Die dänische Autorin Sanne Søndergaard hat mit “Mein fantastisches Leben — von wegen!” einen ganz besonderen Roman über das Thema Mobbing und den Wunsch sich selbst das Leben zu nehmen. In Tagebuchform und mit jugendsprachlicher Ausdrucksweise trifft der Leser auf eine Protagonistin, die kein Blatt vor den Mund nimmt und trotzdem am Leben zu zerbrechen droht. Anders. Bewegend. Mit traurigem Sarkasmus. Für taffe Jugendliche ab 14.
Agnes ist 14. Sie hat begonnen eine Art Tagebuch zu schreiben. Nur dass sie es nicht so nennt. Es ist ihr “Todesbuch”. Denn das junge, etwas übergewichtige Mädchen hat beschlossen sich “in 12 Tagen, 1 Stunde und 55 Minuten” (Zitat aus “Mein fantastisches Leben — von wegen!” S.5) das Leben zu nehmen. Von ihrem Tod hat sie schon genau Vorstellungen. Sie will kein Grab und am liebsten verbrannt und im Wald verstreut werden. Sie wird Tabletten nehmen. Am 2. November, ihrem 15. Geburtstag. In der Schule wird sie schon seit Jahren geärgert, vor allem von der Klassenqueen und ihrer Clique: “Auch wenn Sille und ihre Hofschranzen echt blöd sind, kann ich gut verstehen, wieso sie auf mir rumhacken. Wie gesagt: Ich bin anders. Und Menschen, die anders sind, kann man nicht in Ruhe lassen. Ich bin ein verflixter Mutant, jawohl. So simpel ist das.” (Zitat S.13). Auch ihre Eltern verstehen Agnes nicht wirklich. Mit ihrer Mutter gerät sie öfters in Streit und ihren Vater kann man sowieso vergessen. Freunde hat sie keine. Menschen “erträgt” sie höchstens. Sie fühlt sich unbeliebt und unerwünscht. Deshalb geht sie. “Mobbing. Das klingt so ätzend nach Opfer. Ich will kein Opfer sein. Ich hab das Steuer in der Hand. Ich gehe. Ich bin fertig mit diesem Scheißleben!” (Zitat S.28). Doch bevor sie fertig ist, tut sie noch Dinge, die sie zuvor nie gewagt hätte. Sie provoziert. Sie mischt ihre Klasse auf und schmiedet waghalsige Pläne: “Was ich mir dabei gedacht habe? Scheißegal, habe ich gedacht! In einer Woche check ich eh aus, warum soll ich es vorher nicht noch mal richtig krachen lassen? Ich habe es so satt, mich ihren engstirnigen Vorstellungen anzupassen, wie man zu sein hat, wenn man eh nie gut genug ist.” (Zitat S.70) Das verändert alles…
“Mein fantastisches Leben — von wegen!” wird durchgehend in der Ich-Perspektive und aus Agnes Sicht erzählt. Die Tagebuchform gliedert sich in Tage, Abschnitte mit Uhrzeiten und die Benennung der Schulstunden. Agnes spricht den zukünftigen Leser ihres “Todesbuchs” (Der dänische Originaltitel lautet übersetzt auch “Liebes Todesbuch”) direkt mit “Du” an. Durch ihre Schilderungen will sie vor allem ihren Eltern klarmachen, warum sie sterben will und dass diese daraus bitte kein Drama machen sollen. Ich muss zugeben, dass ich am Anfang Schwierigkeiten hatte, die Hauptfigur sympathisch zu finden. Sie meckert in einer Tour an allem herum: hat am Essen ihrer Mutter ständig etwas auszusetzen, findet es unmöglich, dass die Schule schon um 8 Uhr beginnt oder ihr Vater “pervers früh zur Arbeit” (Zitat S.22) geht. Sie verwendet ein äußerst direktes und teilweise recht derbes Vokabular und redet definitiv nicht um den heißen Brei herum, hierbei wird das Thema Selbstbefriedigung zum Beispiel auch nicht ausgespart und für einen Jugendroman sehr detailliert geschildert. Zu Beginn scheint Agnes in ihren Erzählungen auch immer wieder