Die österreichische Autorin und bildende Künstlerin Mercedes Helnwein hat ein Jugendbuch geschrieben, das auf jeden Fall abseits des Mainstreams liegt. Sie setzt eine Anti-Heldin in den Mittelpunkt ihrer Coming-of-Age-Geschichte, eine Außenseiterin, die jegliche Kontakte verweigert und lieber für sich bleiben will und dann doch an einen Jungen gerät, der ihre Gefühle gehörig durcheinanderbringt. Schräg, rotzig frech und anders. Definitiv anders! Mit hervorragenden Charakterskizzierungen und einer unvergesslichen Protagonistin, die man dann doch irgendwie (auf den zweiten Blick) rettungslos ins Herz schließt. Für Jugendliche ab 14 und Erwachsene, die außergewöhnliche Bücher lieben.
Die 15-jährige Grace geht auf ein Internat mitten in den Sümpfen Floridas. Freunde hat sie schon seit der Grundschule keine mehr. Eine Entscheidung, die sie bewusst so getroffen hat. “Als ich auf die Mittelschule gekommen war, war mir alles zu blöd geworden. Plötzlich wurden Jungs und Mädchen durch Hormone und bestimmte Körperteile in männliche und weibliche Kategorien getrennt.” (Zitat aus “(Not so) Amazing Grace” S.91) Alle verhalten sich anders, sind im ständigen Wettbewerb zueinander. Das ist Grace zu anstrengend, auf dieses Gehabe hat sie keinen Bock. “Allein der Gedanke an den Energieaufwand, der nötig wäre, um vor ihnen möglichst normal rüberzukommen, erschöpfte mich. Ich müsste eine Riesenshow abziehen, dass ich eine von ihnen war, mit den gleichen Problemen, Fantasien, Träumen und Möglichkeiten.” (Zitat S.92) Deshalb hält sie die anderen mit ihrer abweisenden, direkten und schonungslosen Art auf Abstand. Liest viel, schreibt Gedichte und Romane und Tagebuch und manchmal auch eine E‑Mail an den Autoren Stephen King, die sie aber nie abschickt, weil sie seine Adresse nicht kennt. Eine Ausnahme ist ihr Lehrer Mr. Sorrentino. In diesen hat sie sich tatsächlich verliebt. “Ich dachte nicht bloß, wir wären Seelenverwandte, ich wusste es. Ich wusste es einfach. Wenn man Dinge dieser Größenordnung weiß, dann müssen sie nicht zwangsläufig Sinn ergeben. Schließlich ist Liebe eine höhere Wahrheit als Logistik, und im Grunde konnte mich jeder mal, der damit ein Problem hatte. Liebe ist Liebe. Dagegen war alles andere unwichtig.” (Zitat S.8) Sie ist überzeugt, dass es Mr. Sorrentino genauso geht. Dass er es nur nicht allzu deutlich zeigen kann, weil er ja ihr Lehrer ist. “Auch Mr. Sorrentino spürte unsere besondere Verbindung, das wusste ich genau. Ich wusste, dass ich keine Wahnvorstellungen hatte, weil es, obwohl wir unsere Gefühle füreinander nicht direkt öffentlich zum Ausdruck brachten (was de facto total illegal gewesen wäre), Hinweise gab, auf die sich meine unweigerlichen Schlussfolgerungen gründeten.” (Zitat S.8) Manchmal setzt er besondere Kommentare unter ihre Klausuren, lächelt ihr im Klassenzimmer zu oder gibt ihr High-Fives. Deshalb ist Grace umso entsetzter, als Mr.Sorrentino ihr eines Tages seine Lebensgefährtin vorstellt. Die Frau, mit der er auf einmal sogar verlobt zu sein scheint und die auch ein paar Vertretungsstunden an der Schule geben soll. “Wegen ihres breiten Lächelns waren ihre Lippen zu schmalen Linien über das ganze Gesicht gezogen, und ihre blasspinke Lipglossschmiere glitzerte im