Die deutsche Autorin Nana Rademacher hat mit “Immer diese Herzscheiße” ihren zweiten Jugendbuchroman veröffentlicht, der seine Leser in die soziale Unterschicht eines in Stuttgart lebenden Mädchens entführt. Eine Geschichte über Freundschaft, vermeintliche Chancenlosigkeit und der einer ersten Liebe. Und der Botschaft: manchmal kannst du mehr, als du denkst! Unglaublich authentisch und sehr bewegend erzählt. Ein rundum gelungenes Leseerlebnis! Für Jugendliche ab 14 Jahren und interessierte Erwachsene.
Stuttgart. Im Stadtviertel Hallschlag. Die 15-jährige Sarah lebt bei ihren Großeltern, seit ihre Mutter die Familie verlassen hat. Den Vater kennt sie nicht. Ihr Bruder, der früher auch ständig Mist baute, ist erwachsen geworden und zum Spießer mutiert und führt ein geregeltes, langweiliges Spießerleben. Sarahs Welt hingegen ist eine einzige Party. Sie lügt, trinkt, klaut und das alles mit ihrer besten Freundin Sonja, die alle nur Dixi nennen. Zusammen sind sie unschlagbar: “Ich bin das Universum!”, schrie ich. Wir rannten immer weiter und brüllten rum, damit uns die ganze Stadt hören konnte […]. Wenn ein Auto gekommen wäre, wären wir nicht ausgewichen. Wir waren nämlich unsterblich. Aber es kam leider kein Auto.” (Zitat S.117) Dixi wohnt im Hochhaus gegenüber. Da werden schon mal die Taschenlampen abends herausgeholt, um sich Zeichen zu geben, wenn das Handyguthaben leer ist und sie noch mal mit ihrer Clique losziehen wollen. Die Schule findet Sarah absolut langweilig. Sie mag es nicht, wenn andere über sie bestimmen und sie auch noch so früh aufstehen muss. Jemandem wie ihr gibt man sowieso keine Chance. Daher ist ihr Berufswunsch Hartz IV und Schwarzarbeit. Etwas anderes kann die 15-Jährige, deren Großeltern ebenfalls auf jeden Cent schauen müssen, sich nicht vorstellen. “Ich an der Uni, das wär ja, als ob man Senf auf Marmelade schmiert.” (Zitat S.23) Doch dann wird Sarah von ihrem Deutschlehrer erwischt wie sie einem Schüler einen Joint verkauft. “Wenn es nur Gummibärchen gewesen wären.. Aber Sarah, was du verkauft hast, waren Drogen. […] Und nicht nur das, Sarah, es war ein sehr junger Schüler.” “Der ist vierzehn! Der raucht, seitdem er laufen kann.” “Und es war in der Schule, Sarah.” “Aber in der Pause. Und es war nur ein Joint.” (Zitat S.7ff) Aber Herr Straubmann kennt keine Gnade. Oder zumindest nur ein bisschen. Denn um einen Schulverweis (was sie ihren Großeltern auf k
einen Fall zumuten will) kommt sie nur herum, wenn sie für den Rest vom Schuljahr an einem Theaterprojekt mitarbeitet. Darauf hat Sarah natürlich überhaupt keinen Bock. Unerwartet trifft sie dort jedoch Leute, die fortan ihr Leben verändern werden. Allen voran Paul, in den sie sich doch eigentlich gar nicht verlieben wollte… Aber was ist, wenn ihre neue Welt und ihre alte aufeinander treffen werden? Kann das gut gehen? Vor allem Dixi ist mit Sarahs neuem Leben gar nicht einverstanden…
“Immer diese Herzscheiße” wird — bis auf das letzte Kapitel — durchgehend aus Sarahs Sicht in der Ich-Perspektive erzählt. Ein Mädchen, das am Rande der Gesellschaft lebt, regelmäßig klaut und keine wirklichen Ziele im Leben hat, weil sie nicht glaubt, dass sie irgendwelche Chancen bekommen wird. Die sich nicht bemüht, weil es sowieso nichts bringt: “Das echte Leben ist ganz anders. Im echten Leben gibt’s kein Happy End. Das echte Leben ist eine einzige große Herzscheiße mit ein paar Eimern voller Glück. Nur dass ich noch nie in einen reingestolpert war, sondern immer dran vorbeilief.” (Zitat S.176) Mitzuerleben, wie sie in der Theatergruppe eine Chance bekommt und diese schließlich nutzt, liest sich sehr ergreifend. Aber auch ihren inneren Zwiespalt nachzuempfinden, wie sie mit ihren neuen und alten Freunden umgehen soll, hat Nana Rademacher gut getroffen und mit Sarah einen sehr erfrischenden Charakter geschaffen. Eine Protagonistin, die sagt, was sie denkt und durchgehend glaubwürdig ist. Die zwar eine raue Schale, aber