“The Hurting: Als du mich gestohlen hast” ist das erste Buch der britischen Drehbuchautorin, Künstlerin und Autorin Lucy van Smit. Hierfür wurde sie mit dem Bath Children’s Novel Award ausgezeichnet. Eine Geschichte, die ins gletscherreiche und landschaftlich faszinierende Norwegen entführt. In eine Familie, in der seit der Krebserkrankung eines Mädchens nichts mehr richtig funktioniert und einer Schwester, die sich danach sehnt auszubrechen und ihren eigenen Träumen zu folgen. Als sie sich in einen Jungen verliebt, von dem eine unheilvolle Gefahr ausgeht, droht ihr Leben aus den Fugen zu brechen. Beklemmend. Intensiv. Geheimnisvoll. Ein unerwartetes Buch, sprachgewaltig und fesselnd. Für Jugendliche ab 14 Jahren und interessierte Erwachsene, die außergewöhnliche Geschichten lieben.
Eleanor, genannt Nell, ist mit ihrem Vater und ihrer Schwester in Norwegen gelandet. Und nicht gerade glücklich darüber. “Es hilft auch nicht, dass die norwegischen Berge so überirdisch perfekt wirken, so manikürt und eingefroren, als hätten sie sich ihre Schönheit botoxen lassen. […] Mir ist hier alles zu schön. Zu perfekt. Mit meinem Mist passe ich einfach nicht hierher.” (Zitat aus “The Hurting: Als du mich gestohlen hast” S.14) Früher haben sie in Manchester gewohnt. Doch seit Nells Mutter die Familie verlassen hat und ihre ältere Schwester Harper an einer seltenen Art von Leukämie erkrankt ist, ist alles
anders geworden. “Mein Vater ist schneller auf hundertachzig als ein Rennfahrer. Wahrscheinlich ist er auch nicht glücklicher als ich, dass wir in Norwegen sind, aber wir müssen alle Opfer bringen, damit Harper wieder gesund wird. Unser alter Arzt meinte, in Norwegen gäbe es die besten Therapien, und bevor ich bis drei zählen konnte, hatte mein Vater mich von der Schule angemeldet und wir landeten hier.” (Zitat S.16) Jetzt sind Nells Träume in weite Ferne gerückt. Eigentlich möchte sie Songwriterin werden, schreibt pausenlos Liedtexte. Ihr bester Freund Dom hat sie zu einem Vorspielen angemeldet und sogar einen Flug gebucht, damit sie zurück nach England kann, um diesen wichtigen Termin wahrzunehmen und eventuell an einer Musikschule angenommen zu werden. Doch ihr Vater hält von alldem nichts. Von Krankenhäusern und Krankenschwestern ebenso wenig. Und so ist es Nell, die ihrer Schwester immer die Medikamente verabreichen muss. “Dad hat die Wände mit vierzig Großaufnahmen des Turiner Grabtuchs tapeziert, vierzigmal Jesus’
verschwommenes Gesicht. Und das kleine Haus war schon eng, bevor Jesus eingezogen ist. Aber Dad geht kein Risiko ein, bis Harper gesund ist.” (Zitat S.16ff) Und das ist momentan alles, was zählt. Also haut Nell einfach ab, um zum Flughafen zu fahren. Um einmal ihren Träumen nachzugehen und nicht immer nur für ihre Schwester da zu sein. In einem Kaufhaus trifft sie auf Lukas, den Jungen mit der besonderen Ausstrahlung und dem übergroßen Mantel: “Er wirkt irgendwie intensiv. Dunkel. Ungezähmt. Als wäre er direkt aus der Wildnis gekommen und in seinem blaugrauen Fellmantel in einem Schuhgeschäft gelandet. […] Und dann starrt er mich an. Grüne Augen. Meer und Glasscherben. Ich will wegsehen, aber je mehr ich mich anstrenge, desto fester starre ich zurück. Der Rest der Welt verschwindet. Nur er und ich.” (Zitat S.32) Sie fühlt eine Verbindung zu ihm, die sie sich nicht erklären kann und er hilft ihr, als sie des Diebstahls bezichtigt wird, aus dem Kaufhaus zu flüchten. Will sie sogar auf Schleichwegen zum Flughafen bringen. “Wir
