Neal Shusterman — Kompass ohne Norden

Kasimira19.Juni 2020

Dass der ame­ri­ka­ni­sche Autor Neal Shus­ter­man auch anders kann, das merkt man in sei­nem neu­en Buch “Kom­pass ohne Nor­den”. Der Erfolgs­au­tor der dys­to­pi­schen “Voll­endet”- und “Scy­the”-Rei­he hat dies­mal einen ganz per­sön­li­chen Roman geschrie­ben, in dem er sich dem The­ma Schi­zo­phre­nie wid­met. Eine Erkran­kung, die sein eige­ner Sohn hat und die er mit lite­ra­ri­schem Anspruch kur­zer­hand in eine bewe­gen­de Geschich­te ver­packt hat. 2019 wur­de das Buch mit dem Deut­schen Jugend­li­te­ra­tur­preis (Preis der Jugend­ju­ry) aus­ge­zeich­net. Nun neu als Taschen­buch erschie­nen. Für Jugend­li­che ab 14 Jah­ren und vor allem für Erwachsene.

Die Welt des 15-jäh­ri­gen Caden steht seit eini­ger Zeit völ­lig Kopf. Er hat Alb­träu­me. Fühlt sich unru­hig. Und er glaubt, dass es da einen Jun­gen in der Schu­le gibt, der ihn umbrin­gen will. Etwas, von dem er sich schließ­lich traut es sei­nem Vater zu erzäh­len: “Caden… wenn du ihn nicht kennst und er dich nie bedroht hat, und wenn er dir bloß ein paar Mal im Flur begeg­net ist, wie­so denkst du dann, dass er dir etwas tun will? Wahr­schein­lich kennt er dich über­haupt nicht.” “Ja, du hast recht, ich bin bloß gestresst.” “Wahr­schein­lich eine Über­re­ak­ti­on.” “Genau, eine Über­re­ak­ti­on.” Jetzt, nach­dem ich es laut aus­ge­spro­chen habe, mer­ke ich, wie albern ich mich ange­hört habe.” (Zitat aus “Kom­pass ohne Nor­den” S.22ff) Sei­ne Eltern mer­ken, dass er sich ver­än­dert hat in letz­ter Zeit. Dass er ange­spann­ter ist. Sein Vater rät ihm eine Sport­art anzu­fan­gen; sei­ne Mut­ter, es doch ein­mal mit Yoga zu ver­su­chen. Doch in das Lauf­team wird Caden Neal Shusterman - Kompass ohne Nordengar nicht erst auf­ge­nom­men, son­dern streunt nur durch die Gegend. Und macht sich vie­le Gedan­ken: Mom redet unten immer noch mit Oma, und all­mäh­lich fra­ge ich mich, ob Oma wirk­lich dran ist oder ob Mom nur so tut — viel­leicht spricht sie auch mit jemand ande­rem, viel­leicht über mich, viel­leicht ver­schlüs­selt. Aber wie­so soll­te sie? Das ist doch irre. Nein, sie spricht ein­fach nur mit Oma. Über Ter­mi­ten.” (Zitat S.21) Manch­mal hat Caden Angst mit sei­nen Gedan­ken etwas Schlim­mes aus­lö­sen zu kön­nen. Zum Bei­spiel ein Erd­be­ben in Chi­na. Er merkt, dass etwas mit ihm nicht stimmt. Doch er kann nichts dar­an ändern. Auch sei­nen Mit­schü­lern kann er manch­mal gar nicht mehr rich­tig zuhö­ren, hat den Ein­druck, dass sie zeit­wei­se eine ganz ande­re Spra­che spre­chen. Bei einem Test im Unter­richt kommt er auf eine fas­zi­nie­ren­de Idee: “Mir kommt der Gedan­ke, dass ich den Test gar nicht schrei­ben muss, weil ich mehr weiß als der Leh­rer. So viel mehr. […] Ich WEISS, wie das Uni­ver­sum funk­tio­niert. Ich plat­ze prak­tisch vor Wis­sen. Neal Shusterman - Kompass ohne Norden[…] Aber ich muss auf­pas­sen, wen ich wis­sen las­se, was ich weiß. Nicht alle wol­len, dass die Infor­ma­tio­nen sich ver­brei­ten.” (Zitat S.84ff) Doch bald begin­nen sei­ne Eltern ein­zu­schrei­ten. Schi­cken ihn zu einem Psy­cho­lo­gen, mit dem er über alles spre­chen soll. Doch das will Caden nicht. Wie soll­te er so jeman­dem ver­trau­en kön­nen? Schließ­lich kann er nicht mal mehr sei­nen Eltern noch ver­trau­en: “Es kommt mir vor, als wären das gar nicht mein Vater und mei­ne Mut­ter, son­dern bloß Mas­ken mei­ner Eltern, und ich weiß nicht, wer oder was wirk­lich dar­un­ter steckt. Ich weiß, dass ich ihnen nichts mehr erzäh­len kann.” (Zitat S.112) Aber dann grei­fen sei­ne Eltern schließ­lich zu einem wei­te­ren Schritt, der alles für immer ver­än­dern wird…