einen weichen Kern hat, auf den man in manchen Momenten Einblick gewährt bekommt (wie zum Beispiel das Geld, das ihre Oma ihr zusteckt, das Sarah heimlich wieder in die Haushaltsdose packt, weil ihre Großeltern ohnehin so wenig haben). Auch die Nebencharaktere sind in “Immer diese Herzscheiße” richtig gut skizziert. Sarahs cooler Lehrer, der sie als Strafarbeit — weil sie und Dixi ihm ein paar Pornos unterschieben wollten, um ihn von dem Theaterkram abzulenken — die beiden Mädchen prompt eine Inhaltsangabe und eine Interpretation eben jener Werke schreiben lässt. Oder Paul mit seiner typischen, liebeswürdigen Paul-Art und seine Eltern, die so anders sind und zum Beispiel ihre Wände regelmäßig mit philosophischen Sprüchen vollschreiben. Die Liebesgeschichte ist dezent, völlig unkitschig und sehr sensibel in den Roman eingearbeitet: “Haben dir die Blumen gefallen?” Eigentlich wollte ich Nein sagen, was zwar nicht stimmte, aber er sollte nicht merken, dass ich ihn irgendwie mochte, weil,
ich wollte ihn ja überhaupt nicht mögen. Ich wollte niemanden mögen, der seltsame Stoffhosen trug und alte Bücher toll fand. Er war so anders als alle, die ich kannte. Aber dann guckte Paul so verzweifelt auf seinen Sattel, als ob da die Antwort stehen würde, und darum sagte ich: “Vielleicht..” (Zitat S.93) Die Sprache ist sehr locker und teilweise jugendsprachlich, aber immer in dem passenden Ton und manche Textstellen sind mit optisch fett gedruckten Sätzen oder Wörtern in größerer Schrift versehen. Der Titel: passt wie die Faust aufs Auge. Der Schluss: treffend und mit einem schönen Wohlfühl-Ende, bei dem sogar die Starköchin Sarah Wiener eine kleine (mit ihr abgesprochene) Rolle spielt.
Fazit: Eine “Milieustudie”, die sich zu lesen lohnt und nicht nur Hoffnung macht, sondern auch jede Menge Lesefreude verspricht!
Wenn dir “Immer diese Herzscheiße” gut gefallen hat, kannst du noch den ersten (unabhängigen) Jugendroman von Nana Rademacher lesen: “Wir waren hier”. Ein dystopischer Roman, der in Berlin spielt und sehr bewegend geschrieben ist. Über ein Leben am Rande der Gesellschaft gibt es mittlerweile einige interessante Bücher: beispielsweise “Der Penner im Pyjama ist mein Papa” von Elisabeth Schmied und “Und wenn schon” von Karen-Suan Fessel, in welchem eine Familie von Hartz IV leben muss. In einer Sozialwohnung leben auch die Hauptpersonen in “Das Glück hat vier Farben” von Lisa Moore und “Die Ballade von der gebrochenen Nase” von Arne Svingen (hier hat der Junge ein besonderes Talent, ebenso wie Sarah). Plötzliche Armut der Mittelschicht, das erfahren die Protagonisten in “Jenna-Belle wohnt hier nicht mehr” von Alyssa Brugmann und in “No place, no home” von Reality-Bestseller-Autor Morton Rhue. Eine richtig tolle Geschichte ist auch “Ghetto Bitch” von Gernot Gricksch, hier wird ein reiches, verwöhntes Mädchen über Nacht durch die Schulden des plötzlich verstorbenen Vaters in eine völlig andere (arme) Welt katapultiert. Ein Roman, der nebenbei mit typischen Arm-Reich-Klischees aufräumt und recht humorvoll zu lesen ist. Soziale Unterschiede einer entstehenden Liebe, das findest du in “8 Tage im Juni” von Brigitte Glaser. Eine sehr gute Lesealternative ist ebenfalls “Befreiungsschlag” von Stefan Gemmel & Uwe Zissener — ein Buch, in dem der Protagonist eine ganz besondere Wandlung durchmacht und einen besseren Weg einschlägt. Hier wird der Fokus allerdings noch etwas mehr auf das Thema “Gewalt” gerichtet. Ein Lehrer, der sich einem Mädchen annimmt, so wie Herr Straubmann es bei Sarah tut, das findest du — wenn auch mit einem anderen inhaltlichen Hintergrund (Legasthenie) — bei “Wie ein Fisch im Baum” von Lynda Mullaly Hunt.
Bibliografische Angaben:Verlag: Ravensburger ISBN: 978-3-473-40137-6 Erscheinungsdatum: 23.August 2017 Einbandart: Hardcover Preis: 15,00€ Seitenzahl: 320 Übersetzer: - Originaltitel: - Originalverlag: - Originalcover: -
Kasimiras Bewertung:
(5 von 5 möglichen Punkten)