“Wolf” ist der erste Jugendroman des deutsch-bosnischen Autoren Saša Stanišić. Er erzählt die Geschichte eines Jungen, der unfreiwillig an einem Ferienlager im Wald teilnimmt und Zeuge von Mobbing an einem Mitschüler wird, aber sich nicht richtig traut, etwas dagegen zu unternehmen. Ein Roman über das Anderssein, über Ausgrenzung und Angst. Aber auch über Mut und Zivilcourage. Meisterhaft erzählt und auch im Innenteil mit Bildern genial in Szene gesetzt (illustriert von Regina Kehn). Ein sprachliches Highlight mit ausgefeilten Charakteren, brillantem Humor und auch ein bisschen gesellschaftskritischen Momenten. Nur über das Ende lässt sich ein wenig streiten;-) Ganz klare Leseempfehlung!! Für Jugendliche ab 11 Jahren und auf jeden Fall auch für Erwachsene, die Geschichten mit Tiefgang mögen.
Kemi soll ins Ferienlager. Eine Woche in einen Wald, irgendwo in Brandenburg. “Ein bisschen Natur wird dir guttun.” “Natur? Mir? Mama, seit wann kennen wir uns?” “Abende am Lagerfeuer, Folienkartoffeln in der Glut?” “Rauch in den Augen, die Zunge verbrannt? Und bitte. Es gibt dch kein traurigeres Feuer als eines, in dem Folienkartoffeln braten!” “Hör zu”, sagt Mutter und sieht mich an. “Es ist nur für eine Woche. Das Ferienlager liegt mitten im Wald und -” “Im Wald? In den Wald geh ich auf keine Fall.” (Zitat S.12) Doch er hat keine Wahl, weil seine Mutter arbeiten muss und auch die Oma nicht auf ihn aufpassen kann. Dabei hasst Kemi den Wald, die Natur im Allgemeinen. Dort gibt es schließlich Zecken und Mücken und Brennesseln. Und dass er nicht freiwillig hier ist und wie sehr ihm das nicht passt, das macht er seinen Betreuern gleich zu Beginn des Ferienlagers klar: “Ich freu mich auf nichts”, sage ich gleich als Erster. “Ich lehne die Natur ab!” Das hat Pietritsch nicht erwartet. “Häh? Geht das überhaupt?”, fragt er, ehrlich verunsichert, “Natur kann man doch nicht ablehnen, die ist überall.” “Das ist ja das Doofe”, sage ich.” (Zitat S.28) Kemi ist eher ein Außenseiter, beschwert sich gerne über vieles und alles und hat meistens auf keinerlei Aktiväten Lust, auf die Gleichaltrige Lust haben. Weil er keine wirklichen Freunde hat, landet er auch mit Jörg als Mitbewohner in einer Hütte, die sie sich teilen. Jörg ist auf der gesellschaftlichen Stufe seiner Klasse noch weiter unten. “Mit Jörg will so gut wie niemand etwas zu tun haben. Jörg verbringt seine Pausen allein mit seinem Brot. Mit Jörg verabredet sich niemand nach der
Schule. Und wenn wir in Gruppen arbeiten, teilen die Lehrer Jörg schon mal vorsorglich zu Leuten ein, von denen sie wissen, dass sie ihn in Ruhe lassen.” (Zitat S.33) Marko und die Dreschkes-Zwillinge ärgern Jörg ständig. Auch hier im Ferienlager. “Manchmal reicht die kleinste Kleinigkeit, damit es losgeht. Einfach am falschen Ort was Falsches gesagt, schon ist es aus mit schöner Schulzeit.” (Zitat S.34) Kemi hält sich da lieber raus aus allen. Will nichts groß mit Jörg zu tun haben, auch wenn der eigentlich ganz nett ist. “Gäbe es Jörg nicht, wäre wahrscheinlich ich das Opfer. Viele finden mich seltsam und schwierig.” (Zitat S.111) Doch irgendwann kann Kemi nicht mehr anders, er setzt sich bei einer Klettertour für Jörg ein, leistet ihm Gesellschaft, um zu verhindern, dass Marko ihm etwas Schlimmes antun kann. Doch, was wenn Marko ihn nun ins Visier nimmt?