Das Cover und der Titel von “Kom­pass ohne Nor­den” sind bra­vou­rös und genau pas­send zum Kon­text gewählt. Erzählt wird der Roman aus der Ich-Per­spek­ti­ve und in rela­tiv kur­zen, mit Über­schrif­ten ver­se­he­nen Kapi­teln. Cadens Erkran­kung zu schil­dern, das ist Neal Shus­ter­man außer­or­dent­lich gut gelun­gen. Liest man das Vor­wort genau­er, erkennt man auch rasch, war­um: “JeNeal Shusterman - Kompass ohne Nordende drit­te Fami­lie ist in den USA von psy­chi­schen Erkran­kun­gen betrof­fen. Das weiß ich, weil unse­re Fami­lie eine davon ist. Wir haben in vie­ler Hin­sicht das Glei­che durch­lebt wie Caden und sei­ne Fami­lie. Ich muss­te ohn­mäch­tig zuse­hen, wie ein Mensch, den ich lie­be, in die Tie­fe sank.” (Zitat S.7) Es ist Neal Shus­ter­mans Sohn Brendan, bei dem im Alter von 16 Jah­ren Schi­zo­phre­nie fest­ge­stellt wur­de, der aber sei­ne Krank­heit heu­te unter Kon­trol­le hat. Im Gegen­satz zu einem engen Freund des Autoren — wie die­ser im Vor­wort eben­falls erzählt — der sich auf­grund der­sel­ben Krank­heit das Leben genom­men hat. Und des­halb ist der Roman zugleich mit einer Moti­va­ti­on ent­stan­den: Unse­re Hoff­nung ist es, dass Kom­pass ohne Nor­den all jene trös­ten kann, die in den Tie­fen gewe­sen sind, indem es sie wis­sen lässt, dass sie nicht allein sind. Wir hof­fen außer­dem, dass es auch ande­ren hel­fen kann, Mit­ge­fühl zu ent­wi­ckeln und zu ver­ste­hen, wie es tat­säch­lich ist, die fins­te­ren, unbe­re­chen­ba­ren Gewäs­ser der psy­chi­schen Krank­heit zu befah­ren.” (Zitat S.8) Auch Zeich­nun­gen sei­nes Soh­nes sind in dem Buch mit abge­druckt, die Brendan in sei­nen dun­kels­ten Pha­sen gemalt hat. Die eben­so wie der Text und der bildNeal Shusterman - Kompass ohne Nordenhaf­te Erzähl­stil des Vaters es tun — dem Leser nur noch näher brin­gen, wie ein Mensch sich füh­len mag, wenn er unter solch einer Krank­heit lei­det“Mei­ne Gefüh­le reden in Zun­gen. Freu­de wan­delt sich in Wut wan­delt sich in Angst wan­delt sich in iro­ni­sche Belus­ti­gung, so als wür­dest du mit aus­ge­brei­te­ten Armen aus einem Flug­zeug sprin­gen, zwei­fels­frei über­zeugt, dass du flie­gen kannst, und dann plötz­lich mer­ken, dass du es doch nicht kannst und nicht nur kei­nen Fall­schirm hast, son­dern auch kei­ne Kla­mot­ten an, und dass sich die Leu­te unten am Boden alle Fern­glä­ser vor die Augen hal­ten und lachen, wäh­rend du dei­nem höchst pein­li­chen Ende ent­ge­gen stürzt.” (Zitat S.17) Mit­zu­er­le­ben wie Cadens Ver­fas­sung sich mehr und mehr ver­schlech­tert und er selbst dar­an gar nichts ändern kann und sich immer mehr in eine