Mercedes Helnwein — (Not so) Amazing Grace

Kasimira23.Juli 2022

Die öster­rei­chi­sche Autorin und bil­den­de Künst­le­rin Mer­ce­des Heln­wein hat ein Jugend­buch geschrie­ben, das auf jeden Fall abseits des Main­streams liegt. Sie setzt eine Anti-Hel­din in den Mit­tel­punkt ihrer Coming-of-Age-Geschich­te, eine Außen­sei­te­rin, die jeg­li­che Kon­tak­te ver­wei­gert und lie­ber für sich blei­ben will und dann doch an einen Jun­gen gerät, der ihre Gefüh­le gehö­rig durch­ein­an­der­bringt. Schräg, rot­zig frech und anders. Defi­ni­tiv anders! Mit her­vor­ra­gen­den Cha­rak­ter­skiz­zie­run­gen und einer unver­gess­li­chen Prot­ago­nis­tin, die man dann doch irgend­wie (auf den zwei­ten Blick) ret­tungs­los ins Herz schließt. Für Jugend­li­che ab 14 und Erwach­se­ne, die außer­ge­wöhn­li­che Bücher lieben.

Die 15-jäh­ri­ge Grace geht auf ein Inter­nat mit­ten in den Sümp­fen Flo­ri­das. Freun­de hat sie schon seit der Grund­schu­le kei­ne mehr. Eine Ent­schei­dung, die sie bewusst so getrof­fen hat. “Als ich auf die Mit­tel­schu­le gekom­men war, war mir alles zu blöd gewor­den. Plötz­lich wur­den Jungs und Mäd­chen durch Hor­mo­ne und bestimm­te Kör­per­tei­le in männ­li­che und weib­li­che Kate­go­rien getrennt.” (Zitat aus “(Not so) Ama­zing Grace” S.91) Alle ver­hal­ten sich anders, sind im stän­di­gen Wett­be­werb zuein­an­der. Das ist Grace zu anstren­gend, auf die­ses Geha­be hat sieKasimira kei­nen Bock. “Allein der Gedan­ke an den Ener­gie­auf­wand, der nötig wäre, um vor ihnen mög­lichst nor­mal rüber­zu­kom­men, erschöpf­te mich. Ich müss­te eine Rie­sen­show abzie­hen, dass ich eine von ihnen war, mit den glei­chen Pro­ble­men, Fan­ta­sien, Träu­men und Mög­lich­kei­ten.” (Zitat S.92) Des­halb hält sie die ande­ren mit ihrer abwei­sen­den, direk­ten und scho­nungs­lo­sen Art auf Abstand. Liest viel, schreibt Gedich­te und Roma­ne und Tage­buch und manch­mal auch eine E‑Mail an den Autoren Ste­phen King, die sie aber nie abschickt, weil sie sei­ne Adres­se nicht kennt. Eine Aus­nah­me ist ihr Leh­rer Mr. Sor­ren­ti­no. In die­sen hat sie sich tat­säch­lich ver­liebt. “Ich dach­te nicht bloß, wir wären See­len­ver­wand­te, ich wuss­te es. Ich wuss­te es ein­fach. Wenn man Din­ge die­ser Grö­ßen­ord­nung weiß, dann müs­sen sie nicht zwangs­läu­fig Sinn erge­ben. Schließ­lich ist Lie­be eine höhe­re Wahr­heit als Logis­tik, und im Grun­de konn­te mich jeder mal, Kasimirader damit ein Pro­blem hat­te. Lie­be ist Lie­be. Dage­gen war alles ande­re unwich­tig.” (Zitat S.8) Sie ist über­zeugt, dass es Mr. Sor­ren­ti­no genau­so geht. Dass er es nur nicht all­zu deut­lich zei­gen kann, weil er ja ihr Leh­rer ist. “Auch Mr. Sor­ren­ti­no spür­te unse­re beson­de­re Ver­bin­dung, das wuss­te ich genau. Ich wuss­te, dass ich kei­ne Wahn­vor­stel­lun­gen hat­te, weil es, obwohl wir unse­re Gefüh­le für­ein­an­der nicht direkt öffent­lich zum Aus­druck brach­ten (was de fac­to total ille­gal gewe­sen wäre), Hin­wei­se gab, auf die sich mei­ne unwei­ger­li­chen Schluss­fol­ge­run­gen grün­de­ten.” (Zitat S.8) Manch­mal setzt er beson­de­re Kom­men­ta­re unter ihre Klau­su­ren, lächelt ihr im Klas­sen­zim­mer zu oder gibt ihr High-Fives. Des­halb ist Grace umso ent­setz­ter, als Mr.Sorrentino ihr eines Tages sei­ne Lebens­ge­fähr­tin vor­stellt. Die Frau, mit der er auf ein­mal sogar ver­lobt zu sein scheint und die auch ein paar Ver­tre­tungs­stun­den an der Schu­le geben soll. “Wegen ihres brei­ten Lächelns waren ihre Lip­pen zu Kasimiraschma­len Lini­en über das gan­ze Gesicht gezo­gen, und ihre blas­spin­ke Lip­gloss­schmie­re glit­zer­te im Licht.” (Zitat S.10) Grace kann es nicht glau­ben und lei­det unter hef­tigs­tem Lie­bes­kum­mer. Um sich abzu­len­ken, hilft sie einem neu­en Mit­schü­ler namens Wade, der von ein paar Jungs ver­prü­gelt zu wer­den droht und schießt einem von ihnen mit einer Stein­schleu­der ins Gesicht. “Alles, was ich gewollt hat­te, war gewe­sen, Derek ins Gesicht zu schie­ßen, weil er ein Wich­ser ers­ter Klas­se war. Es hat­te mich von Mr. Sor­ren­ti­no ablen­ken sol­len — etwas, wodurch ich mich bes­ser fühl­te. Aber das war gründ­lich in die Hose gegan­gen. Irgend­wie war ich nun mit die­sem schwit­zen­den, atmen­den Frem­den, der ein Jun­ge war und des­sen Ellen­bo­gen bereits zwei­mal in mei­nen Arm gesto­ßen waren, weil er nicht still sit­zen konn­te, in einem Team gelan­det. Allein bei der Vor­stel­lung wur­de mir schlecht.” (Zitat S.35) Denn Wade lässt irgend­wie nicht locker und möch­te ger­ne mit ihr Kasimirabefreun­det sein. Und nicht nur das…