Das Cover von “Wolf” ist ein Traum! Farblich sticht es perfekt hervor und gibt sowohl auf der Vorder- als auch auf der Rückseite passende Elemente der Geschichte wieder. Den Ferienlager-Alltag im Allgemeinen hat Saša Stanišić sehr gut getroffen. Lieder, die am Lagerfeuer gesungen werden; Ofenkartoffeln, die im Feuer gegrillt und Gemeinschaftsklettertouren, die gemacht werden; unliebsame Bastelnachmittage und Wanderungen mitten in der Natur: “Das Dickicht greift nach mir, Äste schlagen mir ins Gesicht, Wurzeln stolpern mich. Bella läuft am Ende unserer Kolonne und summt ununterbrochen. Sie summt lauter als der gesamte Insektenbestand Nordeuropas. […] Pietritsch läuft am Kopf der Kolonne und scannt. Alle naselang bleibt er stehen und hält die Kamera seiner Pflanzen-App einer Pflanze ins Gesicht. Erkennt die App was, liest er uns die Info vor. Die Pflanzen-App erkennt nur Farne.” (Zitat S.43) Der Roman wird
durchgehend in Ich-Perspektive und aus Kemis Sicht erzählt. Ein Erzähler, der seine Leser zuweilen direkt anspricht — “Weil Jörg jetzt wieder vorkommt, ahnst du sicher schon, dass es hier auch um ihn geht.” (Zitat S.33) — und durch die Geschichte lotst. Als Hauptcharakter hat mir Kemi besonders gut gefallen — seine rotzig-freche, pessimistische, die Welt-ablehnende Art. Hier wird man mit Sätzen wie “Guck wie hübsch die Bäume sind”, sagt Mutter. “Ich finde Bäume nur als Schrank super”, sage ich.” (Zitat S.12ff) oder Beschreibungen wie “Der Waldbroschürenwald sieht aus, als hätte jemand gerade durchgesaugt, und die Waldbroschürenlichtung, als hätte jemand das Gras gekämmt.” (Zitat S.13) einfach bestens unterhalten! Auch die Dialoge sind einfach köstlich zu lesen. Voller kluger Ironie und Tiefgründigkeit. Abschnitte, die zu lesen, richtig Spaß machen, so wie dieser zum Beispiel: “Natur ist ein Geschenk! Sei wie sie”, sagt Bella und öffnet endlich die Augen. “Sei frech und wild und wunderbar!” Den Spru
ch habe ich mal auf einer Cornflakes-Packung gesehen. Ich sage: “Okay.” Eine freche, wilde Mücke landet auf Bella Unterarm. Sie drescht sie tot und entfernt sich.” (Zitat S.30) Hierbei wird man immer wieder mit Kemis blühender Fantasie konfrontiert und seinem Hang zur Übertreibung, wenn er sich beispielsweise eine Begegnung mit Hirschen im Wald ausmalt, mit denen er X‑Box spielt und Walderdbeeren mit Sahne isst oder andere Beobachtungen in seiner ganz eigenen Art beschreibt: “Nachdem sie fertig ist, schnappt der Koch sich die Gitarre und heavymetalt von seiner harten Kindheit in einem DDR-Plattenbau. Alle Saiten reißen. Der Koch verschwindet im Wald, die Erde bebt, wenn er läuft. Eine Weile schweigen alle. Das mit den Saiten denke ich mir aus.” (Zitat S.64) Auch die Nebencharaktere wie der Koch, oder am Ende die Försterin (genial!) haben mir sehr gut gefallen. Saša Stanišić weiß auch die Jugend im Allgemeinen treffend zu porträtieren
und nimmt so manches Verhalten auf raffinierte Art und Weise auf die Schippe: “Und er macht jedes Bild fertig. Jörg zieht Kunst durch. Dabei sind wir in einem Alter, wo wir bei keiner Sache länger als eine Viertelstunde dranbleiben, ohne zu motzen oder uns ablenken zu lassen. Es sei denn, die Sache ist Zocken, das geht.” (Zitat S.59) Ein Roman mit viel gesellschaftskritischen Töne, charmant verpackt in die Geschichte: “Abenteuer haben nur Leute, die anderen Leuten, die keine Abenteuer haben, zeigen wollen, dass sie mutig sind und stark. Dafür machen sie ein Foto von sich neben einer Ziege im Hochgebirge. Angeber. Früher wurde immerhin gewettet, wer auf einer Schildkröte reitend als Erster die Welt umrundet oder so was. Heute treten sie in Sendungen auf, wo sie dafür bezahlt werden, im Dschungel Würmer zu essen und aufeinander zu reiten.” (Zitat S.50) Aufgelockert wird der — in Kapitel eingeteilte — Text vor allem mit den schönen Illustrationen von Regina Kehn, die teilweise sogar
