“Die letzte Haltestelle” von der kanadischen Autorin Sharon E. McKay ist ein historischer Roman, der während des Zweiten Weltkriegs in den Niederlanden spielt. Eine Geschichte über ein jüdisches Mädchen auf der Flucht, zwei unerwartet mutige Brüder, Zivilcourage und Menschlichkeit in Zeiten des Schreckens. Versehen mit vielen Zeichnungen. Bewegend und altersgerecht für Kinder ab 9 Jahren erzählt.
1942. In den Niederlanden. Die 6‑jährige Beatrix ist auf der Flucht mit ihrer Mutter. Die beiden sind Juden und haben es seit der Besetzung der Deutschen äußerst schwer, denn “Die Nationalsozialisten hassten vor allem die Juden. Die Nazis glaubten, die Juden trügen die Schuld am großen Unglück der Welt.” (Zitat aus “Die letzte Haltestelle” S.20) Jetzt hat Beatrix’ Mutter einen Tipp bekommen, wer ihre Tochter bei sich aufnehmen und schützen könne. Sie müssen nur ein paar Häuserblocks weit laufen und fünf Haltestellen mit der Straßenbahn fahren. Dort erwartet sie eine Frau mit grünem Hut, die Beatrix in Sicherheit bringen soll. Doch die Mutter erreicht diese Haltestelle nie. Denn ein Soldat steigt unterwegs zu und kontrolliert die Papiere der Insassen. Beatrix’ Mutter nimmt er gleich mit, als er sieht, dass sie Jüdin ist. Ehe er das Kind ebenfalls auffordern kann mit ihm zu kommen und abzutransportieren, mischt sich unerwartet ein Mann ein. Es ist der ältere Lars, der Fahrkartenkontrolleur, der sich mit seinem Bruder Hans zusammen in der Straßenbahn befindet. Letzterer ist der Fahrer jener Bahn. “Das Kind gehört nicht zu der Frau. Es gehört zu…” Er verstummte. Der Soldat hielt inne. Hans, der immer noch am Steuer saß, warf einen Blick in den Rückspiegel. Er konnte sehen, wie sich die Lippen seines Bruders bewegten. “Sie gehört zu mir. Sie ist meine Nichte.” Lars’ Stimme brach. Hans’ Lippen formten ein stummes “Oh”.” (Zitat S.30) Und obwohl ihnen nicht wirklich jemand glaubt, entfernt sich der Soldat aufgrund eines Tumults außerhalb der Straßenbahn und lässt das Kind zurück. Ahnungslos, was die beiden Männer mit dem Kind nun machen sollen, bringen sie es zu ihrer Nachbarin und engsten Freundin ihrer verstorbenen Mutter. Diese erfasst die Situation sofort und will das Kind aber nicht selbst aufnehmen, sondern überlässt dies den überraschten Brüdern: “Hans und Lars starrten die Frau mit aufgerissenen Augen an. Sie hätten gar nicht verwirrter sein können. Sie waren gute Menschen, freundliche Menschen, aber nichts in ihrem Leben hatte sie auf die Aufgabe vorbereitet, sich um ein Kind zu kümmern…” (Zitat S.51) Wie sollen die beiden das nur schaffen? Vor allem da sie sich auf keinen Fall erwischen lassen dürfen…?