Das Cover wirkt knal­lig, fast alt­mo­disch und doch irgend­wie fas­zi­nie­rend. Jedoch fehlt auf dem Buch, wenn schon nicht auf der Rück­sei­te, dann doch wenigs­tens im Innen­teil ein genaue­rer Klap­pen­text. Der Inhalt in der Ver­lags­vor­schau hör­te sich näm­lich sehr inter­es­sant an, dar­an kom­men die weni­gen Bruch­stü­cke, die über “(Not so) Ama­zing Grace” auf und im Buch ver­ra­ten wer­den, nicht an. Hier bleibt nur zu hof­fen, dass sich man­cher Leser auf den Roman den­noch ein­lässt. Denn zwi­schen den Buch­de­ckeln erwar­tet einen eine ganz außer­ge­wöhn­li­che Prot­ago­nis­tin und Ich-Erzäh­le­rin namens Grace, die man ein­fach erlebt haben muss: “Ich aß immer das Fal­sche. Scheiß drauf. Wenn mein Leben eh schon zum Kot­zen ist, esse ich nicht oben­drein auch noch Salat.” (Zitat S.53) Ein Mäd­chen, die sagt, was sie denkt, sich um kei­ner­lei Kon­ven­tio­nen schert und ein­fach ihr DinKasimirag durch­zieht. Es sogar wagt ihren Leh­rer Mr. Sor­ren­ti­no zur Rede zu stel­len, als die­ser ihr sei­ne Ver­lob­te prä­sen­tiert: “Sind Sie wirk­lich mit die­ser Frau zusam­men?”, frag­te ich. “Ist das eine erns­te Sache?” “Wie bit­te?” “Ich wir­bel­te zu ihm her­um. “Wol­len Sie sie ernst­haft hei­ra­ten? Die ist doch ein ver­damm­ter Witz. Ich mei­ne, haben Sie sich die mal ange­se­hen?” (Zitat S.12) Der Schreib­stil von Mer­ce­des Heln­wein ist wun­der­bar frech, rot­zig und trie­fend vor Sar­kas­mus, Iro­nie und einer Ableh­nung gegen fast jeg­li­che mensch­li­che Lebe­we­sen, die Grace trifft. Beson­ders mit Jungs in ihrem Alter möch­te sie eigent­lich nichts zu tun haben. “Jun­gen war grob und laut und hat­ten es nötig, sich stän­dig vor ihren Freun­den zu pro­fi­lie­ren. Sie ris­sen kin­di­sche Wit­ze über Mäd­chen, hat­ten schreck­li­che Haar­schnit­te und die Auf­merk­sam­keits­span­ne einer Stech­mü­cke.” (Zitat S.47) Die Erzähl­art der Autorin ist hier­bei abso­lut facet­ten­reich. Reicht von der­ber Aus­drucks­wei­se bis hin zu Kasimirahoch­ge­sto­chen, lite­ra­risch gewähl­ten Wor­ten. Über so man­che For­mu­lie­run­gen stol­pert man ein­fach beim Lesen, wie zum Bei­spiel ihre kras­se Beschrei­bung von Lie­bes­kum­mer: “Ich fühl­te mich wie ein Kada­ver, als ich für die Weih­nachts­fe­ri­en nach Hau­se fuhr. Soweit ich das beur­tei­len konn­te, war mei­ne See­le vom Schick­sal ver­daut und wie­der in mei­nen Kör­per erbro­chen wor­den, wo sie nun ziel- und wil­len­los vor sich hin däm­mer­te.” (Zitat S.14) Wäh­rend ich mit Grace zu Beginn erst gar nicht warm wer­den konn­te, weil sie mit ihrer ande­ren Art ein­fach aneckt, schaut man all­mäh­lich hin­ter ihre Fas­sa­de und durch­schaut ihr Ver­hal­ten immer mehr: “Ich hat­te kei­ne Ahnung, wie ich mit einem Jun­gen reden soll­te, der nett zu mir war, oder wie ich reagie­ren soll­te, wenn eine Grup­pe Mäd­chen mich ein­lud, mit ihnen befreun­det zu sein. Dafür wuss­te ich mit jeder Sor­te von Arsch­ge­sich­tern umzu­ge­hen. […] Wenn Leu­te ver­such­ten nett zu dir zu sein, gab es jede Men­ge zu ver­lie­ren.Kasimira Wenn sie dage­gen eh schon Arsch­lö­cher waren, dann konn­te man nichts kaputt machen, egal was man tat oder sag­te.” (Zitat S.50) Durch Wade wird Grace tat­säch­lich auf­ge­schlos­se­ner, lässt sich mehr auf ande­re ein und macht eine glaub­wür­di­ge Wand­lung durch. Was vor allem jedoch bril­lant geschrie­ben ist in “(Not so) Ama­zing Grace”, ist die Schil­de­rung der Neben­cha­rak­te­re, wie zum Bei­spiel Grace’s Mut­ter: “Das Pro­blem war, dass sie auch ver­rückt war. […] Sie igno­rier­te die Welt um sie her­um genau­so rigo­ros wie Kin­der es tun, wenn sie Astro­naut, Cow­boy oder Prin­zes­sin spie­len und in ihrer Fan­ta­sie­welt leben. Mei­ne Mut­ter hat­te sich eine eige­ne Welt geschaf­fen. Die Wirk­lich­keit ver­drängt sie, so gut sie konn­te, und wenn das nicht mög­lich war, wenn die Rea­li­tät zu laut wur­de und zu viel Druck auf die Mär­chen­welt aus­üb­te, in der sie leb­te, dann brach sie zusam­men.” (Zitat S.16ff) Wie Mer­ce­des Heln­wein ihre Figu­ren Kasimirain weni­gen Zügen glaub­haft und höchst authen­tisch und vor­stell­bar skiz­ziert, das muss ihr erst mal nach­ma­chen, wie zum Bei­spiel bei Grace’s Mit­schü­le­rin Beth: “Sie war nicht hübsch, sie war umwer­fend schön, und zwar auf eine Art, die nichts mit ihren ein­fa­chen Gesichts­zü­gen zu tun hat­te. Mehr mit der Art, wie sie sich beweg­te und rede­te. Eine Mischung aus jugend­li­cher Nach­läs­sig­keit und der erwach­se­nen Ele­ganz zwie­lich­ti­ger Film-noir-Damen. Eine Kom­bi­na­ti­on aus Prä­zi­si­on und Träg­heit. Jede Bewe­gung war genau bemes­sen und brann­te vor Selbst­si­cher­heit und einer Unvor­her­seh­bar­keit die ihr aus allen Poren tropf­te.” (Zitat S.58) Das Ende — als alle Hand­lungs­strän­ge auf einem Tank­stel­len­park­platz zusam­men­lau­fen — ist schön schräg und abge­ho­ben und über­aus pas­send, nur den letzt­li­chen Aus­gang fand ich in einem Aspekt dann doch etwas ent­täu­schend, hier hät­te ich mir noch mehr gewünscht.

