“Davor und danach” von der britischen Autorin Nicky Singer ist ein dystopischer Roman, der in eine Welt entführt, in der die Menschen auf der Flucht sind. Vor den Folgen des Klimawandels. Ebenso wie ein junges Mädchen, das gemeinsam mit einem kleinen Jungen auf dem Weg in den Norden ist und ums Überleben kämpft. Eine (heftige) Geschichte, die schnell gefangen nimmt und äußerst intensiv und eindringlich erzählt ist. Für (reife) Jugendliche ab 14 Jahren und Erwachsene.
Sie ist aus dem Sudan geflohen, wo sie mit ihren Eltern gelebt hat. Die 14-jährige Mhairi. Ihre Mutter war Ingenieurin und hat geglaubt die ganze Welt mit dem Strom und den Ressourcen der Wüste versorgen zu können. Doch all das hat nicht geklappt. “Kommt nach Hause, sagte Großmutter. Kommt sofort nach Hause! Das war vor über einem Jahr. Es kommen zu viele Menschen nach Norden, sagte Großmutter. Sie schließen alle Grenzen. Es würde mich nicht wundern, wenn sie die Grenze zwischen England und Schottland auch noch dichtmachen.” (Zitat S.46) Denn der Klimawandel hat die ganze Welt verändert. Es ist viel zu heiß geworden. Alle Menschen flüchten nach Norden, wo es noch ein wenig erträglicher ist. “Und ich weiß, dass der Norden das nicht schaffen kann. Aber die Sache ist die: Ich will leben. “Mhairi, sagte meine Mutter. Bleib am Leben. Versprich es mir. Was auch passiert, du musst am Leben bleiben.” (Zitat S.12) Und das versucht Mhairi, jeden Tag. Immerzu. Versucht sich irgendwie durchzuschlagen. Auf dem Weg nach Schottland. Zu ihrer Großmutter, die auf der Insel Arran lebt, wo Mhairi auch geboren wurde. Zum Glück hat sie noch ihre Papiere. “Es gibt immer Leute, die dir deine Papiere stehlen wollen. Denn alle Papiere — selbst gefälschte — sind besser als gar keine Papiere. Ein Mensch ohne Papier ist schon so gut wie tot.” (Zitat S.20) Doch auch mit Papieren ist es nicht immer leicht über die Grenzen zu kommen. Überall sind Soldaten. Eines Tages begegnet Mhairi einem alten
Mann und einem kleinen Jungen. “Ich mustere sie schnell. Leben und Tod sind heutzutage oft eine Frage von Sekunden. Der Junge ist noch klein, vielleicht fünf Jahre alt. Wenn nötig könnte ich ihn mit bloßen Händen töten. Also wende ich mich dem Mann zu.” (Zitat S.8) Aber als sie den Mann mit der Macht ihrer Pistole (die ohne Patronen ist) nach seinen Papieren fragt, kippt er auf einmal um. Tot. Wahrscheinlich aus Schwäche gestorben. Eigentlich will Mhairi niemanden dabei haben. “Denn der Junge kann nicht mit mir kommen. Nein. Er darf nicht. Der zehnjährige Muhammad hat diesen Fehler gemacht und es endete nicht gut für ihn. Es endete mit FESTUNG.” (Zitat S.21) Doch der Junge, der kein Wort spricht, heftet sich an ihre Fersen. Und irgendwie kümmert sich Mhairi sich dann doch um ihn. Aber der Weg nach Norden ist nicht immer einfach…
“Davor und danach” fällt vor allem durch seine besondere Gestaltung aus dem Rahmen. Ein Buch (bezieht sich auf die Broschurausgabe, siehe unten), dessen Cover weder Aufschluss auf den Autoren, noch auf den Titel gibt, das ist ungewöhnlich und gleichzeitig ein echter Hingucker! Erst auf dem Buchschnitt und dem Buchrücken sind die Wörter “Davor” und “Danach” erkennbar. Die Seitenlasche des hinteren Broschur-Umschlags ist verlängert und umschließt den gesamten Buchblock, was beim Lesen manchmal ein wenig hinderlich ist, weil man gar nicht weiß, wo man diese Lasche am besten hin klemmt, so dass sie nicht stört. Aber gestalterisch ist dieses Merkmal natürlich sehr gelungen. Der Roman ist in Kapitel mit meist einwörtigen Überschriften unterteilt und durchgehend aus Mhairis Sicht in der Ich-Perspektive geschrieben. Ihr Erzählstil ist teils nüchtern und klar, wirkt — aber im Hinblick auf das, was sie alles Schlimmes erlebt hat — passend und verdeutlicht Mhairis Resignation und Abgestumpftheit. Den Schutz, den sie sich zulegen musste, um zu
