empathie. Verbunden mit einem Anti-Gewalt-Training, das die letzte Chance für einen Jungen vor dem Gefängnis ist. Äußerst flott und interessant erzählt. Ein tolles Buch für Jungs! Für Jugendliche ab 12 Jahren und interessierte Erwachsene.
Der 17-jährige Maik hat Mist gebaut. Mal wieder. Zu viele Prügeleien, zu viele Fehlzeiten bei seiner Berufsförderungsmaßnahme, keine Lust auf irgendetwas, am liebsten mit seinen Freunden abhängen, das kennzeichnet sein Leben. Doch nach seiner letzten Prügelei, die etwas eskaliert ist, findet er sich nun vor Gericht wieder: “Aus den Augenwinkeln heraus erkannte Maik, wie sein Verteidiger neben ihm zusammenzuckte. Er selbst stand völlig ungerührt an seinem Platz. Die Worte der Richterin zogen an ihm vorbei. So wie früher die immer wiederkehrenden Sprüche seiner Lehrer oder heute die Pädagogen in der sinnlosen Berufsförderungsmaßnahme und natürlich auch die seiner Mutter und seines Großvaters.” (Zitat S.6) Das Urteil der Richterin: er bekommt drei Jahre Bewährung; darf sich drei Jahre lang nichts zuschulden kommen lassen, sonst landet Maik für anderthalb Jahre im Gefängnis! Dazu 80 Sozialstunden und die verbindliche Teilnahme an einem ATG, einem Anti-Gewalt-Training. “Natürlich hatte er nicht vor, diese Sozialstunden abzuleisten. Und auf dieses — wie nannte die Lynch das noch — Antigewalt-Training hatte er auch keinen Bock. Er wusste zwar nicht, was das war, aber sicherlich wieder nur so pädagogisch schwachsinniges Gelaber. Was hatte das mit ihm zu tun? Was sollte der Scheiß bringen?” (Zitat S.9) Fünfundzwanzig Mal findet das Treffen statt, jede Woche vier Stunden. Am liebsten würde Maik sich da auch krankschreiben lassen, so wie er das manchmal bei den Sozialstunden macht. Doch er bekommt immer mehr Druck von außen. Seine Freundin Julia, die sich immer mehr von ihm abwendet: “Ich kann nur mit jemandem fest zusammen sein, der mir Sicherheit gibt”, hatte sie vor einiger Zeit zu ihm gesagt. […] Maik schüttelte den Kopf. Auch sie verstand ihn einfach nicht. Mehr Sicherheit als er konnte ihr niemand bieten. Maik würde jedem, der Julia auch nur schief ansah, den Kiefer brechen. Mehr Sicherheit ging doch gar nicht.” (Zitat S.18) Auch sein Großvater liegt ihm mit seinen ständigen Vorwürfen in den Ohren: “Für dich ist das eben nur ein einziges Spiel, oder? Aber ist dir mal aufgefallen, dass du ständig verlierst? Wenn ich sehe, wie die meisten deiner Altersgenossen im Leben vorankommen. Sie alle würfeln dauernd Sechsen und hüpfen die Karriereleiter hinauf, während du eine Eins nach der anderen würfelst. Falls du überhaupt mal einen Würfel in die Hand nimmst!” (Zitat S.41) Als auch seine Mutter ihn mit Worten schockiert, die er so von ihr noch nie gehört hat (“Maik, das AGT ziehst du durch. Klar? Einmal im Leben bringst du was zu Ende. […] Zeig mir einmal nur — ein einziges Mal -, dass ich keinen Schwächling und Feigling großgezogen habe!” (Zitat S.42)), da beschließt er tatsächlich sich auf dieses AGT einzulassen. Und ist überrascht, als er feststellt, dass ihn dort etwas ganz anderes erwartet, als er sich vorgestellt hat. Ein respektvolles und wertschätzendes Verhalten seiner beiden Trainer…