Sack­gas­se gedrängt fühlt, das liest sich unheim­lich bewe­gend: “Inzwi­schen sind es vie­le. Schü­ler mit bösen Absich­ten. Ich begeg­ne ihnen im Kor­ri­dor. Mit einem fing es an, aber es hat sich aus­ge­brei­tet wie ein Krank­heit. Wie ein Pilz. Sie sen­den ein­an­der Geheim­si­gna­le, wenn sie von einem Unter­richt zum ande­ren gehen. Sie schmie­den Plä­ne — und weil ich es weiß, bin ich ein Ziel.” (Zitat S.118) ParNeal Shusterman - Kompass ohne Nordenallel zu den Erleb­nis­sen der “Jetzt”-Zeit gesel­len sich jedoch immer öfter Kapi­tel, in denen Caden sich auf einem Pira­ten­schiff befin­det. Mit­ten auf dem Meer. Auf der Fahrt zum soge­nann­ten Chal­len­ger­tief, der tiefs­ten, bekann­tes­ten Stel­le der Welt­mee­re. Unter­wegs pas­sie­ren ihm die ver­rück­tes­ten Din­ge und er begeg­net auf die­sem Schiff den unmög­lichs­ten Figu­ren, wie dem Kapi­tän und dem Papa­gei, die sich gegen­sei­tig aus dem Weg räu­men wol­len, oder dem Steu­er­mann oder Kal­lio­pe, die Gali­ons­fi­gur des Schif­fes. Die Idee an sich, eine Par­al­lel­welt zu erschaf­fen und die­se aus­ufernd zu beschrei­ben, fand ich so nicht schlecht, jedoch muss ich geste­hen, dass ich die Abschnit­te der “Rea­li­tät” am Anfang immer lie­ber gele­sen habe, als die Ereig­nis­se auf dem Schiff, die abstrus, ver­wir­rend (manch­mal ein biss­chen lang­wei­lig) wir­ken und deren Ein­ord­nung zunächst ein biss­chen schwie­rig ist. “Zwei Din­ge weißt du. Ers­tens: Du warst da. Zwei­tens: du kannst nicht da gewe­sen sein. Die­se bei­den unver­ein­ba­ren Wahr­hei­ten gleich­zei­tig fest­zu­hal­ten, erfor­dert Jon­glier­ge­schick. […] Den­noch gibt es Näch­te, in denen du nicht schla­fen kannst, weil die Din­ge, die du jon­glierst, dei­ne vol­le Kon­zen­tra­ti­on erfor­dern. Du hast Angst, dass dir ein Ball her­un­ter­fal­len könn­te, und was dann? Wei­ter als bis zu die­sem Augen­blick wagt sich dei­ne Neal Shusterman - Kompass ohne NordenFan­ta­sie nicht. Denn just in die­sem Augen­blick war­tet der Kapi­tän. Er ist gedul­dig. Und er war­tet. Immer. […] Die­se Rei­se hat mit ihm begon­nen, du ver­mu­test, sie wird auch mit ihm enden…” (Zitat S.11ff) Sind das Cadens Träu­me? Sieht er/erlebt er die­se Din­ge wirk­lich wäh­rend des Tages? Oder ist das alles nur sinn­bild­lich? Es dau­ert eine Wei­le bis man die Zusam­men­hän­ge schließ­lich begreift und das lite­ra­ri­sche, erstaun­li­che Mit­tel erkennt, das Neal Shus­ter­man ver­wen­det. Das Ende ist dra­ma­tisch, fes­selnd und macht Hoff­nung, wenn auch es rea­lis­tisch bleibt. In einem Nach­wort von Neal Shus­ter­man erfährt man noch mehr zu den Hin­ter­grün­den des Buches.