überleben. Dazu gehört beispielsweise auch alles, was zu schwer und zu traumatisch ist, in ihr Unterbewusstsein zu verdrängen: “Ich drehe mich um. Auch das habe ich gelernt. Es ist immer besser, den Dingen ins Auge zu sehen. Meistens wird man damit fertig. Wenn man nicht damit fertigwird, kann man sie in FESTUNG schließen.” (Zitat S.7) Immer wieder erinnert sie sich an Dinge, die dann plötzlich nicht weiter ausgeführt werden und mitten im Satz mit “FESTUNG” enden. So weiß man zu Beginn nicht wirklich, was mit ihren Eltern geschehen ist. Warum sie jetzt alleine unterwegs ist, bereits seit Tausenden von Kilometern. Jedoch — und das ist sehr schön gemacht — erinnert Mhairi sich immer wieder an die Worte ihrer Eltern. An das, was ihr Vater ihr mitgegeben hat, an seine Geschichten, die meistens gut ausgingen. Daran, dass die Welt trotz allem schön ist. Und an ihre Mutter, die einfach nur wollte, dass sie überlebt. Auch wenn das Überleben manchmal einfach nur unglaublich brutal und hart und schwierig sein kann, was genau so deutlich und offen
geschildert wird: “Ich dachte, Kälte wäre etwas Äußerliches. Ich wusste nicht, dass Kälte dir bis in die Zähne ziehen und deine Nieren zum Zittern bringen kann. Ich wusste nicht, dass Wind dir in den Nacken schlagen und dir mit solcher Macht unter die Fingernägel wehen kann, dass du das Gefühl hast, er gelangt wirklich unter deine Haut. Das habe ich nachts in der Wüste gelernt.” (Zitat S.30) Auch wenn “Davor und danach” manchmal dramaturgisch etwas schwächer und stellenweise weniger mitreißend ist, ist es erzählerisch unheimlich gut geschrieben, es ist dicht erzählt, atmosphärisch. Eine Geschichte, die einen schnell vereinnahmt und auch philosophische Untertöne zeigt. Sich mit Themen wie Zeit, Grenzen und Mauern — auch zwischen Menschen — und mit dem Umgang mit Flüchtlingen auseinandersetzt. Und zeigt, dass es trotz allem Furchtbaren, immer wieder kleine Wunder am Wegesrand gibt. Menschen, die helfen, ohne etwas dafür zu verlangen und in Zeiten der Not Fremde einfach unterstützen, so wie die Frau mit den
Decken. Dennoch wird es für Mhairi nie wieder so sein wie zuvor. Etwas, was sie mit dem Wort “Davor” und “Danach” immer wieder bezeichnet, wie zum Beispiel “Freunde gehören zum Davor.” (Zitat S.11) Dass der kleine, namenlose, sprachlose Junge bei ihr auftaucht, verändert auch das junge Mädchen, macht ihr Herz weich und lässt sie fast wie eine fürsorgende Mutter wirken. Das Ende ist heftig, aber passend.
Fazit: Ein ziemlich ergreifendes Buch, das man so schnell nicht vergessen wird!
Im Deutschen wurden bisher noch zwei andere Bücher von Nicky Singer veröffentlicht: “Norbert Nobody oder Das Versprechen” (2003) und “Auf einem schmalen Grat” (2005). Gute inhaltliche Alternative sind zum Beispiel “Krieg: Stell dir vor, er wäre hier” von Janne Teller, die “Oceania”-Reihe von Hélène Montardre oder die Reihe “Die Welt, wie wir sie kannten” von Susan Beth Pfeffer. Endzeitromane gibt es im Jugendbuch jede Menge. Gut vorstellen könnte ich mir auch “Wir treffen uns, wenn alle weg sind” von Iva Procházková, die “Rain”-Reihe von Virginia Bergin oder “Als die Welt zum Stillstand kam” von Gabi Neumayer. Eine bemerkenswerter Endzeitthriller ist “Dry” von Neal & Jarrod Shusterman. Gut gefallen hat mir ebenso “Endland” von Martin Schäuble, das vor allem das Thema Grenzen und Flucht behandelt. Letzteres ist auch ein Thema in “Der lange Weg zum Wassers” von Linda Sue Park.
Bibliografische Angaben:Verlag: Oetinger ISBN: 978-3-8415-0617-7 Erscheinungsdatum: 20.Juli 2020 Einbandart: Taschenbuch Preis: 12,00€ Seitenzahl: 384 Übersetzer: Birgit Salzmann Originaltitel: "The Survivor game" Originalverlag: Hodder Children's Books Amerikanisches Originalcover:
Deutsche Broschurausgabe:
Nicky Singer liest aus ihrem Buch (auf Englisch):
Kasimiras Bewertung:
(4,5 von 5 möglichen Punkten)
--------------------------------------------- Amerikanisches Cover: Homepage von Nicky Singer
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