“Zweet” ist bereits das zweite Jugendbuch der norwegischen Autorin Marit Kaldhol, das ins Deutsche übersetzt wurde. Für ihren ersten Roman “Allein unter Schildkröten” wurde sie 2013 für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert. Ihr aktuelles Buch: ebenfalls ein kleines, literarisches Schmuckstück, das sowohl eindringlich, als auch überraschend behutsam erzählt wird. Im Mittelpunkt ein Terrorangriff an einer Schule, vor dem eine junge Außenseiterin flüchten kann, in ihre ganz eigene Welt — die Welt der Bienen. Eine Geschichte über das Anderssein, über Mobbing und die Zartheit einer ersten Liebe. Für Jugendliche ab 12 Jahren und für Erwachsene.
Lill-Miriam ist anders als die anderen. “Mama hat den anderen Eltern von meinem Zyndrom erzählt. Weil zie wollte, dazz die anderen verztehen, warum ich bin, wie ich bin. Dazz ich manche Dinge auf meine eigene Art mache. Zeitdem nennen zie mich nur noch Znydrom. Außer einem Jungen mit Zuperman-T-Zhirt, der hat mich angelächelt.” (Zitat S.24ff) Sie redet nicht so gerne. Schreiben mag sie viel lieber, auch wenn gerade mal wieder die “S”-Taste ihres Laptops spinnt und sie lieber ein “Z” verwendet. Als ein Alarm in ihrer Schule ausbricht, geht sie nicht mit den anderen nach draußen, um in die unerwarteten Fänge von Terroristen zu gelangen, sondern versteckt sich auf dem Dachboden der Schule in einem ungenutzten Raum, von wo aus sie alles beobachten kann: “Dort unten sind sie. Terroristen in Aktion. Weiß gekleidete Menschen mit Masken vor den Gesichtern. Sie sind plötzlich überall. Das grelle Heulen des Alarms. Eine Kolonne fremder Busse auf dem Schulhof. Die Maskierten scheuchen die Schüler und Lehrer in die Busse. Sie fuchteln mit den Armen, dirigieren und halten zur Eile an. Schnell, schnell. Da rüber, da rein. Ein unbeholfener Tanz.” (Zitat S.8) Lill-Miriam flüchtet sich lieber in ihre eigene Welt und denkt über die ihr liebsten Zeitgenossen nach: die Bienen. Doch dann ertönen Schritte im Stockwerk unter ihr…
“Zweet” ist ein perfekt choreographierter Roman, der sich auf kluge Art und Weise zusammensetzt. Er wird in vier Teilen erzählt und bildet auch inhaltlich ein stimmiges Geflecht von sich aufeinander beziehenden Elementen. Im Vordergrund steht — neben Lill-Miriams Interesse für viele andere Insekten — aber vor allem die Thematik der Bienen. Der Leser erhält viele interessante Informationen über diese Tiere, ebenso zum Bienensterben beispielsweise, die in die Gedankengänge der Protagonistin eingebunden werden. Auch fühlt sich das Mädchen manchmal selbst wie eine Biene “Mein Gehirn ist ein summender Bienenstock.” (Zitat S.11) oder zieht Vergleiche, wenn sie andere Personen betrachtet: “Ihr Rock bauscht sich, flattert
um ihre Beine wie aufgeregt schlagende Flügel. Die Rektorin ist eine dicke Hummel.” (Zitat S.10) Marit Kaldhol erzählt in einer sehr kraftvollen, intensiven und bildhaften Sprache: “Noch vor wenigen Minuten waren die Klassenzimmer und Flure randvoll mit Alarm. […] Meine Worte wurden von den Sirenen in tausend Splitter zersprengt. Geplatzt wie Ballons. Wie mit Wasser gefüllte Lungen. Meine Gedanken zersplitterten wie dünnes Eis.” (Zitat S.21) Im 1., 3.und 4.Teil des Romans werden die Sätze eingerückt, ehe sie zu Ende sind, es stehen also in einer Zeile weniger Worte, als eigentlich Platz hätten, was dem Text eine ganze eigene Dynamik und Rhythmik verleiht. Dieses optische “Anders-Aussehen” wird verknüpft mit dem Anderssein der Protagonisten. Denn während in Teil 1 und 4 Lill-Miriam aus ihrer Perspektive berichtet, ist es in Teil 3 Ruben, der Junge aus Kuba, der von Lill-Miriam fasziniert ist, der zu Wort kommt. Ebenfalls ein Außenseiter in der Schule. Im Teil 2 des Buches erzählt Susan im ganz