“Sowas wie Sommer, so was wie Glück” ist der erste Roman, der von der dänischen Schriftstellerin Lise Villadsen ins Deutsche übersetzt wurde. Die Autorin, die für ihre Bücher über besondere Familienstrukturen und psychische Probleme bekannt ist, setzt auch in dieser Geschichte ein junges Mädchen in den Mittelpunkt, deren ältere Schwester unter Ängsten und Erschöpfungszuständen leidet und die das ganze Familienleben dadurch auf den Kopf stellt. Denn kann man das Erwachsenwerden, die erste große Liebe genießen, wenn es jemand Anderem schlecht geht? Der schmale Grat zwischen Selbstaufgabe, Fürsorge und der Sehnsucht, unbeschwert und glücklich zu sein — Lise Villadsen hat diesen sehr gut getroffen. Mit feinfühliger und äußerst sensibler Art gelingt es ihr das komplexe Geflecht einer Familie zu beschreiben, die ins Straucheln geraten ist. Berührend und nachdenklich machend. Für Jugendliche ab 13 Jahren und interessierte Erwachsene.
Die 17-jährige Astrid plant mit ihrem besten Freund Jonas eine Interrail-Tour. Darauf freut sie sich schon sehr. Doch nicht immer kann sie ihre Vorfreude auf die Reise genießen. Denn oft geht es ihrer großen Schwester Cecilie sehr schlecht. “Im Moment braucht meine Schwester mich besonders. Manchmal kommt es mir so vor, als könnte ich sie besser spüren als mich selbst. Als wäre ihr Körper ein Magnet, der meinen anzieht.” (Zitat aus “Sowas wie Sommer, sowas wie Glück” S.8) Cecilie, die 19 ist, leidet schon seit vier Jahren immer wieder an Ängsten und Erschöpfungszuständen. Angefangen hat es mit Bauchschmerzen. Sie waren schon bei den unterschiedlichsten Ärzten. Vieles traut sie sich nicht mehr zu. Kann manchmal gar nicht zur Schule gehen oder bekommt dort Panikattacken und flüchtet dann auf die Toilette, wo sie Astrid eine Nachricht schickt. “Ich bekomme… keine… keine… Luft.” Cecilie atmet in kurzen Stößen. “Soll ich Mama anrufen?” “Ich weiß… nicht.” “Okay. Willst du lieber…” Sie beißt sich auf den Knöchel. Ich kann ihr fast ansehen, wie sie sich im Kopf die Worte vorspricht, von denen sie mir mal erzählt hat: >Nicht kotzen, nicht umkippen, keine Szene machen.<” (Zitat S.13) Ein Arzt sprach von einer Winterdepression. Doch Cecilies Zustand wurde nicht besser. Vor allem die bevorstehenden Abschlussprüfungen machen ihr stark zu schaffen. “An den meisten Tagen war Cecilie einfach wie ausgeknipst, wenn sie aus der Schule kam, wurde zu einem schwarzen Bildschirm im Ruhezustand, machte nichts anderes, als in ihrem Zimmer zu liegen, zu schlafen und noch mehr zu schlafen” (Zitat S.19) Astrid ist immer für ihre Schwester da. Kümmert sich um sie, wenn es ihr schlecht geht. Doch dann kommt sie Kristoffer näher. Der Junge, der vor sieben Jahren weggezogen ist und deren Nachbarn sie früher waren und mit dem sie sich immer gut
verstanden hatten. Der nun wieder auf ihre Schule geht. “Ich fand schon immer, dass er besonders wirkt, mit den dunklen Haaren, die er von seinem grönländischen Vater geerbt hat, und den dunkelblauen Augen, die er von seiner Mutter hat. Es ist bloß ein Jammer, wie sehr er ausstrahlt, dass er ganz genau weiß, wie gut er aussieht.” (Zitat S.15) Kristoffer fragt nach Cecilie. Will wissen, was mit ihr los ist. Und irgendwie findet Astrid ihn auch ganz nett, auch wenn sie sich so manche Wortgefechte liefern. Allmählich kommt sie ihm näher, entwickelt Gefühle für ihm. Doch darf es ihr gut gehen, darf sie glücklich sein, wenn es ihrer Schwester schlecht geht?
