Der Peter-Härtling-Preis 2015 ging an die deutsche Autorin Regina Dürig und ihren anonym eingereichten Roman “2 1⁄2 Gespenster”, der bei Beltz & Gelberg veröffentlicht wurde. Nun neu als Taschenbuch erschienen. Ein geheimnisvoller Roman über einen Fremden, der sich Eintritt in eine Familie verschafft und diese nicht mehr verlassen möchte. Für Jugendliche ab 14 und Erwachsene, die tiefschichtige Literatur mögen und auch bereit sind sich mit dem Gelesenen auseinanderzusetzen.
Die 16-jährige Joanna sitzt mit ihren Eltern in einem Café, als sie mitbekommen, wie ein junger Mann (vielleicht zwei bis drei Jahre älter als Joanna) am Nebentisch seine drei Stücke Kuchen nicht bezahlen kann. Liliane, die Bedienung, fordert ihn auf zur Bank zu gehen, doch der Mann, der abgesehen von den Augen Heath Ledger ähnelt, meint, dass dort auch nichts zu holen sei. “Willst du nicht noch mal in deinem Rucksack schauen, ob du irgendwo zehn Euro hast?”, fragt Liliane. “Eigentlich lieber nicht”, sagt er.” (Zitat aus “2 1⁄2 Gespenster”, S. 8). Und so begleicht Joannas Vater Dominik kurzerhand die Rechnung des Fremden, wofür er sofort Ärger mit Ines, seiner Frau, bekommt. Diese fordert den undankbaren Mann, der sich Leo nennt, dazu auf, die 12,80€ für den Kuchen am nächsten Montag in der Dominiks Druckerei abzuarbeiten. Joanna, die von Leo mit den roten Cowboystiefeln und dem glattgestrichenen Haaren irgendwie fasziniert ist, ist überrascht, dass er tatsächlich am Montag bei Dominik in der Druckerei auftaucht. Die verschiedensten Überlegungen stellt sie über ihn an. Ob er einer Verbrecherbande angehört oder ob er Dominiks unehelicher Sohn ist. Bei der Arbeit in der Druckerei stellt Leo sich jedoch sehr geschickt an. Joannas Vater lässt ihn infolge schwarz bei sich arbeiten. Manchmal übernachtet Leo in dem Zimmer über der Druckerei. Manchmal flirtet er mit Joanna. Dann wirkt er wieder unnahbar, gibt einsilbige Antworten oder gar keine. “Ich möchte lieber nicht.” oder “Eigentlich nicht.”, das sagt er immer wieder gerne. Als eines Tages ein wichtige Druckauftrag ansteht, und Joannas Familie bei Oma Lenchen zu Besuch ist, kümmert Leo sich um nichts. Er lässt Dominik hängen und bleibt einfach nur noch in dem Bett liegen…
“2 1⁄2 Gespenster” wird durchgehend aus Joannas Perspektive in der Ich-Form erzählt und durch ein Zitat von Hermann Melville eingeleitet (“Ich möchte lieber nicht”, sagte er. aus dem Roman “Bartleby der Schreiber”), das sehr passend zu Leos Verhaltensweise ist. Die Sprache ist einfach und doch sehr besonders: “Die Sonne geht auf und das Bilderbuch ist gedruckt. Da ist Dominik, da ist Leo und da bin ich. Zwischen uns ein Riesenstapel Papier, Erleichterung und Müdigkeit.” (S. 27). Der Erzähltext ist flüssig und gewinnt durch die Tiefe und den Sinn hinter den schlichten Worten an Mehrdimensionalität. Perfekt geeignet für Leser, die sich mit dem Oberflächlichen nicht zufrieden geben, die das Agieren der Protagonisten nicht einfach nur beobachten, sondern auch verstehen möchten. Allen voran Leo, den Fremdkörper in dem Roman, das geheimnisvolle Wesen, das es schafft durch seine hartnäckige Passivität eine ganze Familie in Aktivität zu versetzen. Wer ist Leo? Wo kommt er tatsächlich her? Was will er? Und warum will er nicht?
Interessant fand ich auch den Titel des Romans und seine außergewöhnlichen Kapitelüberschriften. Es gibt nicht nur Kapitel 1, 2, 3, sondern auch 5 1⁄4, 5 1⁄2 und 5 3⁄4 oder 4 1⁄3 und 4 2⁄3. Und Überschriften wie “Ein Reh mit Rollschuhen”, “Überrollte Delfine” und “Stilleben mit Wanduhr und Paragrafen”. Es ist die Andersartigkeit, die “2 1⁄2 Gespenster” zu etwas Besonderem macht. Die Möglichkeiten der Interpretation, die die Autorin den Lesern offen lässt, sie durch ihre wertungslose Erzählweise geradezu dazu auffordert. Ideal als Schullektüre.
Schade fand ich, dass der Titel “Eigentlich lieber nicht”, der im Netz kusiert und wahrscheinlich der Manuskripttitel war, nicht für die Buchveröffentlichung übernommen wurde. Der wäre viel aussagekräftiger und passender gewesen als “2 1⁄2 Gespenster”, für welchen man schon sehr viel Interpretationsarbeit leisten muss.
Wenn dir der Erzählstil von Regina Dürig gefallen hat, dann kannst du auch noch “Katertag: Oder: Was sagt der Knopf bei Nacht?” von ihr lesen, das 2012 für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert wurde (von den Jugendlichen selbst gewählt). Ebenfalls den Peter-Härtling-Preis bekommen haben 2013 Nataly Savina für “Love Alice” (toll!) und 2009 Gabi Kreslehner für “Charlottes Traum” (berührend, Thema Scheidung). Romane, die mit klarer Sprache und mit viel Tiefe und Interpretationsmöglichkeiten versehen sind, sind auch “Nichts: Was im Leben wichtig ist” von Janne Teller (ab 16, herausragend!), “Marienbild” von Tamara Bach (eine sehr gute Alternative zu “2 1⁄2 Gespenster”) und “Wie ein flammender Schrei” von Mats Wahl. Möglich wäre auch “Das ist der Sommer im Paradies, wie er eben aussieht, wenn man die Sonnenbrille absetzt” von Hilde Kvalvaag und “Und plötzlich war der Wald so still” von Moa Eriksson Sandberg.
Bibliografische Angaben:Verlag: Beltz & Gelberg ISBN: 978-3-407-74804-1 Erscheinungsdatum: 30.Januar 2017 Einbandart: Taschenbuch Preis: 6,95€ Seitenzahl: 139 Übersetzer: - Originaltitel: "Eigentlich lieber nicht" Originalverlag: - Originalcover: -
Kasimiras Bewertung:
(4,5 von 5 möglichen Punkten)