„Scherbenmädchen“ von der amerikanischen Autorin Liz Coley ist ein Thriller, der an die Substanz geht. Ein heftiges Buch über Entführung, Verdrängung und die Spaltung einer Persönlichkeit. Besonders in Frankreich ein großer Bestseller. Hochgradig fesselnd und verstörend. Nichts für Zartbesaitete. Aber wahrlich eines der besten Bücher, das ich dieses Jahr gelesen habe! Für Jugendliche ab 14 Jahren und Erwachsene.
Angie ist 13 Jahre alt, als sie in einem Pfadfinderzeltlager morgens zum Pinkeln in den Wald geht. Sie wird nie mehr in das Lager zurückkehren. Denn im Unterholz wartet jemand auf sie, der sie zu entführen wagt. Dann plötzlich findet sich Angie auf der Straße wieder, die zum Haus ihrer Eltern führt. In der Hand hat sie eine Tüte mit Kleidungsstücken, die sie nicht kennt. Was ist passiert? Angie kann sich an nichts mehr erinnern.
„Angie, wo… Wo bist du gewesen?“ „Das weißt du doch.“ Wieder zog sich ihr Magen schmerzhaft zusammen. „Zelten?“ Die Art, wie ihre Eltern sie anstarrten, machte ihr das Atmen schwer. „Zelten“, sagte sie noch einmal entschlossen. Dad kam die Treppe herunter. „Zelten“, wiederholte er. „Zelten?“ Seine Stimme wurde schrill. „Drei Jahre lang?“ (Zitat aus “Scherbenmädchen” Seite 16).
Aber scheinbar sind drei Jahre vergangen. Das sagen zumindest ihre Eltern. Eine lange Zeit, an die sie sich einfach nicht erinnern kann. Das kann doch nicht sein, oder? Doch das Gesicht im Spiegel spricht da eine andere Sprache: der Körper einer 16-Jährigen schaut ihr entgegen. Erst allmählich und mit der Hilfe einer Psychologin kommt Angie dahinter, dass in ihr vier Persönlichkeiten zutage getreten sind: Pfadfinderin, Kleine Frau, Engel und Petze. Und die haben all das Schreckliche, das sie erleben musste, an das sie nach wie vor keine Erinnerung hat, ertragen. Nur jede ihrer Persönlichkeiten kennt einen Teil der Wahrheit. Aber wird Angie es ertragen, die Puzzleteile ineinander zu fügen? Oder wird sie daran zerbrechen?
„Scherbenmädchen“ beginnt mit einem Prolog, der den Leser sofort in das Geschehen hineinversetzt. Er schildert die Erlebnisse des Entführungstages. Und er endet mit der Abspaltung ihrer Persönlichkeiten:
„Zwischen deinen Schläfen breitete sich ein stechender Schmerz aus. […] Einen kurzen Augenblick lang hast du dich zu einem winzigen festen Lichtpunkt zusammengeballt und gespürt, wie du von deinem Körper abgetrennt wurdest. Du hast dich versteckt. Und wir haben dich verborgen gehalten, bis zu wieder in Sicherheit warst. Es war eine sehr lange Zeit.“ (Seite 11)
Diese außergewöhnliche Sichtweise auf eine dissoziative Störung zu erhalten, stellt den besonderen Reiz des Buches dar. Denn es wird nicht nur aus Angies Sicht, sondern auch aus der der anderen Persönlichkeiten erzählt, die zuweilen zu Wort kommen, Erklärungen liefern und für immer mehr Zusammenhänge sorgen, um die Puzzleteile aneinander zu fügen. Vor allem greifen diese Persönlichkeiten noch immer in Angies Leben ein. Sie schreiben ihr Briefe, sprechen ihr auf Band, ziehen verruchte Kleidungsstücke an oder lassen einen Slip im Supermarkt mitgehen. Doch sie schützen Angie auch, vor dem Unheil, das immer noch in ihr Leben eindringt. Ein ungeheuerlicher Verdacht lässt sie bald begreifen, dass sie auch schon vor ihrer Entführung eine innere Person in sich hat entstehen lassen. Eine, die sie gebraucht hat, weil sie etwas Schlimmes nicht ertragen hat.
