“Jeden Tag ein bisschen mehr” von der englischen Autorin Louisa Reid ist ein richtig schöner Schmöker. Eine Geschichte über ein junges Mädchen, das an einer namenlosen Krankheit leidet, über das Anderssein, das Erwachsenwerden und das Freisein. Und die Geschichte einer aufkeimenden Liebe. Opulent (560 Seiten!), atmosphärisch und intensiv. Mit einer teils sehr poetischen Sprache. Ich habe schon lange kein Buch mehr gelesen, das so ergreifend geschrieben ist. Diese Autorin (“In deinem Licht und Schatten”) darf einfach kein Geheimtipp mehr bleiben! Für Jugendliche ab 14 Jahren und Erwachsene.
Die 16-jährige Audrey, ihr fünfjähriger Bruder Peter und ihre Mutter ziehen in ein abgelegenes Haus in einer noch abgelegeneren Kleinstadt. “Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte, […] Aber dieses Haus mit seinen scharfen Kanten und leeren Fenstern erinnerte mich an mit Paketband verklebte Schachteln, weggepacktes Leben, staubig und sterbend. Immerhin war der Garten schön, septembergrün und golden. Und der blaue Himmel erstreckte sich nach allen Seiten ins Unendliche.” (Zitat aus “Jeden Tag ein bisschen mehr” S.16/17). Der Umzug ist ein Neuanfang. Ein Versuch, die Vergangenheit zu vergessen. Eine neue Schule. Neue Nachbarn. Neue Fragen und wenige Antworten. Das stellt auch der junge Leo bald fest, der seit Kurzem bei seiner Tante nebenan lebt. Audrey redet nicht viel. Mit ihrem kleinen Bruder ist sie am liebsten für sich. Und doch ist Leo von diesem Mädchen irgendwie fasziniert. Sein Therapeut hat ihm geraten, sich Freunde zu suchen. Audrey könnte diese Freundin sein. Aber etwas umgibt dieses Mädchen. Eine Krankheit? Ein Geheimnis? Eine dunkle Vergangenheit? Langsam aber sicher findet Leo mehr über sie heraus. Doch mit dem, was da auftaucht, hätte niemand gerechnet…
“Jeden Tag ein bisschen mehr” ist eine äußerst faszinierende, geheimnisvolle Geschichte. Ein Buch wie eine blütenblattreiche Blume, die man erst Schicht für Schicht ablösen muss, um zu ihrer Knospe, zu ihrer Wahrheit, vorzudringen. Der Roman wird abwechselnd aus der Sicht von Audrey und von Leo erzählt, wobei die Unterschiede hierbei nicht nur das Schriftbild betreffen (Leos Teil wirkt blasser gedruckt), sondern auch die Erzählart. Bei Leo wird die personale Perspektive (“er”-Sicht) verwendet, bei Audrey die Ich-Perspektive, was dazu führt, dass der Leser deutlich näher an ihr dran ist. Denn vor allem sie betreffen die geheimnisvollen Andeutungen: “Mums Stimme hallte aus den Wänden, und ich sah sie breitbeinig vor mir stehen. Du bist ein Opfer, Aud, sagte sie, ein geborenes Opfer. Und trotz ihres besorgten Tonfalls konnte ich fühlen, dass sie der Meinung war, es sei meine eigene Schuld. Aber an dieser Schule würde alles anders sein. Ich war anders. Ich würde mich nichts mehr gefallen lassen.” (Zitat S.62) Was ist an ihrer früheren Schule passiert? Warum ist die Familie umgezogen? Was für ein Feuer hat es gegeben? Und warum ist der Vater nicht mehr bei ihnen? Besonders Audreys Gesundheitszustand scheint das größte Geheimnis zu sein. “Geht’s dir wieder besser, Aud?” (Zitat S.27) fragt ihr kleiner Bruder. “Du willst doch auch, dass es dir besser geht, oder?” (Zitat S.28) sagt ihre Mutter. Hat Audrey “nur” eine Depression, wie in dem einleitenden Prolog erwähnt wird? Sie, die als Kind beinahe drei Mal gestorben war und von ihrer Mutter gerettet wurde. Oder steckt da mehr dahinter? Und was ist mit ihren Armen? Louisa Reid versteht es auf geschickte Weise unterschwellige Spannung zu erzeugen, manche Themen nur anzuschneiden oder darüber hinwegzugehen, ohne genauere Erklärungen zu liefern.