reden und reden, über Gott und die Welt, und ich habe das Gefühl, zwischen uns ist was, das summt und uns mit schillernden Fäden zusammenhält, die so stark sind, dass ich sie körperlich spüren kann.” (Zitat S.43) Doch dann ist ihr Pass weg und ihr Geldbeutel und Nell muss wieder nach Hause zurück. Lukas fährt sie mit seinem Motorrad. Und sie treffen sich wieder. Auch wenn Nells Vater das natürlich niemals erlauben würde: “Dad darf nie erfahren, dass ich mit einem Jungen unterwegs war. In unserm Haus herrscht ein ungeschriebenes Gesetz. Keine Jungs, bis Harper wieder gesund ist.” (Zitat S.55) Aber irgendetwas scheint Lukas vor ihr zu verbergen. Er, der mit Wölfen aufgewachsen ist, ehe er im Alter von sechs Jahren von Menschen adoptiert und aufgezogen wurde. Irgendetwas Dunkles umgibt ihn…
“The Hurting: Als du mich gestohlen hast”, dessen Cover fast etwas schlicht wirkt (im Vergleich zum Englischen, siehe unten) startet mit einem Prolog, der sehr geheimnisvoll herüberkommt und viele Informationen liefert, die man zunächst noch nicht wirklich einordnen kann. Nell scheint auf der Flucht zu sein. Sie soll ein Baby entführt haben. Sie trägt eine Kamera bei sich, auf der Beweise sind? Und dreht ein Video mit folgendem Text: “Wenn ihr das seht, bin ich tot. Seid nicht sauer. Für mich ist es viel schlimmer. Hört genau zu. Ich sterbe, damit ein Kind leben kann, aber nur, wenn ihr genau aufpasst.” (Zitat S.11) Was ist passiert? Warum will sie jemanden aufhalten? Und wen? Die Bedrohung ist nicht wirklich greifbar und dadurch umso dramatischer. Dann setzt der Hauptteil ein. Drei Monate zuvor. Bis man sich ein genaues Bild von den Umständen machen kann, auf die man nun trifft, dauert es ein paar Seiten. Es werden viele Andeutungen gemacht und Informationen ohne genauere Erklärungen präsentiert, die sich dann aber nach und nach erschließen. Was mir beim Lesen neben der sehr schönen Sprache besonders gut gefallen hat, sind die
facettenreichen, mehrschichtigen Charaktere. Der Vater, der einerseits zu viel trinkt, andererseits aber auch einer besonderen Berufung glaubt nachgehen zu können: “Mein Vater klebt noch ein Jesusbild an die Wand. Hauptberuflich arbeitet er auf einer Bohrinsel, aber nebenbei hat er sich selbst zum Heiler ernannt, und je mehr er säuft, desto mehr sieht er aus wie ein religiöser Spinner.” (Zitat S.18) Lukas, der undurchschaubar wirkt und zwei Seiten in sich zu tragen scheint: “Sein schwarzes Haar riecht nach Lagerfeuer, Wildnis und teurer Seife. Sein Gesicht kann in einem Moment vor Lachen sprühen, im nächsten werden seine Augen dunkel […] Irgendwie wirkt er gleichzeitig reich, und als hätte er seit Wochen nichts gegessen” (Zitat S.36) Die Zwiespältigkeit der Charaktere ist jedoch besonders bei den Schwestern Nell und Harper über die Maßen gut getroffen. Nell, die alles für ihre Schwester tun würde, jedoch sich zugleich auch nach Freiheit und dem Nachgehen ihrer Träume sehnt. “Dad hat recht, ich begreife es einfach nicht. Jetzt nimmt sie das blaue Kopftuch ab und kratzt sich den kahlen Schädel. Mit ihrer Glatze kriegt sie alles von Dad. Und ich stehe daneben wie eine Egosau, weil ich mehr vom Leben will. […] Was ist mit mir?, will ich fragen. Was ist mit meinen Träumen? Aber ich kenne die Antwort. In meiner Familie gibt es kein ich.” (Zitat S.22) Schuldgefühle und das schlechte