„Scherbenmädchen“ liest sich durchweg unterhaltsam und spannend. Ich konnte es kaum aus der Hand legen! Dieser Roman sollte sich definitiv einreihen, in die Armada an Bestsellern der Problemliteratur wie „Tote Mädchen lügen nicht“ von Jay Asher, „Bevor ich sterbe“ von Jenny Downham, „Die Welle“ von Morton Rhue und „Nichts: Was im Leben wichtig ist“ von Janne Teller.
Jedoch ist mir am Ende des Romans ein kleiner Logikfehler aufgefallen: ««««««ACHTUNG SPOILER:»»»»»» Als das Foto des Entführers veröffentlicht werden soll (ohne die Entführung zu erwähnen), damit die Öffentlichkeit über den Verbleib des Mannes in den letzten Jahren vielleicht etwas beisteuern könnte, vermuten alle bereits, dass die Presse eins und eins zusammenzählen würde und darauf kommt, wer dieser Mann ist. Gegen Ende als Angie sich entschließt den Eltern von Sam nichts zu erzählen, erfahren diese jedoch, wer der Vater ihres Kindes ist. Dabei würden diese nun doch erst recht erfahren, dass Angie die Mutter ist, wenn die Presse eins und eins zusammenzählt! Schade, fand ich auch, dass man nicht mehr erfährt, wie der Entführer tatsächlich gestorben ist, da hätte ich noch eine haarsträubende Auflösung (von Engel) erwartet. ««««««ENDE SPOILER»»»»»»
Fazit: Trotz allem ein wirklich sehr lesenswertes Buch, das man nicht so schnell vergessen wird!
Im Jugendbuch gibt es einige Bücher, die sich mit dissoziativen Störungen auseinandersetzen: „Der Scherbensammler“ von Monika Feth und die Neuerscheinung „Ich und mein anderes Leben“ von Katrina Leno. Viele Titel spielen auch mit dem Motiv einer Persönlichkeitsspaltung und überraschen den Leser damit: „Böser Bruder, toter Bruder“ von Narinder Dhami (genial!), „Tote Mädchen schreiben keine Briefe“ von Gail Giles (leider nicht so bekannt, klasse!), „Böse, böse“ von Elizabeth Woods, „1000 Mal gedenk ich dein“ von Heike E. Schmidt (sehr spannend! und etwas Neuer: “Als ich dich suchte” von Lauren Oliver.
Wenn du psychologische Romane magst, in denen du erst Schritt für Schritt hinter das Verhalten der Protagonistin kommst, dann wären „Vergissdeinnicht“ von Cat Clarke etwas für dich oder „Zertrennlich“ von Saskia Sarginson. Sehr bewegend fand ich auch „In deinen Licht und Schatten“ von Louisa Reid.
Das Thema Entführung findet sich auch auf sehr heftige Weise wieder in „Bunker Diary“ von Kevin Brooks (eines seiner besten Bücher!) oder „Die unterirdische Sonne“ von Friedrich Ani. Oder du kannst natürlich „3096 Tage“ von Natascha Kampusch lesen, das sich mit der Geschichte einer wahren Entführung beschäftigt.
Bibliografische Angaben: Verlag: Bastei Lübbe ISBN: 978-3-404-17518-5 Erscheinungsdatum: 24.April 2017 Einbandart: Taschenbuch Preis: 9,90€ Seitenzahl: 320 Übersetzer: Susanne Klein Originaltitel: "Pretty Girl 13" Originalverlag: Harper Collins Amerikanisches Originalcover: Deutsches Originalcover: Trailer zum Buch (englisch):
Kasimiras Bewertung:
(5 von 5 möglichen Punkten)
Dieser Titel hat es in folgende Kategorie geschafft: **Kasimiras Lieblingsbücher**
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Ich fand das Buch sehr gut dennoch ist mir aufgefallen, dass sehr viele Rechtschreibfehler vorhanden sind und die verschiedenen Teilpersönlichkeiten haben mich ein bisschen verwirrt, da sie komische Namen trugen z.B. Petze? Aber im Ganzen ist das Buch sehr gut ACHTUNG SPOILER: Ich finde es sehr spannend, dass der junkel von Angie sie misshandelt hat, dennoch stören die Rechtschreibfehler
Faszinierendes Buch — vielen Dank für die Rezension/Beschreibung. Es war teils sehr verwirrend, aber doch im holistischen Gesamtbild sehr treffend beschrieben. Mir hat es sehr gut gefallen!
Liebe Grüße!