gewöhnlichen Fließtext, warum sie Mitläuferin in einer Schulclique ist, die begonnen hat Lill-Miriam zu mobben und wie sich allmählich das schlechte Gewissen bei ihr regt. “Wir fanden es unerträglich, wie sie aussah. Fett. Dass es ihr so egal war, wie sie aussah. Wenn sie wenigstens ihre Haare hätte wachsen lassen, um mehr wie wir auszusehen. Glatt und lang oder hochgesteckt. Sie war anders als wir. Wir konnten es nicht leiden, dieses Anderssein. Dass sie war, wie sie war. So verdammt sie selbst.” (Zitat S.93) Eine überraschende Wendung erwartet den Leser hier in Teil 2, die die Geschichte in einem ganz anderen Licht erstrahlen lässt. Auch wenn der Anfang des Romans sehr dramatisch beginnt (“Der Alarm heult. Rüttelt an meinem Körper. Sprengt Granaten in meinem Schädel. Laute Geräusche aus allen Richtungen. Ich presse die Hände auf die Ohren. […] Aber es hört nicht auf. Die Geräusche zerquetschen mein Gehirn.” (Zitat S.7)), so ist die Spannungskurve nicht riesig, es wird sich mehr auf das Inhaltliche und Erzählerische konzentriert. Es ist interessant Lill-Miriams Gedankengängen zu folgen, die manchmal auch sehr abgehackt sein können und zu ihrer — nicht namentlich erwähnten — Behinderung passen: “Ich rede nicht viel. Meist mit mir selbst, wenn niemand mich hören kann. Schreiben fällt mir leichter. Ich kümmere mich nicht um die Hänseleien. Irgendwann werden sie eine Überraschung erleben. Ich esse jeden Tag Honig.” (Zitat S.34) Faszinierend fand ich auch die Worterklärungen nach jedem einzelnen — mit einer Überschrift versehenen — Kapitel: so werden komplizierte Begriffe wie “Pollinieren”, “Metamorphose”, aber auch einfache wie “Zelle” oder “Labor” erklärt. Das Ende war mir persönlich etwas zu offen, aber es bietet viel Raum für eigene Gedanken.
Übrigens: “Zweet” ist kein norwegisches Wort, wie man vielleicht vermutet, sondern heißt eigentlich “Sweet”, ist aber nur durch die fehlerhafte Taste von Lill-Miriams Laptops entstanden, da sie in einigen wenigen Kapiteln statt einem “s” notgedrungen ein “z” verwendet: “Der, der mir Honig gegeben hat, hat viele Wörter dafür. Züß, zweet, dulce. (Zitat S.32). Das klingt zunächst ein wenig befremdlich, ist aber aufgrund der Zischlaute sehr sehr passend zur Thematik der Bienen.
Wenn dir “Zweet” gefallen hat, dann lies noch unbedingt das andere gelungene Buch von Marit Kaldhol, für welches sie für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2013 nominiert wurde, und zwar in der Kategorie “Preis der Jugendjury”: “Allein unter Schildkröten”. Hier schildert die Autorin die Gedankengänge eines depressiven Jungen, der sich besonders für Meeresschildkröten begeistern kann und sich das Leben nehmen wird. Romane über Bienen gibt es im Jugendbuch noch nicht so viele: “Das Jahr, als die Bienen kamen” von Petra Postert und noch relativ neu “Der Sommer, in dem ich die Bienen rettete” von Robin Stevenson. Ein etwas älterer Titel über einen Jungen, der sich in die Welt der Insekten flüchtet, ist “Glasflügler” von Marleen Nelen. Eine Protagonistin, die naturverbunden ist und ein großes Interesse an Naturwissenschaften hat, das findest du in “Calpurnias ®evolutionäre Entdeckungen” und in “Calpurnias faszinierende Forschungen” von Jacqueline Kelly. Schön ist auch “Das ganz und gar unbedeutende Leben der Charity Tiddler” von Marie-Aude Murail — bezaubernd!
Bibliografische Angaben:Verlag: Mixtvision ISBN: 978-3-95854-074-3 Erscheinungsdatum: 14.August 2017 Einbandart: Broschur Preis: 12,90€ Seitenzahl: 196 Übersetzer: Maike Dörries Originaltitel: "Zweet" Originalverlag: Samlaget Norwegisches Originalcover:
![]()
Kasimiras Bewertung:
(4,5 von 5 möglichen Punkten)
------------------------------------------- Norwegisches Cover: Homepage von Samlaget