Saša Stanišić — Wolf

5.Mai 2023

Wolf” ist der ers­te Jugend­ro­man des deutsch-bos­ni­schen Autoren Saša Sta­nišić. Er erzählt die Geschich­te eines Jun­gen, der unfrei­wil­lig an einem Feri­en­la­ger im Wald teil­nimmt und Zeu­ge von Mob­bing an einem Mit­schü­ler wird, aber sich nicht rich­tig traut, etwas dage­gen zu unter­neh­men. Ein Roman über das Anders­sein, über Aus­gren­zung und Angst. Aber auch über Mut und Zivil­cou­ra­ge. Meis­ter­haft erzählt und auch im Innen­teil mit Bil­dern geni­al in Sze­ne gesetzt (illus­triert von Regi­na Kehn). Ein sprach­li­ches High­light mit aus­ge­feil­ten Cha­rak­te­ren, bril­lan­tem Humor und auch ein biss­chen gesell­schafts­kri­ti­schen Momen­ten. Nur über das Ende lässt sich ein wenig strei­ten;-) Ganz kla­re Lese­emp­feh­lung!! Für Jugend­li­che ab 11 Jah­ren und auf jeden Fall auch für Erwach­se­ne, die Geschich­ten mit Tief­gang mögen.

Kemi soll ins Feri­en­la­ger. Eine Woche in einen Wald, irgend­wo in Bran­den­burg. “Ein biss­chen Natur wird dir gut­tun.” “Natur? Mir? Mama, seit wann ken­nen wir uns?” “Aben­de am Lager­feu­er, Foli­en­kar­tof­feln in der Glut?” “Rauch in den Augen, die Zun­ge ver­brannt? Und bit­te. Es gibt dch kein trau­ri­ge­res Feu­er als eines, in dem Foli­en­kar­tof­feln bra­ten!” “Hör zu”, sagt Mut­ter und sieht mich an. “Es ist nur für eine Woche. Das Feri­en­la­ger liegt mit­ten im Wald und -” “Im Wald? In den Wald geh ich auf kei­ne Fall.” (Zitat S.12) Doch er hat kei­ne Wahl, weil sei­ne Mut­ter arbei­ten muss und auch die Oma nicht auf ihn auf­pas­sen kann. Dabei hasst Kemi den Wald, die Natur im All­ge­mei­nen. Dort gibt es schließ­lich Zecken und Mücken und Bren­nes­seln. Und dass er nicht frei­wil­lig hier ist und wie sehr ihm das nicht passt, das macht er sei­nen Betreu­ern gleich zu Beginn des Feri­en­la­gers klar: Ich freu mich auf nichts”, sage ich gleich als Ers­ter. “Ich leh­ne die Natur ab!” Das hat Piet­rit­sch nicht erwar­tet. “Häh? Geht das über­haupt?”, fragt er, ehr­lich ver­un­si­chert, “Natur kann man doch nicht ableh­nen, die ist über­all.” “Das ist ja das Doo­fe”, sage ich.” (Zitat S.28) Kemi ist eher ein Außen­sei­ter, beschwert sich ger­ne über vie­les und alles und hat meis­tens auf kei­ner­lei Aktivä­ten Lust, auf die Gleich­alt­ri­ge Lust haben. Weil er kei­ne wirk­li­chen Freun­de hat, lan­det er auch mit Jörg als Mit­be­woh­ner in einer Hüt­te, die sie sich tei­len. Jörg ist auf der gesell­schaft­li­chen Stu­fe sei­ner Klas­se noch wei­ter unten. “Mit Jörg will so gut wie nie­mand etwas zu tun haben. Jörg ver­bringt sei­ne Pau­sen allein mit sei­nem Brot. Mit Jörg ver­ab­re­det sich nie­mand nach der KasimiraSchu­le. Und wenn wir in Grup­pen arbei­ten, tei­len die Leh­rer Jörg schon mal vor­sorg­lich zu Leu­ten ein, von denen sie wis­sen, dass sie ihn in Ruhe las­sen.” (Zitat S.33) Mar­ko und die Dresch­kes-Zwil­lin­ge ärgern Jörg stän­dig. Auch hier im Feri­en­la­ger. “Manch­mal reicht die kleins­te Klei­nig­keit, damit es los­geht. Ein­fach am fal­schen Ort was Fal­sches gesagt, schon ist es aus mit schö­ner Schul­zeit.” (Zitat S.34) Kemi hält sich da lie­ber raus aus allen. Will nichts groß mit Jörg zu tun haben, auch wenn der eigent­lich ganz nett ist. “Gäbe es Jörg nicht, wäre wahr­schein­lich ich das Opfer. Vie­le fin­den mich selt­sam und schwie­rig.” (Zitat S.111) Doch irgend­wann kann Kemi nicht mehr anders, er setzt sich bei einer Klet­ter­tour für Jörg ein, leis­tet ihm Gesell­schaft, um zu ver­hin­dern, dass Mar­ko ihm etwas Schlim­mes antun kann. Doch, was wenn Mar­ko ihn nun ins Visier nimmt?