abzuschweifen, wirkt fast ein wenig oberflächlich, während sie belanglose Dinge über Schulstunden, wer mit wem zusammen ist und wie welcher Lehrer sich verhält, von sich gibt. Auch wirkt sie nicht wie ein “typisches” Mobbingopfer, das sich zurückzieht und sich kaum traut etwas zu sagen. Sie teilt gegenüber ihren Mitschülern auch ordentlich aus, beleidigt diese und macht dann wieder absichtlich auf sich aufmerksam: “Zum Glück” gingen diese Phasen immer ziemlich schnell vorbei. Die Phasen, in denen sie mich ignorierten. Ich musste nur lange genug mit irgendwas auf dem Kopf rumlaufen oder mir Gummibärchen in die Nase stecken, damit sie wieder über mich lachten. Ein paar Tage gelang es mir dann, ihre Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen, indem ich irgendetwas Beklopptes sagte oder tat. Je wilder, desto besser. Zum Beispiel ein Stuntmanöver vom Treppenabsatz in der ersten Etage, mit Purzelbaum und allem. Das war ziemlich cool.” (Zitat S.26) Trotz ihrer speziellen Art oder gerade deswegen gelingt es einem als Leser erst allmählich hinter ihre Fassade zu schauen, ihre Wut und ihre Verzweiflung zu verstehen. Ihr Sarkasmus, ihre Ironie, ihre Hass ausdrückenden Worte, die verbergen viel Schmerz in einem sensiblen Kern. Gegen Ende wird das Buch richtig cool und abgefahren, als Agnes ihren persönlichen Rachefeldzug startet. Man klebt förmlich an den Seiten und will wissen, was sie sich noch alles einfallen lässt, um es ihren Mitschülern heimzuzahlen. Und was am 2. November tatsächlich geschieht. Man hofft, dass sie es nicht tut… ««««««ACHTUNG SPOILER:»»»»»» Gefallen hat mir auch ihre kluge Einsicht am Ende: “Ich muss die Verantwortung für mein Leben übernehmen. Und jetzt habe ich mich entschieden, es zu behalten. Das ist ein ganz schön starkes Gefühl. […] Klein beizugeben und auszusteigen ist einfach. Schluck einfach die Tabletten und drück dich davor, die Probleme anzusprechen. Ich wollte einfach nur weg. Ohne mich wäre alles leichter, dachte ich. Aber einfacher für wen? Für mich? Für die anderen jedenfalls nicht. […] Aber mein Leben liegt nicht in ihren Händen, sondern in meinen! Mein Leben — aber nicht mein Tod. Das versuche ich gerade zu verstehen.” (Zitat S.201) ««««««ENDE SPOILER»»»»»»
Eine gute Alternative zu “Mein fantastisches Leben — von wegen!” ist “Mein Herz und andere schwarze Löcher” von Jasmine Warga. Hier planen zwei Jugendliche gemeinsam ihren Tod und entdecken unverhofft die Sehnsucht nach dem Leben. Dasselbe passiert den Jugendlichen in “Zehn Gründe, die todsicher fürs Leben sprechen” von Albert Borris. Die Themen Mobbing und Suizid finden sich ebenso in den Büchern “Das wirst du bereuen” von Amanda Maciel, dem Bestseller “Tote Mädchen lügen nicht” von Jay Asher und in “Butter” von Erin Jade Lange. Ein Roman, der zunächst auch oberflächlich erscheint und dann aber doch in die Tiefe geht, ist “Zerbrechliches Herz” von Rebecca Serle.
Bibliografische Angaben:Verlag: Boje ISBN: 978-3-414-82419-6 Erscheinungsdatum: 15.Mai 2015 Einbandart: Hardcover Preis: 12,99€ Seitenzahl: 208 Übersetzer: Maike Dörries Originaltitel: "Kære Dødsbog" Originalverlag: Gyldendal Dänisches Originalcover:
Dänischer Trailer:
Kasimiras Bewertung:
(4,5 von 5 möglichen Punkten)
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Dänisches Cover: Homepage von Gyldendal