Die britische Autorin Penny Joelson hat in den Roman ‘Ein kleines Wunder würde reichen” vor allem ihre Erfahrungen in der Arbeit mit schwerbehinderten Kindern und Jugendlichen einfließen lassen. In ihren Roman stellt sie ein junges Mädchen in den Mittelpunkt, das unter Zerebralparese leidet, einer durch eine Hirnschädigung ausgelöste Lähmung und unverhofft einen Hinweis zum Täter eines Mordfalls erhält. Nur ohne sprechen zu können, stellt es eine gewisse Herausforderung dar, einen Bösewicht zu überführen. Ein sehr feinfühlig, ruhiges und authentisch geschriebenes Buch! Für Jugendliche ab 12 Jahren und interessierte Erwachsene.
Jemma ist 14 Jahre. Sie hat eine schwere Zerebralparese. “Das bedeutet, dass ich keine Kontrolle über meine Arme und Beine habe — und auch über sonst nichts. Ich kann nicht selbstständig essen. Ich kann nicht ohne Hilfe auf die Toilette gehen. Ich kann mich nicht bewegen, brauche immer jemanden, der mich mit einer Vorrichtung hochhebt oder im Rollstuhl schiebt. Und ich kann nicht sprechen.” (Zitat aus “Ein kleines Wunder würde reichen” S.12ff) Jemmas Eltern, die sie “Mom” und “Dad” nennt, sind nicht ihre echten Eltern. Seit sie zwei Jahre alt ist, lebt sie als Pflegekind bei ihnen. Ihre biologische Mutter hat sie nicht mehr haben wollen, war mit ihr überfordert. Doch Jemma fühlt sich wohl jetzt. Ist in einer liebevollen Familie gelandet, die außerdem noch zwei andere Pflegekinder haben: den 9‑jährigen Wirbelwind Olivia, die erst seit Kurzem bei ihnen lebt und immer wieder Wutanfälle bekommt und den 5‑jährigen Finn, der Autist ist und ebenfalls nicht spricht. Und dann gibt es natürlich auch noch Sarah, Jemmas Pflegerin, die sie über alles mag und mit der sie so gut auskommt. Nur Dan, deren Freund kann Jemma überhaupt nicht ausstehen. Er ist richtig gemein zu ihr: “Keine Ahnung, wie du das aushältst.” […] So etwas sagt er nur, wenn kein Dritter dabei ist. […] “Wenn ich du wäre, würde ich mir’n Strick nehmen”, flüstert er. Mein Herz pocht laut, Dan reibt sich nachdenklich den Kopf. “Ach, stimmt, kannst du ja gar nicht! Egal”, fährt er fort, “wenn du Hilfe brauchst, das übernehme ich gerne -” Schritte auf der Treppe. Dan tritt zurück. Sein höhnisches Grinsen verzieht sich zu einem aufgesetzten Lächeln…” (Zitat S.8) Doch niemand ahnt von Dans zweitem Gesicht und Jemma kann sich niemandem mitteilen. Noch viel schlimmer ist allerdings, dass Dan ihr ein furchtbares Geheimnis anvertraut hat. “Andere weihen mich manchmal in
ihre Geheimnisse ein. Wahrscheinlich liegt es daran, dass es ziemlich anstrengend ist, ein einseitiges Gespräch zu führen. Wenn Menschen mit mir allein sind, wollen sie reden, damit die Zeit vergeht, und am Ende erzählen sie mir, was ihnen gerade in den Sinn kommt. Sie wissen ja, dass ich es nicht weitersagen kann, und glauben deshalb, bei mir sei es gut aufgehoben. Ich bin die perfekte Zuhörerin.” (Zitat S.13) In der Straße, in der Jemma und ihre Familie leben, wurde vor ein paar Tagen der Sohn einer Nachbarin umgebracht. Und Dan war der Täter. Das ahnt allerdings niemand. Nur Jemma weiß Bescheid. Doch wie soll sie sich mitteilen, wenn sie nicht sprechen kann? Sich in keiner Weise verständlich machen kann? Als plötzlich unerwartet eine Zwillingsschwester von Jemma auftaucht und dann auch noch Sarah spurlos verschwindet, überschlagen sich die Ereignisse…