Fazit: Eine Geschich­te, auf die man sich ein­las­sen muss, die dann aber trotz einer zunächst etwas zähem Neben­ge­schich­te loh­nens­wert ist!

Dir hat der Erzähl­stil von Neal Shus­ter­man gefal­len? Dann lies noch sei­ne ande­ren Bücher. Bekannt gewor­den ist er mit sei­ner “Voll­endet”-Rei­he (Band 1: Voll­endet: Die Flucht”, Band 2: “Voll­endet: Der Auf­stand”, Band 3: “Voll­endet: Die Rache”). Sei­ne neu­es­te Rei­he ist die “SLesealternativencythe”-Rei­he (Band 1: “Scy­the: Die Hüter des Todes” und Band 2: “Scy­the: Der Zorn der Gerech­ten” und “Scy­the: Das Ver­mächt­nis der Ältes­ten”). Für jün­ge­re Leser (ab 11 Jah­ren) hat er noch die “Tes­la”-Rei­he geschrie­ben: “Tes­las unvor­stell­bar genia­les und ver­blüf­fend kata­stro­pha­les Ver­mächt­nis” (Band 1), “Tes­las irr­sin­nig böse und atem­be­rau­bend revo­lu­tio­nä­re Ver­schwö­rung” (Band 2) und “Tes­las gran­di­os ver­rück­te und kom­plett gemein­ge­fähr­li­che Welt­ma­schi­ne” (Band 3). Du möch­test mehr über das The­ma Schi­zo­phre­nie lesen? Dann greif zu “Schi­zo: Trau nie­man­dem. Vor allem nicht dir selbst” von Nic Sheff oder dem gran­dio­sen “Wicker King” von Kay­la Ancrum. Eine weib­li­che Figur als Prot­ago­nist fin­dest du in “Von der Wahr­schein­lich­keit, dass es dich nicht gibt” von Fran­ce­s­ca Zap­pia und in “Hel­le Son­ne, dunk­ler Schat­ten” von Ruth White. Eine gewis­se Art von Schi­zo­phre­nie fin­dest du eben­so in “Der Scher­bensamm­ler” von Moni­ka Feth, in “Scher­ben­mäd­chen” von Liz Coley (her­aus­ra­gend!) und in Ich und mein ande­res Leben” von Kat­ri­na Leno. Die Per­so­ni­fi­zie­rung einer Krank­heit kannst du auch in Weg mit Knut” von Jes­per Wung-Sung ent­de­cken. Wenn im eige­nen Kopf Merk­wür­di­ges von­stat­ten geht, dann wäre — wenn du noch etwas mehr Span­nung möch­test — eben­falls das neue Buch “Tha­la­mus” von Ursu­la Pozn­an­ski etwas für dich.

Bibliografische Angaben:
Schilder was wo wer wannVerlag: dtv
ISBN: 978-3-423-62719-1
Erscheinungsdatum: 19.Juni 2020
Einbandart: Taschenbuch
Preis: 9,95€ 
Seitenzahl: 336
Übersetzer: Ingo Herzke
Illustrator: Brendan Shusterman
Originaltitel: "Challenger Deep" 
Originalverlag: HarperTeen

Amerikanisches Originalcover:
Neal Shusterman - Kompass ohne Norden











Amerikanischer Trailer:
 
Ein Bericht über Neil Shusterman und sein Buch (auf Englisch): 
 

Kasimiras Bewertung:

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(4 von 5 mög­li­chen Punkten)

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Amerikanisches Originalcover: Homepage von Neal Shusterman

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