Ein neuer Melvin Burgess. “Kill all enemies” ist der Titel eines Romans des britischen Autoren, der sich mit zerrütteten Familienverhältnissen, Gewalt, Gerechtigkeit und der Hoffnung auf ein besseres Leben auseinandersetzt. Roh und derb und gleichzeitig sensibel erzählt, wenn man hinter die Fassade dieser drei Jugendlichen schaut, aus deren Sicht berichtet wird. Ausdrucksstark! Abgefahren. Anders. Für Jugendliche ab 14 Jahren und Erwachsene.
Die 15-jährige Billie ist wiederholt von der Schule geflogen. Oft gerät sie in Schlägereien. So viel Wut ist dann in ihr, dass sie einfach explodiert. Eigentlich wollte sie sich auf der neuen Schule zurückhalten, doch dann haben Riley und seine Clique einen übergewichtigen Jungen geärgert und in den Schwitzkasten genommen. “Na los, Billie. Du bist dran! Gib’s ihm!” […] “So vielleicht?”, fragte ich. Und boxte Riley voll auf die Nase. Bäng. Er ging zu Boden. Jetzt drauf mit dem Stiefel. Bäng, bäng, bäng. Dann musste sich seine Freundin, Jess oder wie sie heißt, einmischen, also kriegte sie auch was ab — bäng!, einmal voll auf die Zähne. Auch sie ging zu Boden, alles war voll Blut.” (Zitat aus “Kill all enemies”, Seite 8). Das Schlimmste für Billie ist jedoch nicht mehr zu ihrer Familie zu gehören. Um ihre alkoholkranke Mutter und ihre Geschwister hat sie sich immer gekümmert, hat sich schon als Zehnjährige um den ganzen Haushalt gesorgt und darum, dass ihre Geschwister etwas zu essen auf dem Tisch hatten, wenn ihre Mutter mal wieder “unpässlich” war. Bis ein Nachbar sie beim Jugendamt verpetzte und die Familie auseinandergerissen wurde. Billie selbst hat schon mehrere Pflegefamilien hinter sich. Und doch hat ihre Mutter nach einem Entzug ihre anderen Geschwister wieder zu sich genommen. Nur sie, Billie, nicht. Das schmerzt. Zumal das Mädchen das Gefühl hat, dass ihrer jüngeren Schwester, die sich auch um alles kümmert, nun das gleiche Schicksal blüht wie ihr damals. Das will Billie auf jeden Fall verhindern…
Rob ist der übergewichtige Junge, den Riley in den Schwitzkasten genommen und den Billie unerwarteter Weise aus seiner Misere befreit hat. Rob will mit ihr befreundet sein. Doch Billie kann keine Freunde gebrauchen. Zuhause geht es dem Jungen nicht gerade rosig. Seine Mutter streitet sich oft mit seinem Stiefvater. Laute, hässliche Szenen, die Rob nur mit Musik zu überblenden versucht. “Metallica löst fast alle Probleme. Wenn Metallica spielt, braucht man nicht wütend zu sein. Braucht man keine Angst zu haben. Braucht man sich keine Sorgen zu machen. So ist Metallica. Wenn ich Metallica höre, bin ich Gott.” (Seite 30). Er ist es auch, der seinen Stiefbruder Davey von den Szenen zu Hause ablenkt und mit ihm an der XBox spielt: “Ich setzte mich neben ihn. Der Bildschirm ging an. “Kill All Enemies”, sagte ich und wir fingen an zu spielen.” (Seite 32). Doch dann verlässt seine Mutter die Familie…
Chris hat sein vier Jahren keine Hausaufgaben mehr gemacht. Er macht sie aus Prinzip nicht. Die Schule ödet ihn an, die Lehrer wollen nur ihr Gehalt und geben sich kaum Mühe. “Ich akzeptiere die Einrichtung Schule. Die ist zwar langweilig, aber wir müssen hin. Das verstehe ich. Ich gehe hin. Ich mache mit — solange sie mich nicht verarschen. Aber wenn ich zu Hause bin, ist das meine Zeit. […] Was ich in der Schule mache, bestimmen sie. Was ich zu Hause mache — bestimme ich.” (Seite 37). Seine Eltern dachten zuerst, mit ihm würde etwas nicht stimmen, er wäre Legastheniker oder hätte eine Sehschwäche. Nachdem diese Eventualitäten