“Lügentochter” ist der erste Roman der amerikanischen Autorin Megan Cooley Peterson, die zahlreiche Sachbücher schrieb. Sie stellt ein Mädchen in den Mittelpunkt, die in einer Sekte aufwächst und von der Außenwelt abgeschirmt wird und davon keine Ahnung hat. Als sie von ihrer Familie getrennt wird, ändert sich ihr Leben auf einen Schlag. Ein äußerst mitreißendes, emotionales Buch, das man so schnell nicht mehr aus der Hand legen wird! Die Geschichte einer Familie, einer ersten (verbotenen) Liebe, einer Suche nach der Wahrheit und nach der eigenen Identität. Mit einem großen Maß an Authentizität — denn die Autorin weiß, wovon sie schreibt: sie ist ebenfalls in einer Sekte Mitglied gewesen, ehe sie anfing Fragen zu stellen. Für Jugendliche ab 13 Jahren und Erwachsene.
Piper ist 17 Jahre alt und sie hat gelernt sich in Acht zu nehmen. “Die Welt ist schlecht”, hat Mutter gewarnt. “Ihr dürft niemandem trauen! Nur mir und eurem Vater. Vergesst das nicht!” (Zitat aus “Lügentochter” S.5) Weit entfernt von der menschlichen Zivilisation in einem vor Jahrzehnten stillgelegten Vergnügungspark mitten in der Natur lebt sie mit ihren fünf Geschwistern: Beverly Jean, Millie, Carla, Henry und Samuel. Auch Caspian und Thomas leben dort. “Vater hat Caspian und Thomas vor ein paar Jahren aufgenommen, nachdem er ihre Eltern der Gemeinschaft verweisen musste — sie hatten Drogen hereingeschmuggelt. Da die Jungs sonst völlig auf sich allein gestellt wären, hat er ihnen erlaubt zu bleiben. Es wäre ja schließlich grausam gewesen, sie raus in die Außenwelt zu jagen.” (Zitat S.13) Ihr Vater leitet eine Gemeinschaft, die mehrere Stunden entferntliegt, ihre Mutter führt mehrere Unternehmen und unterstützt ihn dabei. Mehrere Monate leben sie dort in der Kolonie, engagieren sich für viele wohltätige Projekte, ehe sie zu ihren Kindern zurückkommen. “Unsere Kinder können nicht in der Kolonie leben; dann würde die Regierung uns zu schnell auf die Schliche kommen. Hier habt ihr Sonne und den See und eure Ruhe und die besten Lehrer, die mit Geld zu haben sind. Alles, was ihr euch je wünschen oder brauchen könntet.” (Zitat S.48) Auch Piper möchte eines Tages in der Kolonie leben, wartete gespannt auf den Moment der Initiation, wenn sie auch ein vollständiges Mitglied der Gemeinschaft wird. Sie versucht alles richtig zu machen, den Ansprüchen des Vaters in allem gerecht zu werden. Versucht den zwei strengen Tanten, die in der Zwischenzeit auf sie aufpassen, stets zu gehorchen. Sie sind nicht ihre richtigen Tanten, sondern ebenfalls zwei
Mitglieder der Gemeinschaft. Doch sie berichten ihrem Vater alle Verfehlungen. In letzter Zeit muss Piper sich auch gehörig zusammenreißen, da sie dem gleichaltrigen Caspian öfters unerwartet näher kommt: “Eine Strähne fällt ihm zurück in die Stirn, und am liebsten würde ich sie nach hinten streichen, einfach nur, um ihn zu berühren, aber der wachsame Blick der Tanten hält mich davon ab. Seit einiger Zeit scheinen die beiden etwas dagegen zu haben, dass wir uns zu nahekommen.” (Zitat S.17) Denn Liebe ist ein falsches Gefühl. Nur ihr Vater darf Eheschließungen arrangieren und hier spielt Liebe keine Rolle. Obwohl sie das weiß, kann sie nichts gegen ihre Empfindungen tun. Aber dann rückt der Moment der Initiation immer näher…
Das Cover ist unglaublich schön gemacht, wirkt fast wie eine besondere Antiquität. Dabei ist der Titel haptisch erhoben und mit einer leicht glänzenden Farbschicht überzogen. Der Roman wird durchgehend in Pipers Sicht in der Ich-Perspektive erzählt. Er gliedert sich in Kapitel, die mit “Davor” und “Danach” gekennzeichnet sind. Denn das faszinierende Erzählmittel, das Megan Cooley Peterson gewählt hat, ist, ihre Geschichte in zwei Zeitebenen aufzuteilen. Sie berichtet von Pipers Leben in der Familie und von ihrem Leben in der Außenwelt. Denn — und das erfährt man bereits zu Beginn — Piper wurde ihrer Familie entrissen und lebt nun bei einer fremden Frau. “Hier sei ich in Sicherheit, sagen DIE. Dies sei jetzt meine Familie. Dabei kenne ich diese Leute überhaupt nicht. Und das hier ist nicht mein Zuhause.” (Zitat S.6) Gerade ihre Distanziertheit und ihr Misstrauen werden besonders gut dargestellt. Schließlich hat sie gelernt, dass sie in der Außenwelt niemandem vertrauen darf, ausschließlich ihren Eltern. Schon kleinste