KasimiraDas Cover von “Wolf” ist ein Traum! Farb­lich sticht es per­fekt her­vor und gibt sowohl auf der Vor­der- als auch auf der Rück­sei­te pas­sen­de Ele­men­te der Geschich­te wie­der. Den Feri­en­la­ger-All­tag im All­ge­mei­nen hat Saša Sta­nišić sehr gut getrof­fen. Lie­der, die am Lager­feu­er gesun­gen wer­den; Ofen­kar­tof­feln, die im Feu­er gegrillt und Gemein­schafts­klet­ter­tou­ren, die gemacht wer­den; unlieb­sa­me Bas­tel­nach­mit­ta­ge und Wan­de­run­gen mit­ten in der Natur: Das Dickicht greift nach mir, Äste schla­gen mir ins Gesicht, Wur­zeln stol­pern mich. Bel­la läuft am Ende unse­rer Kolon­ne und summt unun­ter­bro­chen. Sie summt lau­ter als der gesam­te Insek­ten­be­stand Nord­eu­ro­pas. […] Piet­rit­sch läuft am Kopf der Kolon­ne und scannt. Alle nase­lang bleibt er ste­hen und hält die Kame­ra sei­ner Pflan­zen-App einer Pflan­ze ins Gesicht. Erkennt die App was, liest er uns die Info vor. Die Pflan­zen-App erkennt nur Far­ne.” (Zitat S.43) Der Roman wird Kasimiradurch­ge­hend in Ich-Per­spek­ti­ve und aus Kemis Sicht erzählt. Ein Erzäh­ler, der sei­ne Leser zuwei­len direkt anspricht“Weil Jörg jetzt wie­der vor­kommt, ahnst du sicher schon, dass es hier auch um ihn geht.” (Zitat S.33) — und durch die Geschich­te lotst. Als Haupt­cha­rak­ter hat mir Kemi beson­ders gut gefal­len — sei­ne rot­zig-fre­che, pes­si­mis­ti­sche, die Welt-ableh­nen­de Art. Hier wird man mit Sät­zen wie “Guck wie hübsch die Bäu­me sind”, sagt Mut­ter. “Ich fin­de Bäu­me nur als Schrank super”, sage ich.” (Zitat S.12ff) oder Beschrei­bun­gen wie “Der Wald­bro­schü­ren­wald sieht aus, als hät­te jemand gera­de durch­ge­saugt, und die Wald­bro­schü­ren­lich­tung, als hät­te jemand das Gras gekämmt.” (Zitat S.13) ein­fach bes­tens unter­hal­ten! Auch die Dia­lo­ge sind ein­fach köst­lich zu lesen. Vol­ler klu­ger Iro­nie und Tief­grün­dig­keit. Abschnit­te, die zu lesen, rich­tig Spaß machen, so wie die­ser zum Bei­spiel: “Natur ist ein Geschenk! Sei wie sie”, sagt Bel­la und öff­net end­lich die Augen. “Sei frech und wild und wun­der­bar!” Den Spruch habe ich mal auf einer Corn­flakes-Packung gese­hen. Ich sage: “Okay.” Eine fre­che, wil­de Mücke lan­det auf Bel­la Unter­arm. Sie drescht sie tot und ent­fernt sich.” (Zitat S.30) Hier­bei wird man immer wie­der mit Kemis blü­hen­der Fan­ta­sie kon­fron­tiert und sei­nem Hang zur Über­trei­bung, wenn er sich bei­spiels­wei­se eine Begeg­nung mit Hir­schen im Wald aus­malt, mit denen er X‑Box spielt und Wald­erd­bee­ren mit Sah­ne isst oder ande­re Beob­ach­tun­gen in sei­ner ganz eige­nen Art beschreibt: “Nach­dem sie fer­tig ist, schnappt der Koch sich die Gitar­re und hea­vy­me­talt von sei­ner har­ten Kind­heit in einem DDR-Plat­ten­bau. Alle Sai­ten rei­ßen. Der Koch ver­schwin­det im Wald, die Erde bebt, wenn er läuft. Eine Wei­le schwei­gen alle. Das mit den Sai­ten den­ke ich mir aus.” (Zitat S.64) Auch die Neben­cha­rak­te­re wie der Koch, oder am Ende die Förs­te­rin (geni­al!) haben mir sehr gut gefal­len. Saša Sta­nišić weiß auch die Jugend im All­ge­mei­nen tref­fend