Die amerikanische Autorin Sara Pennypacker hat mit “Der Sommer der Eulenfalter” ein richtig schönes Buch geschrieben. Eine Geschichte über Freundschaft, Zusammenhalt und den Wunsch nach einer richtigen Familie. Aber auch über die Stärke zweier Mädchen, über sich hinauszuwachsen. Behutsam und sensibel erzählt. Ein ganz besonderer, wirklich lohnenswerter Roman mit einem bezaubernden Cover. Für Jugendliche ab 11 Jahren und Erwachsene.
Die 11-jährige Stella wohnt schon seit fast zwei Monaten bei ihrer Großtante Louise. Der Schwester ihrer verstorbenen Großmutter. Ihre Mutter, die ein ruheloses Wesen hat, ist mal wieder abgetaucht. Schon öfters ist sie ein paar Tage einfach weggewesen und hat Stella alleine gelassen, aber jetzt hat sich das Jugendamt eingeschalten und Stella ist nach einem kurzen Aufenthalt in einem Heim zu ihrer Großtante gekommen. Diese wohnt auf Cape Cod, einer Halbinsel im Südosten von Massachusetts, direkt am Meer. Dort hat Louise ein paar kleine Ferienhütten, die sie im Sommer vermietet. Schon früher hat auch Stellas Mutter einige Zeit bei ihrer Großtante gelebt. Von ihrem Aufenthalt zeugen die vielen Blaubeersträuche, die sie mit Louise damals angepflanzt hat. Die Blaubeeren, die Stellas Mutter geliebt hat und die auch Stella liebt. Als Siebenjährige hat sie ihrer Mutter einmal eine Kette mit aufgefädelten Blaubeeren geschenkt. “Sie hatte die Kette den ganzen Tag getragen, obwohl ihre Bluse davon Flecken bekam, sie hatte gesagt, sie fühle sich damit wie verzaubert.” (Zitat aus “Der Sommer der Eulenfalter”, S.11) Für das Mädchen ist es nicht einfach dieses ständige Verlassenwerden. Als dann eines Tages Louise plötzlich tot in ihrem Fernsehsessel sitzt, ist dies für sie besonders tragisch. Vor allem als Angel, die Pflegetochter ihrer Großtante dann auch schnell das Weite suchen möchte, bevor Stella die Polizei ruft. Sie möchte nicht wieder in eine Pflegefamilie gesteckt werden und lieber zu ihrer entfernt lebenden Tante reisen. Und obwohl Angel und Stella sich nie wirklich verstanden und oft gestritten haben, möchte Stella doch irgendwie, dass das nervige Mädchen bleibt. Es sind unterschiedliche Motive, die sie bald darauf einen besonderen Plan aushecken lassen: sie wollen Louise im Garten vergraben und so tun, als würde sie noch leben. Denn als schon der Erste nach Louise fragt — George, ein älterer Mann, der sich auch um die Ferienhütten kümmert — erfährt Angel nämlich, dass die Gäste wohl Trinkgeld geben, dass dann die Mädchen erhalten würden, wenn sie beim Herrichten und Saubermachen der Hütten für die neuen Gäste helfen. Dem alten Mann erzählen sie, dass Louise krank sei und sich dann auch noch ein Bein gebrochen hätte. Und Stella hat irgendwie die Vision, dass das Haus, vom dem Angel meint, dass sie es nun erben würde, einmal das Haus ihrer Mutter und ihr sein könnte. “Als ich zuletzt das Gefühl gehabt hatte, die Welt sei aus Glas und ich müsse dafür sorgen, dass sie nicht zerbrach, war ich in einem Haus gewesen, das diesem sehr ähnlich war. Meine Mutter hatte dieses Haus aufgegeben, aber aus irgendeinem Grund war mir das so vorgekommen, als wäre es meine Schuld. Jetzt brauchte ich ein Haus, um zu beweisen, dass ich diesen Fehler nicht wieder machen würde, worin auch immer er bestanden hatte.” (Zitat S.70). Doch eine Leiche verschwinden zu lassen und für einen unauffälligen Alltag zu sorgen, ist gar nicht so einfach. Vor allem, wenn man sich eigentlich gar nicht ausstehen kann…
“Der Sommer der Eulenfalter” wird durchgängig aus Stellas Sicht und in der Ich-Perspektive geschildert. Der Roman ist in Kapitel eingeteilt, deren Anfänge mit kleinen Eulenfaltern verziert sind (wie auch auf dem Cover). Die Eulenfalter beziehungsweise deren Raupen, das sind die natürlichen Feinde der Blaubeerbüsche. Nachts fressen sie deren Blätter. Und doch kann man eine interessante Parallele von ihnen zu den zwei Mädchen ziehen, die — obwohl sie Louises Tod einfach verschwiegen haben — diesen Sommer der Zweisamkeit und entstehenden Freundschaft gebraucht haben, um sich langsam auf das Erwachsenwerden einzustellen: “George hatte sie als Plage bezeichnet. […] Aber was hatten sie so Schreckliches getan? Sie hatten in den dunklen Nächten die Blätter gefressen, damit sie irgendwann fliegen können. Dafür musste man sie eigentlich bewundern. Sie taten, was sie tun mussten, im Dunkeln, damit sie nicht gestört wurden, und bereiteten sich auf das große Abenteuer vor, Eulenfalter zu werden.” (Zitat S.269) Was mir an Sara Pennypackers Erzählweise auch sehr gut gefallen hat, sind die Bilder, die sie erzeugt. Wenn Stella sich gedanklich gesehen versucht an Eisbergen zu orientieren, “die still und konzentriert dahintrieben” (S.15) und von keinem Sturm aus der Ruhe gebracht wird, um mit Angel nicht ständig zu streiten: “[…]als Angel zu uns gekommen war, vor zwei Wochen, hatte ich mir Mühe gegeben, wirklich. Es ist nur schwer, zu einem Kaktus freundlich zu sein. Angel bestand nur aus Stacheln.” (Zitat S.17) Oder wenn Stella die Sprechweise ihrer Tante analysiert: “ ‘Pah´, das war mir aufgefallen, war bei ihr oft der Anfang eines Gesprächs. Als ob sie einen Mundvoll Straßenstaub verschluckt hätte und ihn ausspucken müsste, ehe sie irgendein Wort bilden könnte.” (Zitat S. 8) Ein erzeugtes Bild sticht besonders hervor, zieht sich durch den gesamten Roman und verdeutlicht die Wichtigkeit menschlicher Bindungen: Stella denkt nämlich über die Erdanziehungskraft nach, die verhindert, dass die Menschen alle von der Erde fallen.