“Die letzte Haltestelle” ist in der Sicht eines allwissenden Erzählers geschrieben, der sich mal in die eine Perspektive, mal in die andere hineinversetzt. Die Sprache ist sehr einfach und die Inhalte, auch die geschichtlichen Hintergründe, werden sehr kindgerecht und anschaulich erklärt. Vor allem die liebevoll angefertigten Zeichnungen von Timo Grubing — manche sogar in einem Comicstil — tragen zu einem besseren Verständnis bei. Besonders Lars und Hans sind zwei äußerst liebenswerte, fast etwas drollig wirkende Charaktere: “Hans und Lars Gorter waren Brüder. Hans war klein und rund — eiförmig, genauer gesagt. Lars war groß und dünn wie ein Stock oder vielleicht wie eine Heuschrecke. Ihr Altersunterschied betrug zwei Jahre. Hans mit seinen fünfundsechzig Jahren war der Ältere, Lars mit dreiundsechzig der Jüngere. Keiner von beiden hatte je geheiratet. Sie hatten bei ihrer Mutter gewohnt, bis diese vor zehn Jahren verstorben war.” (Zitat S.10) Ihre Versuche sich um Beatrix zu kümmern, lesen sich teilweise mit einer gewissen Ironie: “Sie schlossen die Türe hinter sich. Das war gar nicht so schwierig gewesen. Warum machten die Leute so viel Aufhebens um das Großziehen von Kindern? Man musste ihnen doch nur zu essen geben, etwas zum Anziehen für sie auftreiben, ein
bisschen auf Einzelheiten wie Haarebürsten und Zähneputzen achten und sie ins Bett bringen.” (Zitat S.68) Der Roman vermittelt auf sehr sensible Weise — auch wenn die tragischen Umstände des Kriegs natürlich nicht gänzlich unter den Tisch gekehrt werden können — wie wichtig es ist in den schlimmsten Zeiten Mitgefühl und Menschlichkeit zu beweisen und Zivilcourage zu zeigen. Gerade der erste Satz des Buches rückt diesen Sachverhalt deutlich in den Vordergrund: “Heute hören Kinder häufig den Satz: “Geh nicht mit Fremden mit.” Vor gar nicht allzu langer Zeit jedoch galten Fremde als Retter. Im 2. Weltkrieg, als die Deutschen fast ganz Europa besetzt hatten, wurden sehr viele Kinder in die Obhut von Fremden gegeben — um sie zu schützen.” (Zitat S.3) Das Kinderbuch wartet mit einem guten Ende auf und im Nachwort finden sich noch weitere Fakten und Informationen über jene Zeit in den Niederlanden.
Wenn dir “Die letzte Haltestelle” gut gefallen hat, könnte auch “Krieg und Freundschaft” von Dolf Verroen etwas für dich sein, welches ebenfalls in den Niederlanden während des Zweiten Weltkriegs spielt und die Geschichte eines Jungen erzählt und die große Hilfsbereitschaft der Niederländer verdeutlicht. Eine sehr schöne Lesealternative für 10-jährige ist “Flügel aus Papier” von dem polnischen Autoren Marcin Szczygielski, hier spielen Freundschaft und Menschlichkeit ebenso eine große Rolle. Oder lies den (fast schon modernen) Klassiker “Der Junge im gestreiften Pyjama” von John Boyne (ab 12), über eine besondere Freundschaft während des Krieges. Ein Klassiker ist natürlich zu diesem Thema auch das “Tagebuch der Anne Frank” (ab 14). Zwei andere Romane, die in den Niederlanden zur Zeit des Zweiten Weltkriegs spielen, sind “Kriegswinter” von Jan Terlouw (in welchem ein niederländischer Junge in den Widerstand hineingerät, ab 14) und “Und im Fenster der Himmel” von Johanna Reiss (in dem zwei jüdische Schwestern in große Gefahr geraten, ab 14). Eine Übersicht über Rezensionen anderer historischer Romane findest du hier. Sehr bewegend fand ich auch “Winterpferde” von Philip Kerr, das ein junges, jüdisches Mädchen auf der Flucht mit zwei Wildpferden begleitet (ab 14).
Bibliografische Angaben:Verlag: cbj ISBN: 978-3-570-17250-6 Erscheinungsdatum: 27.März 2017 Einbandart: Hardcover Preis: 14,99€ Seitenzahl: 176 Übersetzer: Bettina Obrecht Originaltitel: "The end of the line" Originalverlag: Annick Press Kanadisches Originalcover:
![]()
Kasimiras Bewertung:
(4,5 von 5 möglichen Punkten)
------------------------------------------------- Kanadisches Cover: Homepage von Sharon E. McKay Die Abbildungen stammen aus "Die letzte Haltestelle" und wurden abfotografiert