durch alle möglichen Test aus dem Weg geräumt wurden, bezeichnen sie ihn einfach nur als faul und unintelligent. Sperren ihn in seinem Zimmer ein, damit er seinen Hausaufgaben macht. Das gefällt Chris gar nicht. Denn er braucht die Schule nicht um erfolgreich zu sein: “Die kommen einfach nicht mit der Tatsache klar, dass mein Platz nicht in der Schule ist, sondern draußen in der Welt, wo ich genau jetzt meine erste Million verdienen sollte. Ein Unternehmer braucht keine Abschlussprüfung, höchstens Kenntnisse in Betriebswirtschaft, aber das eigentlich auch nicht. Ich verdiene jetzt schon ganz ordentlich bei eBay. […] Und die meinen ernsthaft, ich sollte lieber lernen, wie man im Binärsystem bis eine Million zählt? Nicht mit mir.” (Seite 15). Doch dann fliegt er von der Schule und muss in ein Auffangprogramm…
“Kill all enemies” wartet mit einem deutlichen Cover auf. Klar. Schnörkellos. Direkt. So wie die Sprache der Jugendlichen. Herausfordernde Blicke, die sich zwischen die Buchstaben quetschen. Anklagend. Distanziert. Oder mit ganz geschlossenen Augen. Ich will nicht sehen. Lass mich in Ruhe. Doch mit dem Roman gelingt es vor allem eines: zu sehen. Was sich hinter der rauen Schale verbirgt, wo der weiche Kern liegt. Und der ist bei jedem der drei Jugendlichen zu finden. Wenn man tiefer gräbt. Und das tut Melvin Burgess. Er bewertet nicht, er erzählt. Und lässt ein eigenes Bild beim Leser entstehen. Der Roman ist abwechselnd aus der Sicht der drei geschrieben (wobei später noch eine Person dazukommt) und in mehrere Teile eingeteilt. Teil 1: Schule. Teil 2: Die Brant-Schule. Teil 3: Die Band. Teil 4: Kill all enemies. Die Sprache ist schonungslos und realitätsnah. Das Schicksal der Jugendlichen berührt. Als ihre Wege sich in dem Auffangprogramm kreuzen, ändert sich alles. Für jeden von ihnen. Vor allem die Musik spielt dabei eine Rolle. Die Geschichte ist durchweg unterhaltsam geschrieben. Man fiebert mit, bangt, hofft und das bis auf die letzten Seiten. Lesetipp!!
Wenn dir Melvin Burgess Erzählstil gefällt, kannst du auch noch die anderen Bücher von ihm lesen. Richtig cool und trashig ist zum Beispiel “Death” (erst ab 15 bzw 16 Jahren). Der Autor schreibt oft über sehr ernste Themen. “Junk” (Drogen), “Nicholas Dane” (Gewalt und Missbrauch in einem Kinderheim), “Sarahs Gesicht” (Gesichtstransplantation), “Billy Elliot” (Junge will Balletttänzer werden), “Doing it” (das erste Mal). Einige Titel sind leider nur noch als E‑Book erhältlich. Eine gute Alternative zu Melvin Burgess ist Kevin Brooks, der den Ton der Jugendlichen trifft und über besondere Themen schreibt: “Bunker Diary” (erst ab 15⁄16 Jahren) oder “i Boy” (ab 14) sind richtig gut! Menschen am Rande der Gesellschaft findest du auch in “Wie ein flammender Schrei” von Mats Wahl. Ähnlich eklatant sind “Butter” von Erin Jade Lange und “Die Liga der Guten” von Rüdiger Bertram. Ebenfalls aus der Sicht von drei Personen werden folgende Geschichten erzählt: “Zwei oder drei Dinge, die ich dir nicht erzählt habe” von Joyce Carol Oates und die “Auge um Auge”-Trilogie von Jenny Han und Siobhan Vivian.
Bibliografische Angaben:Verlag: Carlsen ISBN: 978-3-551-58303-1 Erscheinungsdatum: 26.Februar 2015 Einbandart: Hardcover Preis: 15,90€ Seitenzahl: 272 Übersetzer: Heike Brandt Originaltitel: "Kill all enemies" Originalverlag: Penguin Britisches Originalcover:
Melvin Burgess über sein Buch (englisch):
Kasimiras Bewertung:
(5 von 5 möglichen Punkten)
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