“Befreiungsschlag” ist in einer äußerst flüssigen und flott erzählten Sprache geschrieben. Langeweile? Fehlanzeige! Man kommt gut hinein in die Geschichte, die durchgängig in der personalen Sichtweise aus Maiks Perspektive erzählt wird. Zu Beginn staunt man noch über dessen Egal-Haltung, dessen Lockerheit: “Er versuchte ein interessiertes Gesicht zu machen, doch es fiel ihm schwer. Das, was da vorn am Richtertisch gesprochen wurde, wollte er gar nicht hören. Das kam von Leuten, die keine Ahnung von seinem Leben hatten. […] …gleich würde diese Richterin wohl ihr dummes Gelaber beenden und Maik käme endlich hier raus. Und darauf kam es doch letztendlich an: Raus hier!” (Zitat S.6ff) Selbst als seine Freundin von seinem Gerichtsurteil erfährt und davonläuft, kann er das nicht nachvollziehen: “Maik starrte ihr hinterher. “Was hat sie denn? Bewährung hat doch fast jeder von uns.” Alex schüttelte den Kopf. “Aber keine drei Jahre. Mensch, Maik, du bist gerade siebzehn. So ein Urteil, das ist schon heftig.” “Da winkt schon fast der Knast…” (Zitat S.13) Sogar als seine Mutter und sein Großvater ihm das schriftliche, vierseitige Urteil zu lesen geben, erschreckt es, mit was für einer Distanz er dieses wahrnimmt: “Schweigend sahen sie Maik zu, wie er die Zeilen in sich aufnahm. Doch es berührte ihn kaum, was er da las. Es war interessant, den gesamten Abend einmal so detailliert nachzulesen, aber Maik kam es eher vor, als lese er einen Krimi. Eine Kurzgeschichte, die sich jemand erdacht hatte.” (Zitat S.37) Stefan Gemmel hat ein wichtiges Thema in seinem Jugendbuch aufgegriffen: der Empathieverlust von Jugendlichen.
Die fehlende Fähigkeit Verantwortung für seine Taten zu übernehmen. Sie überhaupt zu reflektieren. Wie geht man in der Gesellschaft mit solchen Jugendlichen um? Wie kann man sie zum Nachdenken bewegen? Gerade als Schullektüre eignet sich das Buch hervorragend! Und es ist sehr authentisch geschrieben, da es zum Teil auf Erfahrungen beruht, die der Autor gesammelt hat, als er Uwe Zissener ein Jahr lang bei dessen Arbeit mit Jugendlichen auf einem Anti-Gewalt-Training begleitete. Die Methoden, die dort angewandt werden, die in den Roman eingebaut wurden, sind faszinierend und interessant und verändern Maik und die anderen Teilnehmer nachhaltig. Zudem wird der Ursache von Gewalt im Leben des Jungen nachgegangen, indem er sich immer wieder an Geschehnisse aus seine Kindheit zurückerinnert. Das Ende ist positiv und fast ein bisschen pathetisch, zeigt eine Wandlung der Hauptfigur.
Stefan Gemmel hat noch andere Jugendbücher geschrieben: “Sichelmond” und die “Schattengreifer”-Trilogie (Band 1: “Die Zeitensegler”, Band 2: “Der Zeitenherrscher”, Band 3: “Die Zeitenfestung”). In einem besonderen Auffangprogramm landen auch drei Jugendlichen in Melvin Burgess’ brillant erzähltem “Kill all enemies”, in dem ebenfalls ein Mädchen nur mit Gewalt ihre Probleme zu lösen versucht. Wenn dich das Thema Gewalt interessiert, dann kannst du noch folgende Bücher lesen: “Evil” von Jan Guillou (fast schon ein Klassiker; wie man auf kluge Art und Weise mit Gewalt umgeht), “Dreckstück” von Clémentine Beauvais (in dem ein paar Jugendliche einfach aus Langeweile ein Mädchen entführen) und “Die vergitterte Welt: Mit 16 im Knast” von Jana Frey (inhaltlich auch sehr passend zu “Befreiungsschlag”).
Bibliografische Angaben:Verlag: Arena ISBN: 978-3-401-5151056-9 Erscheinungsdatum: 21.Januar 2019 Einbandart: Taschenbuch Preis: 7,00€ Seitenzahl: 240 Übersetzer: - Originaltitel: - Originalverlag: - Originalcover: -
Kasimiras Bewertung:
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