Dass der amerikanische Autor Neal Shusterman auch anders kann, das merkt man in seinem neuen Buch “Kompass ohne Norden”. Der Erfolgsautor der dystopischen “Vollendet”- und “Scythe”-Reihe hat diesmal einen ganz persönlichen Roman geschrieben, in dem er sich dem Thema Schizophrenie widmet. Eine Erkrankung, die sein eigener Sohn hat und die er mit literarischem Anspruch kurzerhand in eine bewegende Geschichte verpackt hat. 2019 wurde das Buch mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis (Preis der Jugendjury) ausgezeichnet. Nun neu als Taschenbuch erschienen. Für Jugendliche ab 14 Jahren und vor allem für Erwachsene.
Die Welt des 15-jährigen Caden steht seit einiger Zeit völlig Kopf. Er hat Albträume. Fühlt sich unruhig. Und er glaubt, dass es da einen Jungen in der Schule gibt, der ihn umbringen will. Etwas, von dem er sich schließlich traut es seinem Vater zu erzählen: “Caden… wenn du ihn nicht kennst und er dich nie bedroht hat, und wenn er dir bloß ein paar Mal im Flur begegnet ist, wieso denkst du dann, dass er dir etwas tun will? Wahrscheinlich kennt er dich überhaupt nicht.” “Ja, du hast recht, ich bin bloß gestresst.” “Wahrscheinlich eine Überreaktion.” “Genau, eine Überreaktion.” Jetzt, nachdem ich es laut ausgesprochen habe, merke ich, wie albern ich mich angehört habe.” (Zitat aus “Kompass ohne Norden” S.22ff) Seine Eltern merken, dass er sich verändert hat in letzter Zeit. Dass er angespannter ist. Sein Vater rät ihm eine Sportart anzufangen; seine Mutter, es doch einmal mit Yoga zu versuchen. Doch in das Laufteam wird Caden gar nicht erst aufgenommen, sondern streunt nur durch die Gegend. Und macht sich viele Gedanken: “Mom redet unten immer noch mit Oma, und allmählich frage ich mich, ob Oma wirklich dran ist oder ob Mom nur so tut — vielleicht spricht sie auch mit jemand anderem, vielleicht über mich, vielleicht verschlüsselt. Aber wieso sollte sie? Das ist doch irre. Nein, sie spricht einfach nur mit Oma. Über Termiten.” (Zitat S.21) Manchmal hat Caden Angst mit seinen Gedanken etwas Schlimmes auslösen zu können. Zum Beispiel ein Erdbeben in China. Er merkt, dass etwas mit ihm nicht stimmt. Doch er kann nichts daran ändern. Auch seinen Mitschülern kann er manchmal gar nicht mehr richtig zuhören, hat den Eindruck, dass sie zeitweise eine ganz andere Sprache sprechen. Bei einem Test im Unterricht kommt er auf eine faszinierende Idee: “Mir kommt der Gedanke, dass ich den Test gar nicht schreiben muss, weil ich mehr weiß als der Lehrer. So viel mehr. […] Ich WEISS, wie das Universum funktioniert. Ich platze praktisch vor Wissen. […] Aber ich muss aufpassen, wen ich wissen lasse, was ich weiß. Nicht alle wollen, dass die Informationen sich verbreiten.” (Zitat S.84ff) Doch bald beginnen seine Eltern einzuschreiten. Schicken ihn zu einem Psychologen, mit dem er über alles sprechen soll. Doch das will Caden nicht. Wie sollte er so jemandem vertrauen können? Schließlich kann er nicht mal mehr seinen Eltern noch vertrauen: “Es kommt mir vor, als wären das gar nicht mein Vater und meine Mutter, sondern bloß Masken meiner Eltern, und ich weiß nicht, wer oder was wirklich darunter steckt. Ich weiß, dass ich ihnen nichts mehr erzählen kann.” (Zitat S.112) Aber dann greifen seine Eltern schließlich zu einem weiteren Schritt, der alles für immer verändern wird…