Gewissen plagen sie. Darf sie an ihre Träume glauben und ihnen nachgehen, wenn es ihrer Schwester so schlecht geht? Vor allem da Harper teilweise richtig gemein zu ihr ist: Hält sich nicht an Versprechen, verpetzt Nell bei ihrem Vater und ist patzig. “Harper versucht zwar ein guter Mensch zu sein, aber sie muss sich dafür ziemlich anstrengen. Nettsein ist einfach nicht ihr Ding. Und ohne Haare ist sie noch fieser geworden. […] Als sie ihr zum ersten Mal ausgefallen sind, habe ich ihr erlaubt, mir auch den Kopf zu rasieren. Für eine bittersüße Weile saßen wir gleich aus. Zwei außerirdische Bowlingkugeln. Aber dann wuchsen meine Haare nach, und das hat mir meine Schwester nie verziehen.” (Zitat S.25) Wie genau diese Beziehung skizziert ist, das liest sich besonders berührend und authentisch. Gerade weil die Gefühle der Schwestern so vielschichtig sind: “Harper hasst mich nicht”, sage ich kläglich. “Sie liebt mich. Es ist kompliziert. Sie hasst nur, wie sehr sie mich
braucht.” (Zitat S.86) Der Roman ist durchgängig aus Nells Sicht in der Ich-Perspektive geschrieben. Nur ein paar Mal wechselt die Perspektive zu Lukas und gibt einen Blick frei auf einen Teil seiner Gedanken und Handlungen, die äußerst erschreckend sind. Denn Nells verlorene Geldbörse und ihren Pass, die hat kein unbekannter Dieb geklaut — die hat er! “Er verbrennt ihren britischen Pass, Seite für Seite, lässt das Feuerzeug züngeln. An den Flug, den sie versäumt, verschwendet er keinen Gedanken. […] Er betrachtet die Spiegelung ihres roten Haars, die Angst in ihrem englischen Stadt-Gesicht. Das hat seinem Rudel am meisten Spaß gemacht: zu beobachten, wie die Beute unter Druck reagiert. Wie leicht gibt sie auf?” (Zitat S.48) Was für ein Spiel spielt er mit ihr? Was hat er vor? Wie viel “Wolf” steckt noch in ihm? Der Roman, der in manchen Elementen einem Thriller gleicht, liest sich dramatisch und fesselnd. Auch wenn die Protagonistin zeitweise etwas naiv erscheint, so möchte man das Buch vor allem am Ende kaum aus den Händen legen!
Fazit: “The Hurting: Als du mich gestohlen hast” ist ein vielschichtiger, tiefgründiger Roman. Überraschend, anders und heftig.
Von der Stimmung her hat mich das Buch irgendwie ein bisschen an den “Märchenerzähler” von Antonia Michaelis erinnert, in dem ebenfalls eine Liebesgeschichte beschrieben wird mit einem Jungen, der etwas Unheilvolles zu verbergen hat. Etwas Dunkles an sich haben auch die Protagonistin in “In einer Sommernacht wie dieser” von Tanja Heitmann und in “Die Tiefen deines Herzens” von Antje Szillat, welches sehr atmosphärisch beschrieben ist. Ein wenig musste ich ebenso an das schon etwas ältere “Ich wünschte, ich könnte dich hassen” von Lucy Christopher denken. Vielleicht könnte auch “Lilienblut” von Elisabeth Herrmann etwas für dich sein. Oder hinsichtlich der Krebsgeschichte und der Beziehung der beiden Schwestern vielleicht auch “Alle meine Leben” von Sarah Wylie.
Bibliografische Angaben:Verlag: Chicken House ISBN: 978-3-551-52112-5 Erscheinungsdatum: 28.Februar 2019 Einbandart: Hardcover Preis: 17,00€ Seitenzahl: 368 Übersetzer: Sophie Zeitz Originaltitel: "The hurting" Originalverlag: The Chicken House Britisches Originalcover:
Ein kurzer Trailer:
Kasimiras Bewertung:
(4,5 von 5 möglichen Punkten)
-------------------------------------------- Britisches Cover: Homepage von Lucy van Smit