“Ein kleines Wunder würde reichen” ist ein ruhig erzähltes Buch. Mit einem angenehmen Lesetempo konzentriert es sich auch auf die Feinheiten im Zusammenleben einer Familie. Stellt Alltagssituationen dar und rückt sensibel gezeichnete Charaktere in den Mittelpunkt. Besonders Jemma, die in dem Roman aus ihrer Sicht in der Ich-Perspektive berichtet, wird besonders gut dargestellt. Ein Mädchen, das ihre Gefühle und Sorgen nicht mitteilen kann. Das auf keinerlei Weise kommunizieren kann: “Keiner versteht es. Wenn ich mir Sorgen mache und lediglich beruhigt werden müsste, gibt es keine Möglichkeit, das mitzuteilen. Dadurch werden meine Sorgen immer größer und größer. Mum und Dad nehmen meistens an, dass es eine körperliche Ursache ist, weil das oft vorkommt, dabei möchte ich ihnen einfach nur sagen können, wie mir zumute ist…” (Zitat S.48) Am Anfang habe ich mir noch überlegt, warum niemand auf die Idee kommt mit ihr über ein Blinzeln beispielsweise zu kommunizieren, aber auch das wird irgendwann genauer erklärt: “Mein Leben lang gab es Versuche mir zu helfen — vom Zeigen auf Buchstaben bis zur Augensteuerung -, aber nichts hat funktioniert. Ich weiß noch, als ich zehn war. Da waren wir alle furchtbar aufgeregt, weil ein neuer Lehrer mir beigebracht hatte, mittels Blinzeln “Ja” und “Nein” zu sagen. Aber dann wurde ich furchtbar krank. Ich war ewig im Krankenhaus, und als es mir langsam besserging, hatte ich die Kontrolle über das Blinzeln verloren.” (Zitat S.75) Trotzdem ist es unheimlich schön zu lesen, wie Jemma Anteil an ihrer Familie nimmt, wie sie Quizsendungen mit ihrem Vater im Fernsehen sieht, ihre Geschwister beim Spielen beobachtet und von ihrer Pflegerin liebevoll mit Erzählungen aus de
ren Leben versorgt wird. Wie wohl sie sich in ihrem Zuhause fühlt. Das schließlich bedroht wird. Durch Dan und durch das plötzliche Verschwinden von Sarah. Auch wenn der Roman jetzt nicht die größte Spannungskurve verzeichnet (abgesehen vom Ende, da wird es richtig dramatisch!), habe ich das Buch wirklich gerne gelesen. Man fiebert mit Jemma mit und begleitet sie auf ihrer erstaunlichen Art der Spurensuche, da sie nicht wirklich aktiv handeln kann, sondern immer passiv ist und nur darauf hoffen kann, dass ein Gespräch in ihrer Nähe geführt wird, dass sie einen Bericht im Fernsehen tatsächlich ansehen darf und nicht zuvor schon mit ihrem Rollstuhl woanders hingeschoben wird. Als dann plötzlich eine unerwartete Art der Kommunikation auftaucht, die Jemma das erste Mal ermöglicht sich wirklich auszudrücken, ändert sich auf einmal alles. Denn manchmal reicht auch schon ein kleines Wunder aus, um einen großen Horizont zu eröffnen;-)
Fazit: Liebenswert und sanft erzählt. Ein ganz besonderes Buch.
Die wohl beste Alternative zu “Ein kleines Wunder würde reichen” ist “Out of my mind: Mit Worten kann ich fliegen” von Sharon M. Draper. Ein unglaublich berührender Roman, ebenfalls über ein Mädchen mit Zerebralparese. Selbiges findest du in “Flieg, so hoch du kannst” von Barry Jonsberg. Eine Freundschaft zwischen einem Mädchen und einem Jungen, der eine ähnliche Behinderung hat, kannst du in “Das Schweigen in meinem Kopf” von Kim Hood (klasse!) entdecken. Oder lies “Die Wahrheit über Ivy” von Kathy Stinson (bewegend!) oder “Wunder” von Raquel J. Palacio. Ein Kriminalfall, der trotz Einschränkungen gelöst wird, das erlebt auch der (autistisch wirkende) Protagonist in “Supergute Tage oder Die sonderbare Welt des Christopher Boone” von Mark Haddon.
Bibliografische Angaben:Verlag: Fischer ISBN: 978-3-8414-4023-5 Erscheinungsdatum: 23.Mai 2018 Einbandart: Hardcover Preis: 16,99€ Seitenzahl: 320 Übersetzer: Andrea Fischer Originaltitel: "I have no secrets" Originalverlag: Egmont UK Amerikanisches Originalcover:
![]()
Kasimiras Bewertung:
(4 von 5 möglichen Punkten)
------------------------------------ Amerikanisches Cover: Homepage von Penny Joelson