Alltagssituationen scheinen ihr diese Lehre zu bestätigen: “DIE haben den Hahn mit Absicht manipuliert, damit ich mich mit kaltem Wasser waschen muss. Für so schwach halten sie mich also. Denken, dass sie so meinen Widerstand brechen können.” (Zitat S.6) Gespräche mit einem Arzt zuweilen sollen ihr helfen wieder eigenständig denken zu können. Doch Piper hat nicht vor lange zu bleiben und plant bereits ihre Flucht. Als Leser ist man zunächst völlig auf ihrer Seite, kann ihre Empfindungen nachfühlen und ihren Drang ihre Familie finden zu wollen. Gleichzeitig ahnt man bereits, dass in der Welt, in der Piper gelebt hat, auch nicht alles mit rechten Dingen zuging. “…die Außenwelt ist das reinste Chaos. Und dass ihr hier leben dürft, so geschützt von alldem, ist der beste Beweis dafür, wie sehr euer Vater euch liebt.” (Zitat S.49) Dass die pure Idylle in der Natur — ein Ort, an dem es keinen Strom, kein fließendes W
asser gab und sie weitgehend autark lebten — auch seine Schattenseiten hat. Dass der Vater mit seinen euphorischen Reden und ganz eigenen Wahrheiten vielleicht doch nicht immer die Wahrheit sagte? Dass jenseits dem Maschendrahtzahn, der das ganze Grundstück umgab, vielleicht eine ganz andere Welt auf sie wartete? Dass der Krieg, für den sie bereits einen Bunker bauten, vielleicht gar nicht kommen würde? Die Anzeichen häufen sich und man fiebert mit Piper mit, hofft, dass der Prozess des Erkennens, auch sie durchdringen wird. “Wie bin ich überhaupt hier gelandet? Durch die Gedächtnislücken fühle ich mich so dumm und schwach. Wissen ist Macht, sagt Vater. Ich habe weder das eine noch das andere.” (Zitat S.27) Und fürchtet sich gleichzeitig vor der erschreckenden Wahrheit, die unweigerlich auf sie zusteuert und die man bereits erahnen kann, wenn man sehr sorgfältig liest. Megan Cooley Petersons Sprache ist sehr klar, sehr intensiv und atmosphärisch. Stimmungen zu schaffen und nachklingen zu lassen, das schafft sie außerordentlich gut. Auch die zwiespältigen Gefühle hinsichtlich Caspian, in den sie sich verliebt, hat sie gut getroffen: “Eigentlich sollte ich ihn abschütteln und all diese seltsamen neuen Empfindungen verdrängen. Vater sagt, Romanzen, Selbstbefriedigung und Sex lenken uns nur von unseren Zielen ab. […] Darum weiß ich, diese Gefühle sind falsch, wie auch immer man sie nennen will.” (Zitat S.40) Das Ende ist passend und berührend. In einem Nachwort geht die Autorin noch auf ihre eigene Geschichte ein.
Die wohl beste Alternative zu “Lügentochter” ist für mich “After the fire” von Will Hill. Hier wird der Erzähltext ebenso in “Davor” und “Danach” eingeteilt und die Protagonistin muss lernen einem Psychologen wieder zu vertrauen. Dieses Buch ist allerdings noch etwas heftiger geschrieben. Romane über Sekten gibt es im Jugendbuch sehr viele, das ist immer wieder ein Thema, das auftaucht. Für “Einsteiger” eignen sich zum Beispiel prima: “Das eiskalte Paradies: Ein Mädchen bei den Zeugen Jehovas” von Jana Frey, “Du auf der anderen Seite” von Monika Feth und “Auserwählt: Ein Mädchen zwischen Sekte und Freiheit” von Patricia Schröder. Etwas mehr Thriller-Niveau haben “Moorseelen” von Heike Eva Schmidt (sehr spannend!), “Engelmord” von Bettina Brömme und “Teufelsengel” von Monika Feth. Eine Liebesgeschichte ist oft in solchen Roman mit enthalten, wie zum Beispiel auch in dem brillant erzählte “Ada: Im Anfang war die Finsternis” von Angela Mohr (die Autorin berichtet ebenfalls aus eigenen Erfahrungen). Hier lebt ein junges Mädchen ebenfalls fast abgeschnitten von der Außenwelt in einer Sekte und kommt erst allmählich dahinter, was ihr angetan wurde, als sie sich in einen Jungen von außen verliebt. Richtig klasse fand ich zudem “In deinem Licht und Schatten” von Louisa Reid. Hier sind zwei Zwillingsschwestern in den Fängen eines streng religiösen Vaters und eine der beiden verliebt sich. Schon etwas älter sind “Esters Angst” von Irma Krauß, “Scherbenparadies” von Fleur Beale und “Auserkoren” von Carol Lynch Williams (äußerst bewegend!). Sehr gut könnte ich mir auch “Hier musst du glücklich sein” von Lisa Heathfield und die “Gated”-Reihe von Amy Christine Parker vorstellen: “Die letzten 12 Tage” (Band 1) und “Sie sind überall” (Band 2). Für Jungs wären eher: “Wir Retter der Welt” von Sam Mills, “Und plötzlich bist du jemand anders” von Christian Tielmann und “Pfeif auf die Erlösung” von Jeri Smith-Ready.
Bibliografische Angaben:Verlag: Magellan ISBN: 978-3734-85051-6 Erscheinungsdatum: 19.Januar 2021 Einbandart: Hardcover Preis: 17,00€ Seitenzahl: 320 Übersetzer: Sandra Knuffinke, Jessika Komina Originaltitel: "The liar's daughter" Originalverlag: Holiday House Amerikanisches Originalcover:
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----------------------------------------------- Amerikanisches Cover: Homepage von Holiday House