Licht.” (Zitat S.10) Grace kann es nicht glauben und leidet unter heftigstem Liebeskummer. Um sich abzulenken, hilft sie einem neuen Mitschüler namens Wade, der von ein paar Jungs verprügelt zu werden droht und schießt einem von ihnen mit einer Steinschleuder ins Gesicht. “Alles, was ich gewollt hatte, war gewesen, Derek ins Gesicht zu schießen, weil er ein Wichser erster Klasse war. Es hatte mich von Mr. Sorrentino ablenken sollen — etwas, wodurch ich mich besser fühlte. Aber das war gründlich in die Hose gegangen. Irgendwie war ich nun mit diesem schwitzenden, atmenden Fremden, der ein Junge war und dessen Ellenbogen bereits zweimal in meinen Arm gestoßen waren, weil er nicht still sitzen konnte, in einem Team gelandet. Allein bei der Vorstellung wurde mir schlecht.” (Zitat S.35) Denn Wade lässt irgendwie nicht locker und möchte gerne mit ihr befreundet sein. Und nicht nur das…
Das Cover wirkt knallig, fast altmodisch und doch irgendwie faszinierend. Jedoch fehlt auf dem Buch, wenn schon nicht auf der Rückseite, dann doch wenigstens im Innenteil ein genauerer Klappentext. Der Inhalt in der Verlagsvorschau hörte sich nämlich sehr interessant an, daran kommen die wenigen Bruchstücke, die über “(Not so) Amazing Grace” auf und im Buch verraten werden, nicht an. Hier bleibt nur zu hoffen, dass sich mancher Leser auf den Roman dennoch einlässt. Denn zwischen den Buchdeckeln erwartet einen eine ganz außergewöhnliche Protagonistin und Ich-Erzählerin namens Grace, die man einfach erlebt haben muss: “Ich aß immer das Falsche. Scheiß drauf. Wenn mein Leben eh schon zum Kotzen ist, esse ich nicht obendrein auch noch Salat.” (Zitat S.53) Ein Mädchen, die sagt, was sie denkt, sich um keinerlei Konventionen schert und einfach ihr Ding durchzieht. Es sogar wagt ihren Lehrer Mr. Sorrentino zur Rede zu stellen, als dieser ihr seine Verlobte präsentiert: “Sind Sie wirklich mit dieser Frau zusammen?”, fragte ich. “Ist das eine ernste Sache?” “Wie bitte?” “Ich wirbelte zu ihm herum. “Wollen Sie sie ernsthaft heiraten? Die ist doch ein verdammter Witz. Ich meine, haben Sie sich die mal angesehen?” (Zitat S.12) Der Schreibstil von Mercedes Helnwein ist wunderbar frech, rotzig und triefend vor Sarkasmus, Ironie und einer Ablehnung gegen fast jegliche menschliche Lebewesen, die Grace trifft. Besonders mit Jungs in ihrem Alter möchte sie eigentlich nichts zu tun haben. “Jungen war grob und laut und hatten es nötig, sich ständig vor ihren Freunden zu profilieren. Sie rissen kindische Witze über Mädchen, hatten schreckliche Haarschnitte und die Aufmerksamkeitsspanne einer Stechmücke.” (Zitat S.47) Die Erzählart der Autorin ist hierbei absolut facettenreich. Reicht von derber Ausdrucksweise bis hin zu hochgestochen, literarisch gewählten Worten. Über so manche Formulierungen stolpert man einfach beim Lesen, wie zum Beispiel ihre krasse Beschreibung von Liebeskummer: “Ich fühlte mich wie ein Kadaver, als ich für die Weihnachtsferien nach Hause fuhr. Soweit ich das beurteilen konnte, war meine Seele vom Schicksal verdaut und wieder in meinen Körper erbrochen worden, wo sie nun ziel- und willenlos vor sich hin dämmerte.” (Zitat S.14) Während ich mit Grace zu Beginn erst gar nicht warm werden konnte, weil sie