Das Cover und der Titel von “Kompass ohne Norden” sind bravourös und genau passend zum Kontext gewählt. Erzählt wird der Roman aus der Ich-Perspektive und in relativ kurzen, mit Überschriften versehenen Kapiteln. Cadens Erkrankung zu schildern, das ist Neal Shusterman außerordentlich gut gelungen. Liest man das Vorwort genauer, erkennt man auch rasch, warum: “Jede dritte Familie ist in den USA von psychischen Erkrankungen betroffen. Das weiß ich, weil unsere Familie eine davon ist. Wir haben in vieler Hinsicht das Gleiche durchlebt wie Caden und seine Familie. Ich musste ohnmächtig zusehen, wie ein Mensch, den ich liebe, in die Tiefe sank.” (Zitat S.7) Es ist Neal Shustermans Sohn Brendan, bei dem im Alter von 16 Jahren Schizophrenie festgestellt wurde, der aber seine Krankheit heute unter Kontrolle hat. Im Gegensatz zu einem engen Freund des Autoren — wie dieser im Vorwort ebenfalls erzählt — der sich aufgrund derselben Krankheit das Leben genommen hat. Und deshalb ist der Roman zugleich mit einer Motivation entstanden: “Unsere Hoffnung ist es, dass Kompass ohne Norden all jene trösten kann, die in den Tiefen gewesen sind, indem es sie wissen lässt, dass sie nicht allein sind. Wir hoffen außerdem, dass es auch anderen helfen kann, Mitgefühl zu entwickeln und zu verstehen, wie es tatsächlich ist, die finsteren, unberechenbaren Gewässer der psychischen Krankheit zu befahren.” (Zitat S.8) Auch Zeichnungen seines Sohnes sind in dem Buch mit abgedruckt, die Brendan in seinen dunkelsten Phasen gemalt hat. Die ebenso wie der Text und der bildhafte Erzählstil des Vaters es tun — dem Leser nur noch näher bringen, wie ein Mensch sich fühlen mag, wenn er unter solch einer Krankheit leidet: “Meine Gefühle reden in Zungen. Freude wandelt sich in Wut wandelt sich in Angst wandelt sich in ironische Belustigung, so als würdest du mit ausgebreiteten Armen aus einem Flugzeug springen, zweifelsfrei überzeugt, dass du fliegen kannst, und dann plötzlich merken, dass du es doch nicht kannst und nicht nur keinen Fallschirm hast, sondern auch keine Klamotten an, und dass sich die Leute unten am Boden alle Ferngläser vor die Augen halten und lachen, während du deinem höchst peinlichen Ende entgegen stürzt.” (Zitat S.17) Mitzuerleben wie Cadens Verfassung sich mehr und mehr verschlechtert und er selbst daran gar nichts ändern kann und sich immer mehr in eine Sackgasse gedrängt fühlt, das liest sich unheimlich bewegend: “Inzwischen sind es viele. Schüler mit bösen Absichten. Ich begegne ihnen im Korridor. Mit einem fing es an, aber es hat sich ausgebreitet wie ein Krankheit. Wie ein Pilz. Sie senden einander Geheimsignale, wenn sie von einem Unterricht zum anderen gehen. Sie schmieden Pläne — und weil ich es weiß, bin ich ein Ziel.” (Zitat S.118) Parallel zu den Erlebnissen der “Jetzt”-Zeit gesellen sich jedoch immer öfter Kapitel, in denen Caden sich auf einem Piratenschiff befindet. Mitten auf dem Meer. Auf der Fahrt zum sogenannten Challengertief, der tiefsten, bekanntesten Stelle der Weltmeere. Unterwegs passieren ihm die verrücktesten Dinge und er begegnet auf diesem Schiff den unmöglichsten Figuren, wie dem Kapitän und dem Papagei, die sich gegenseitig aus dem Weg räumen wollen, oder dem Steuermann oder Kalliope, die Galionsfigur des Schiffes. Die Idee an sich, eine Parallelwelt zu erschaffen und diese ausufernd zu beschreiben, fand ich so nicht schlecht, jedoch muss ich gestehen, dass ich die Abschnitte der “Realität” am Anfang immer lieber gelesen habe, als die Ereignisse auf dem Schiff, die abstrus, verwirrend (manchmal ein bisschen langweilig) wirken und deren Einordnung zunächst ein bisschen schwierig ist. “Zwei Dinge weißt du. Erstens: Du warst da. Zweitens: du kannst nicht da gewesen sein. Diese beiden unvereinbaren Wahrheiten gleichzeitig festzuhalten, erfordert Jongliergeschick. […] Dennoch gibt es Nächte, in denen du nicht schlafen kannst, weil die Dinge, die du jonglierst, deine volle Konzentration erfordern. Du hast Angst, dass dir ein Ball herunterfallen könnte, und was dann? Weiter als bis zu diesem Augenblick wagt sich deine Fantasie nicht. Denn just in diesem Augenblick wartet der Kapitän. Er ist geduldig. Und er wartet. Immer. […] Diese Reise hat mit ihm begonnen, du vermutest, sie wird auch mit ihm enden…” (Zitat S.11ff) Sind das Cadens Träume? Sieht er/erlebt er diese Dinge wirklich während des Tages? Oder ist das alles nur sinnbildlich? Es dauert eine Weile bis man die Zusammenhänge schließlich begreift und das literarische, erstaunliche Mittel erkennt, das Neal Shusterman verwendet. Das Ende ist dramatisch, fesselnd und macht Hoffnung, wenn auch es realistisch bleibt. In einem Nachwort von Neal Shusterman erfährt man noch mehr zu den Hintergründen des Buches.
Fazit: Eine Geschichte, auf die man sich einlassen muss, die dann aber trotz einer zunächst etwas zähem Nebengeschichte lohnenswert ist!
Dir hat der Erzählstil von Neal Shusterman gefallen? Dann lies noch seine anderen Bücher. Bekannt geworden ist er mit seiner “Vollendet”-Reihe (Band 1: “Vollendet: Die Flucht”, Band 2: “Vollendet: Der Aufstand”, Band 3: “Vollendet: Die Rache”). Seine neueste Reihe ist die “Scythe”-Reihe (Band 1: “Scythe: Die Hüter des Todes” und Band 2: “Scythe: Der Zorn der Gerechten” und “Scythe: Das Vermächtnis der Ältesten”). Für jüngere Leser (ab 11 Jahren) hat er noch die “Tesla”-Reihe geschrieben: “Teslas unvorstellbar geniales und verblüffend katastrophales Vermächtnis” (Band 1), “Teslas irrsinnig böse und atemberaubend revolutionäre Verschwörung” (Band 2) und “Teslas grandios verrückte und komplett gemeingefährliche Weltmaschine” (Band 3). Du möchtest mehr über das Thema Schizophrenie lesen? Dann greif zu “Schizo: Trau niemandem. Vor allem nicht dir selbst” von Nic Sheff oder dem grandiosen “Wicker King” von Kayla Ancrum. Eine weibliche Figur als Protagonist findest du in “Von der Wahrscheinlichkeit, dass es dich nicht gibt” von Francesca Zappia und in “Helle Sonne, dunkler Schatten” von Ruth White. Eine gewisse Art von Schizophrenie findest du ebenso in “Der Scherbensammler” von Monika Feth, in “Scherbenmädchen” von Liz Coley (herausragend!) und in “Ich und mein anderes Leben” von Katrina Leno. Die Personifizierung einer Krankheit kannst du auch in “Weg mit Knut” von Jesper Wung-Sung entdecken. Wenn im eigenen Kopf Merkwürdiges vonstatten geht, dann wäre — wenn du noch etwas mehr Spannung möchtest — ebenfalls das neue Buch “Thalamus” von Ursula Poznanski etwas für dich.
Bibliografische Angaben: Verlag: dtv ISBN: 978-3-423-62719-1 Erscheinungsdatum: 19.Juni 2020 Einbandart: Taschenbuch Preis: 9,95€ Seitenzahl: 336 Übersetzer: Ingo Herzke Illustrator: Brendan Shusterman Originaltitel: "Challenger Deep" Originalverlag: HarperTeen Amerikanisches Originalcover: Amerikanischer Trailer:
Ein Bericht über Neil Shusterman und sein Buch (auf Englisch):
Kasimiras Bewertung:
(4 von 5 möglichen Punkten)
------------------------------------ Amerikanisches Originalcover: Homepage von Neal Shusterman