Beispielsweise hört Audrey einfach gar nicht zu, was ihre Mutter dem Arzt erzählt. Oder Leo bemerkt zwar ihre Arme, kommentiert es aber nicht und schiebt den Gedanken daran beiseite. Erst nach und nach werden Geheimnisse gelüftet, was einen großen Reiz der Geschichte ausmacht. Sehr gut gefallen hat mir — neben dem herausragenden Cover — auch die Umsetzung von Stimmungen und Gefühlen der Protagonisten. Audrey erfährt zum Beispiel, dass Peter in seiner neuen Schule von den anderen Kindern ausgeschlossen wird, mitspielen darf, eben weil er neu ist. “Dann eben morgen”, sagte ich [Audrey]. “Morgen bist du nicht mehr neu.” “Ich weiß nicht, Aud. Vielleicht ja schon.” Er schaute mich mit großen Augen an, und ich konnte sehen, dass er in Gedanken die Tage zählte und versuchte herauszufinden, wann man nicht mehr anders war.” (Zitat S.56) Dabei verwendet Louisa Reid eine sehr bildhafte, dichte und klangvolle Sprache. Manche Stellen möchte man sich zuweilen fett anstreichen, um sie später erneut zu lesen. Auch schafft die Autorin wunderbare Bilder, die Wahrheiten deutlich machen und den Leser noch intensiver in die Stimmung der Hauptfigur eintauchen lassen: “Es klingelte, und der Raum füllte sich mit Mädchen, die im Gegensatz zu mir Blumensträußen glichen. Leuchtend und glänzend, frisch gepflückt, ihre Blüten arrogant zur Schau stellend. Als wären sie unberührbar, als würden sie nie darüber nachdenken, was Zeit, was Zukunft oder was Wörter wie diese wirklich bedeuten. Als glaubten sie, dass alles immer so bleiben würde. Dass niemand ihnen je den Sonnenschein nehmen würde, oder das auch nur konnte.” (Zitat S.50) Ein Bild ist ebenso gelungen wie erschreckend und offenbart eine Thematik, die das Buch tief durchdringt und für besondere Dramatik sorgt: “Meine Mutter war der Mond. Zunehmend. Abnehmend. […] Ich konnte mich nur so bewegen, wie sie es erlaubte. Mein Körper war wie die Gezeiten, fest mit ihr verknüpft. Jetzt entzog ich mich ihr, würde aber schon bald wieder zu ihr zurückkehren.
Sie würde mich so an sich zerren, wie nur sie es konnte.” (Zitat S.160/161). Teilweise war die Geschichte so ergreifend und emotional erzählt, dass ich das Buch kaum aus der Hand legen konnte! Die Liebesgeschichte hingegen ist ganz zart und behutsam erzählt, stellt für Audrey ein kleines Stück Freiheit und Unabhängigkeit von der überbehütenden Mutter dar: “Und in diesem Augenblick verstand ich alles: dass Glücklichsein bedeutete, so geliebt zu werden, wie man war, ohne Einschränkung und ohne Zögern, ohne zurückzuweichen, aufs Handy zu schauen oder sich zu fragen, was die anderen dachten. Es bedeutete Vertrauen. Glauben. Bedeutete zu wissen, dass die Liebe, die man gab, im Herzen des anderen sicher aufgehoben war.” (Zitat S.253) Man merkt jedoch beim Lesen, dass es ein Hauptthema der Autorin ist (wie auch in ihrem vorigen Buch), die Befreiung eines Menschen zu schildern, der in einer emotionalen Abhängigkeit befindet und lernen muss, sich selbst zu finden und auf eigenen Füßen zu stehen. Die Bewältigung dieses nicht gerade leichten Balance- und Kraftakts zu erzählen ist Louisa Reid in “Jeden Tag ein bisschen mehr” zweifelslos gelungen! Jedoch muss ich zum Ende sagen, dass es irgendwie doch zu schnell vorbei war. Ein paar mehr Informationen hätte ich mir noch gewünscht…
Fazit: Ein ganz besonderes, höchst dramatisches Buch, das ich definitiv empfehlen kann!
Wenn dir “Jeden Tag ein bisschen mehr” gefallen hat, dann lies unbedingt noch den ersten Roman der Autorin, der völlig unabhängig zu lesen ist: “In deinem Licht und Schatten”, die Geschichte zweier Schwestern, ebenfalls sehr berührend und emotional erzählt. Eine Neuheit, die sprachlich schön zu lesen und in der auch die Wahrheit erst langsam ans Licht kommt, ist “Solange wir lügen” von E.Lockhart. Zusammenpuzzeln was passiert ist, darf man ebenso in “Zertrennlich” von Saskia Sarginson. Eine richtig gute Alternative ist zudem “Du neben mir und zwischen uns die ganze Welt” von Nicola Yoon, das einige inhaltliche Parallelen zu “Jeden Tag ein bisschen mehr” aufweist. Selbiges tut “Liebeskinder” von Jana Frey, das auch sehr zu empfehlen ist. Eine gestörte Mutter-Tochter-Beziehung findest du ebenfalls in “Back to blue” von Rusalka Reh.
Bibliografische Angaben:Verlag: Fischer ISBN: 978-3-8414-2229-3 Erscheinungsdatum: 24.September 2015 Einbandart: Hardcover Preis: 16,95€ Seitenzahl: 560 Übersetzer: Birgit Maria Pfaffinger Originaltitel: "Lies like love" Originalverlag: Penguin Englisches Originalcover:
Englischer Trailer:
Kasimiras Bewertung:
(5 von 5 möglichen Punkten)
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