ganze Seiten einnehmen und in schwarzer oder gelber Hintergrundfarbe passend zum Design des Covers gestaltet sind. Hauptaugenmerk liegt in “Wolf” neben der Freundschaftsentwicklung zwischen Kemi und Jörg auch auf dem Thema Mobbing und dem Umgang damit. Während Kemi zunächst eher beobachtet und sich nicht traut einzugreifen, schafft er es schließlich in gewisser Art und Weise auf einer Klettertour, Jörg beizustehen. Ein besonderes, geheimnisvolles Element in der Geschichte ist der Wolf, der namensgebend bezüglich des Titels ist und der eines Nachts vor dem Fenster der Hütte auftaucht: “Etwas Mondlicht fällt durch das Fenster, und unter dem Fenster sitzt ein Wolf. Also, es ist so: Das mit den Hirschen, das habe ich mir ausgedacht. Der Wolf jetzt, der sieht verdammt echt aus. Der Wolf ist groß, der Wolf ist schlank, der Wolf ist grau. Der Wolf leckt sich über die Schnauze. Guckt aus gelben Augen.” (Zitat S.69) Die
tatsächliche Bedeutung des Wolfes wird leider nie ganz genau erklärt, er scheint ein Traumwesen zu sein, steht vielleicht für Schuldgefühle, das schlechte Gewissen, Angst; könnte aber auch symbolisch für das Mobbing stehen. Es bleibt viel Raum für eigene Gedanken, ebenso warum Jörg ihn auch gesehen hat, wenn er nur metaphorisch exisitiert, bleibt leider ungeklärt (und ist für ein Jugendbuch in dieser Altersgruppe schon relativ komplex). Auch wenn mir der Roman erzählerisch ingesamt richtig, richtig gut gefallen hat, tue ich mich mit dem Ausgang des Buches schwer und war irgendwie fast etwas enttäuscht. Man wartet auf den Wut-Moment von Kemi, der angedeutet wird, dann aber einfach nicht kommt. Alles versickert irgendwie in Mutlosigkeit und Passivität, was ich sehr schade fand, da darauf gut hingearbeitet wurde. Dennoch ist es insgesamt gesehen ein sehr gelungenes Buch, das ich wirklich empfehlen kann!
Fun Fact: Die Geschichte ist tatsächlich schon ein mal erzählt worden! Von Saša Stanišić selbst, in seiner Sammlung von Kurzgeschichten (für Erwachsene) “Fallensteller” (falls du das Original lesen möchtest). Die Geschichte heißt: “Im Ferienlager im Wald”.
Lesealternativen gefällig? Einen Roman, an den ich sofort denken musste, der von der schwarz-gelben Gestaltung und den hinreißenden Illustrationen an “Wolf” erinnert, ist “Julia und der Hai” von Kiran Millwood Hargrave. Hier geht es nicht um Mobbing, sondern um mentale Gesundheit, aber es ist ebenfalls eine Freundschaftsgeschichte enthalten und sprachlich herausragend geschrieben. Eine Ferienlagergeschichte, die etwas gruseliger ist, aber auch im Carlsen Verlag erschienen ist, ist “Crater Lake: Schlaf niemals ein” von Jennifer Killick. Für etwas ältere Jugendliche wäre auch diese Ferienlager-Mobbing-Story bestens geeignet: “Wach auf, wenn du dich traust” von Angela Mohr.
Bibliografische Angaben:Verlag: Carlsen ISBN: 978-3-551-65204-1 Erscheinungsdatum: 27.April 2023 Einbandart: Hardcover Preis: 14,00€ Seitenzahl: 192 Übersetzer: - Originaltitel: - Originalverlag: - Originalcover: -
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