zu por­trä­tie­renKasimira und nimmt so man­ches Ver­hal­ten auf raf­fi­nier­te Art und Wei­se auf die Schip­pe: “Und er macht jedes Bild fer­tig. Jörg zieht Kunst durch. Dabei sind wir in einem Alter, wo wir bei kei­ner Sache län­ger als eine Vier­tel­stun­de dran­blei­ben, ohne zu mot­zen oder uns ablen­ken zu las­sen. Es sei denn, die Sache ist Zocken, das geht.” (Zitat S.59) Ein Roman mit viel gesell­schafts­kri­ti­schen Töne, char­mant ver­packt in die Geschich­te: “Aben­teu­er haben nur Leu­te, die ande­ren Leu­ten, die kei­ne Aben­teu­er haben, zei­gen wol­len, dass sie mutig sind und stark. Dafür machen sie ein Foto von sich neben einer Zie­ge im Hoch­ge­bir­ge. Ange­ber. Frü­her wur­de immer­hin gewet­tet, wer auf einer Schild­krö­te rei­tend als Ers­ter die Welt umrun­det oder so was. Heu­te tre­ten sie in Sen­dun­gen auf, wo sie dafür bezahlt wer­den, im Dschun­gel Wür­mer zu essen und auf­ein­an­der zu rei­ten.” (Zitat S.50) Auf­ge­lo­ckert wird der — in Kapi­tel ein­ge­teil­te — Text vor allem mit den schö­nen Illus­tra­tio­nen von Regi­na Kehn, die teil­wei­se sogarKasimira gan­ze Sei­ten ein­neh­men und in schwar­zer oder gel­ber Hin­ter­grund­far­be pas­send zum Design des Covers gestal­tet sind. Haupt­au­gen­merk liegt in “Wolf” neben der Freund­schafts­ent­wick­lung zwi­schen Kemi und Jörg auch auf dem The­ma Mob­bing und dem Umgang damit. Wäh­rend Kemi zunächst eher beob­ach­tet und sich nicht traut ein­zu­grei­fen, schafft er es schließ­lich in gewis­ser Art und Wei­se auf einer Klet­ter­tour, Jörg bei­zu­ste­hen. Ein beson­de­res, geheim­nis­vol­les Ele­ment in der Geschich­te ist der Wolf, der namens­ge­bend bezüg­lich des Titels ist und der eines Nachts vor dem Fens­ter der Hüt­te auf­taucht: “Etwas Mond­licht fällt durch das Fens­ter, und unter dem Fens­ter sitzt ein Wolf. Also, es ist so: Das mit den Hir­schen, das habe ich mir aus­ge­dacht. Der Wolf jetzt, der sieht ver­dammt echt aus. Der Wolf ist groß, der Wolf ist schlank, der Wolf ist grau. Der Wolf leckt sich über die Schnau­ze. Guckt aus gel­ben Augen.” (Zitat S.69) Die tat­säch­li­che Bedeu­tung des Wol­fes wird lei­der nie ganz genau erklärt, er scheint ein Traum­we­sen zu sein, steht viel­leicht für Schuld­ge­füh­le, das schlech­te Gewis­sen, Angst; könn­te aber auch sym­bo­lisch für das Mob­bing ste­hen. Es bleibt viel Raum für eige­ne Gedan­ken, eben­so war­um Jörg ihn auch gese­hen hat, wenn er nur meta­pho­risch exi­si­tiert, bleibt lei­der unge­klärt (und ist für ein Jugend­buch in die­ser Alters­grup­pe schon rela­tiv kom­plex). Auch wenn mir der Roman erzäh­le­risch inge­samt rich­tig, rich­tig gut gefal­len hat, tue ich mich mit dem Aus­gang des Buches schwer und war irgend­wie fast etwas ent­täuscht. Man war­tet auf den Wut-Moment von Kemi, der ange­deu­tet wird, dann aber ein­fach nicht kommt. Alles ver­si­ckert irgend­wie in Mut­lo­sig­keit und Pas­si­vi­tät, was ich sehr scha­de fand, da dar­auf gut hin­ge­ar­bei­tet wur­de. Den­noch ist es ins­ge­samt gese­hen ein sehr gelun­ge­nes Buch, das ich wirk­lich emp­feh­len kann!