LesealternativenWenn dir “(Not so) Ama­zing Grace” gefal­len hat, dann dürf­te auch “Ele­a­n­or & Park” von Rain­bow Rowell etwas für dich sein, das auch eini­ge Par­al­le­len zu dem Buch hat. Ein Roman, an den ich auch beim Lesen sofort den­ken muss­te, hin­sicht­lich der beson­de­ren exzen­tri­schen Außen­sei­te­rin, ist “Soli­taire” von Ali­ce Ose­man. Etwas hef­ti­ger in Bezug auf die Außen­sei­ter­rol­le ist zudem “Mein fan­tas­ti­sches Leben — von wegen” von San­ne Søn­der­gaard. Eine selbst gewähl­te Ein­sam­keit, die ein Jun­ge durch­bricht, fin­dest du auch in der Lie­bes­ge­schich­te “Über den Dächern wir zwei” von Ange­la Kirchner. 

Bibliografische Angaben:
Schilder was wo wer wannVerlag: Moon Notes
ISBN: 978-3-96976-024-6
Erscheinungsdatum: 13.Juli 2022
Einbandart: Broschur
Preis: 15,00€
Seitenzahl: 368
Übersetzer: Rita Gravert
Originaltitel: "Slingshot"
Originalverlag: Wednesday Books

Englisches Originalcover: 
Kasimira












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(4,5 von 5 mög­li­chen Punkten)

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Englisches Cover: Homepage von Mercedes Helnwein

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