mit ihrer anderen Art einfach aneckt, schaut man allmählich hinter ihre Fassade und durchschaut ihr Verhalten immer mehr: “Ich hatte keine Ahnung, wie ich mit einem Jungen reden sollte, der nett zu mir war, oder wie ich reagieren sollte, wenn eine Gruppe Mädchen mich einlud, mit ihnen befreundet zu sein. Dafür wusste ich mit jeder Sorte von Arschgesichtern umzugehen. […] Wenn Leute versuchten nett zu dir zu sein, gab es jede Menge zu verlieren. Wenn sie dagegen eh schon Arschlöcher waren, dann konnte man nichts kaputt machen, egal was man tat oder sagte.” (Zitat S.50) Durch Wade wird Grace tatsächlich aufgeschlossener, lässt sich mehr auf andere ein und macht eine glaubwürdige Wandlung durch. Was vor allem jedoch brillant geschrieben ist in “(Not so) Amazing Grace”, ist die Schilderung der Nebencharaktere, wie zum Beispiel Grace’s Mutter: “Das Problem war, dass sie auch verrückt war. […] Sie ignorierte die Welt um sie herum genauso rigoros wie Kinder es tun, wenn sie Astronaut, Cowboy oder Prinzessin spielen und in ihrer Fantasiewelt leben. Meine Mutter hatte sich eine eigene Welt geschaffen. Die Wirklichkeit verdrängt sie, so gut sie konnte, und wenn das nicht möglich war, wenn die Realität zu laut wurde und zu viel Druck auf die Märchenwelt ausübte, in der sie lebte, dann brach sie zusammen.” (Zitat S.16ff) Wie Mercedes Helnwein ihre Figuren in wenigen Zügen glaubhaft und höchst authentisch und vorstellbar skizziert, das muss ihr erst mal nachmachen, wie zum Beispiel bei Grace’s Mitschülerin Beth: “Sie war nicht hübsch, sie war umwerfend schön, und zwar auf eine Art, die nichts mit ihren einfachen Gesichtszügen zu tun hatte. Mehr mit der Art, wie sie sich bewegte und redete. Eine Mischung aus jugendlicher Nachlässigkeit und der erwachsenen Eleganz zwielichtiger Film-noir-Damen. Eine Kombination aus Präzision und Trägheit. Jede Bewegung war genau bemessen und brannte vor Selbstsicherheit und einer Unvorhersehbarkeit die ihr aus allen Poren tropfte.” (Zitat S.58) Das Ende — als alle Handlungsstränge auf einem Tankstellenparkplatz zusammenlaufen — ist schön schräg und abgehoben und überaus passend, nur den letztlichen Ausgang fand ich in einem Aspekt dann doch etwas enttäuschend, hier hätte ich mir noch mehr gewünscht.
Wenn dir “(Not so) Amazing Grace” gefallen hat, dann dürfte auch “Eleanor & Park” von Rainbow Rowell etwas für dich sein, das auch einige Parallelen zu dem Buch hat. Ein Roman, an den ich auch beim Lesen sofort denken musste, hinsichtlich der besonderen exzentrischen Außenseiterin, ist “Solitaire” von Alice Oseman. Etwas heftiger in Bezug auf die Außenseiterrolle ist zudem “Mein fantastisches Leben — von wegen” von Sanne Søndergaard. Eine selbst gewählte Einsamkeit, die ein Junge durchbricht, findest du auch in der Liebesgeschichte “Über den Dächern wir zwei” von Angela Kirchner.
Bibliografische Angaben: Verlag: Moon Notes ISBN: 978-3-96976-024-6 Erscheinungsdatum: 13.Juli 2022 Einbandart: Broschur Preis: 15,00€ Seitenzahl: 368 Übersetzer: Rita Gravert Originaltitel: "Slingshot" Originalverlag: Wednesday Books Englisches Originalcover:
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(4,5 von 5 möglichen Punkten)
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