Fun Fact: Die Geschich­te ist tat­säch­lich schon ein mal erzählt wor­den! Von Saša Sta­nišić selbst, in sei­ner Samm­lung von Kurz­ge­schich­ten (für Erwach­se­ne) “Fal­len­stel­ler” (falls du das Ori­gi­nal lesen möch­test). Die Geschich­te heißt: “Im Feri­en­la­ger im Wald”.

LesealternativenLese­al­ter­na­ti­ven gefäl­lig? Einen Roman, an den ich sofort den­ken muss­te, der von der schwarz-gel­ben Gestal­tung und den hin­rei­ßen­den Illus­tra­tio­nen an “Wolf” erin­nert, ist “Julia und der Hai” von Kiran Mill­wood Har­gra­ve. Hier geht es nicht um Mob­bing, son­dern um men­ta­le Gesund­heit, aber es ist eben­falls eine Freund­schafts­ge­schich­te ent­hal­ten und sprach­lich her­aus­ra­gend geschrie­ben. Eine Feri­en­la­ger­ge­schich­te, die etwas gru­se­li­ger ist, aber auch im Carlsen Ver­lag erschie­nen ist, ist “Cra­ter Lake: Schlaf nie­mals ein” von Jen­ni­fer Kil­lick. Für etwas älte­re Jugend­li­che wäre auch die­se Feri­en­la­ger-Mob­bing-Sto­ry bes­tens geeig­net: “Wach auf, wenn du dich traust” von Ange­la Mohr.

Bibliografische Angaben:
Schilder was wo wer wannVerlag: Carlsen
ISBN: 978-3-551-65204-1
Erscheinungsdatum: 27.April 2023
Einbandart: Hardcover
Preis: 14,00€
Seitenzahl: 192
Übersetzer: -
Originaltitel: -
Originalverlag: -
Originalcover: -

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Kasimiras Bewertung:

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(4,5 von 5 mög­li­chen Punkten)

Die­ser Titel hat es in fol­gen­de Kate­go­rie geschafft: **Kasi­mi­ras Lieb­lings­bü­cher**

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