Sie ist jedoch auch davon überzeugt, dass das nur daran liegen kann, “dass die Menschen auf irgendeine Weise miteinander verbunden sind. Ich stelle mir die Bänder zwischen uns vor wie seidiges Spinngewebe: so gut wie unsichtbar, aber stark wie Stahl. Ich glaube, es kommt darauf an, dass wir genug davon spinnen, um uns in ein Netz einzuweben. Es ist ein gutes Gefühl, so ein Band zu entdecken — als ob ich mich auf der Erde sicherer verankere, als ob meine Knochen aus Eisen sind und mein Blut aus geschmolzenem Blei” (S.7) Es ist vor allem die Freundschaft, die die beiden Mädchen verändert. Angel, die begreift mit dem Unfalltod ihres Vaters anders umzugehen. Und Stella, die sich ihr ganzes Leben an besondere Regeln (ihre Haushaltstipps von Heloise, die sie wie besessen sammelt) gehalten hat, um eine gewisse Stabilität in ihrem Leben zu erzeugen, die ihre Mutter ihr niemals geben konnte, versteht gegen Ende, dass man manche Regeln auch mal brechen darf, um glücklich zu sein: “ ‘Ich breche ein paar Regeln, Angel. Verwandele mich in einen Eulenfalter´” (Zitat S.270). Das Buch hat traurige Stellen, besonders wenn Stella sich an ihr unbeständiges Leben mit ihrer Mutter zurückerinnert, aber das Ende versöhnt und hinterlässt Gewissheit, dass manchmal alles anders ausgeht, als man es erwartet hat, aber das es definitiv gut ausgeht! Lesetipp!!
Das englische Originalcover gefällt mir im Gegensatz zum deutschen nicht ganz so gut (siehe unten). Kompliment daher an den Carlsen Verlag — da habt ihr euch echt etwas Schönes einfallen lassen!
Wenn dir Sara Pennypackers Erzählstil gefällt, kannst du auch noch ihre bekannte “Clementine”- Reihe lesen, die allerdings ab 7 Jahren sind: Eine sehr gute Alternative zu “Der Sommer der Eulenfalter” ist “Lasst uns Schweigen wie ein Grab” von Julie Berry (ab 12). Hier stirbt zwar die verhasste Heimleiterin eines Internats mitsamt ihrem unbeliebten Bruder, aber die sieben Mädchen versuchen ebenso ihren Tod zu vertuschen und vergraben sie im Gemüsebeet. Das Verschwinden der Mutter versuchen auch die Protagonisten in diesen zwei Romanen zu vertuschen: “Fünfzehn kopflose Tage” von Dave Cousins und “Gegen das Glück hat das Schicksal keine Chance” von Estelle Laure. Eine Geschichte, in der Freundschaft im Vordergrund steht und die Hauptperson mit einer sehr unbeständigen Mutter umgehen muss, ist “Das Schweigen in meinen Kopf” von Kim Hood (ab 12). Romane, die traurig, aber zugleich auch hoffnungsvoll und sehr lesenswert sind, sind: “Bird und ich und der Sommer, als ich fliegen lernte” von Chan Crystal (bezaubernd!), “Das unsichtbare Mädchen” von Charis Cotter (überraschend!), “Isla Schwanenmädchen” von Lucy Christopher (berührend!) und “Mit Worten kann ich fliegen” von Sharon M. Draper (brilliant!).
Bibliografische Angaben:Verlag: Carlsen ISBN: 978-3-551-55648-6 Erscheinungsdatum: 28.Mai 2015 Einbandart: Hardcover Preis: 13,99€ Seitenzahl: 320 Übersetzer: Gabriele Haefs Originaltitel: "Summer of the Gypsy Moths" Originalverlag: HarperCollins Amerikanisches Originalcover:
Amerikanischer Trailer:
Kasimiras Bewertung:
(5 von 5 möglichen Punkten)
--------------------------------------------------------------------------------- Amerikanisches Cover: Homepage von Sara Pennypacker