Das Cover hat etwas sehr Leichtes, Verträumtes an sich, wirkt wunderschön, auch wenn man nicht wirklich ahnt, dass sich eine ernste Thematik hinter dem Buchdeckel verbirgt. Der Roman ist durchgehend aus Astrids Sicht in der Ich-Perspektive geschrieben. Im Mittelpunkt stehen die zwei Schwestern, die ein enger Zusammenhalt miteinander verbindet. Die Ängste von Cecilie werden sehr authentisch dargestellt, die Sorge, die Astrid erfüllt, wenn sie ihre Schwester leiden sieht: “Das Weinen meiner Schwester ist ein feuchter, schwerer Sumpf, in dem ich feststecke, und ich ertrage den Gedanken nicht, dass sie heute nicht dabei ist. Dass sie ihren letzten Schultag verpasst. Was wird sie sonst noch verpassen? Das ist etwas, worüber ich in letzter Zeit immer öfter nachdenke. Wie das Leben meiner Schwester wohl sein wird. Ob es überhaupt etwas sein wird.” (Zitat S.42ff) Die Sprache in “Sowas wie Sommer, sowas wie Glück” ist einfach und sehr flüssig. Es ist kein Roman der großen Geschehnisse, eine stille, leise Geschichte, die sich sehr auf Zwischentöne und Gefühle konzentriert, aber dennoch seine Leser unweigerlich in einen Bann zieht. Man möchte mehr erfahren über diese Mädchen, über ihr Schicksal und merkt gleichzeitig, dass sich das Verhältnis zwischen ihnen allmählich verändert. Dass das Erwachsenwerden und das Sehnen nach Freiheit und Unbeschwertheit einen Keil zwischen sie treibt und auch eine gewisse Abhängigkeit voneinander entstanden ist, die allmählich von der Hauptprotagonistin in Frage gestellt wird: “Was denn?” “Ach, nichts. Ich fühl mich nur so geborgen.” Sie bohrt die Nase in meinen Oberarm. “Gerade jetzt, in diesem Augenblick. So richtig geborgen.” Meine
Brust schmerzt, als sie das sagt. Wie eine kleine summende Biene, die unter die Bluse krabbelt und zusticht. “Das ist gut”, sage ich, aber ich weiß nicht, ob das stimmt, und ich weiß nicht, warum ich das denke.” (Zitat S.58) Gerade die widersprüchlichen Empfindungen von Astrid versteht die Autorin äußerst gut in Worte zu fassen, verwendet stimmungsvolle Bilder und beschreibt das komplexe Familiengefüge, bei dem auch ihre Eltern große Anteile spielen, auf sehr sensible Art und Weise: “Und dann will ich sie so fest schütteln, dass ihre Zähne aufeinanderschlagen, und ich will sie fragen, ob sie nicht kapiert, wie sinnlos ihr Verhalten ist und wie lächerlich. Ob sie nicht versteht, dass sie alles kaputt macht, wenn sie so dasitzt und die Stimmung ausstrahlt, die sie ausstrahlt.” (Zitat S.68) Dass Hilfe notwendig ist, auch für die gesamte Familie, ist offensichtlich und wird am Ende des Buches deutlich angesprochen. Hier hätte ich mir noch ein paar mehr Informationen gewünscht, wie genau es mit Cecilia weitergeht, das war fast ein bisschen zu offen. Ebenfalls ein paar Hilfsangebote für Jugendliche, die sich in ähnlichen Situationen befinden — in einem Anhang — wären sinnvoll gewesen. Dennoch ist das Ende realistisch gestaltet und lässt zudem das Auf- und Ab der sich entwickelnden Liebesgeschichte passend ausklingen.
Zwei Romane, an die ich als Lesealternative sofort denken musste, sind “Es geht ja bloß um den Rest meines Lebens” von Anne Hoffmann und “Alles. Nichts. Und ganz viel dazwischen” von Ava Reed. Weitere Bücher, in denen Panikattacken eine Rolle spielen, sind “Verrückt vor Angst” von der Reality-Vielschreiberin Jana Frey, “Klippen springen” von Claire Zorn (bewegend), “Schau mir in die Augen, Audrey” von Sophie Kinsella und “Follow me back” von A.V. Geiger. Ein Junge, der das
Haus aufgrund von Ängsten schon seit langer Zeit nicht mehr verlassen hat, das findest du in “Hochgradig unlogisches Verhalten” von John Corey Whaley und in dem brillanten “Born scared” von Kevin Brooks. Sehr gelungen fand ich zudem “Mein Sommer auf dem Mond” von Adriana Popescu, in welchem sich ein paar Jugendliche in einer psychiatrischen Einrichtung ihren Problemen stellen müssen (u.a. auch ein Mädchen mit einer Angststörung). Einen Heilungsweg gehen, das tun ebenso die Hauptfiguren in dem gelungenen “Clean” von Juno Dawson. Psychische Ausnahmezustände auf sehr einfühlsame Art und Weise beschreiben, das kann zudem natürlich Bestsellerautor John Green in “Schlaft gut, ihr fiesen Gedanken”, welches neben Ängsten ebenso Zwänge thematisiert. Ein Buch, an das ich beim Lesen von “Sowas wie Sommer, sowas wie Glück” auch sofort denken musste, ist “Graue Wolken im Kopf” von Juliane Breinl, in dem die Protagonistin zunächst nicht wirklich versteht, was mit ihr plötzlich los ist und schließlich die Diagnose Depression erhält. Romane über Depressionen gibt es im Jugendbuch einige. Eine weibliche Hauptfigur, der dies passiert, erlebst du in “Schwarze Zeit” von Jana Frey (sehr flüssig geschrieben), in “Was uns bleibt ist jetzt” von Meg Wolitzer und in “Mein Herz und andere schwarze Löcher” von Jasmine Warga. Einen männlichen Protagonisten findest du in “Eine echt verrückte Story” von Ned Vizzini, “Allein unter Schildkröten” von Marit Kaldhol (sehr heftig!) und “Das hier ist kein Tagebuch” von Erna Sassen (zwei Mal nominiert für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2016).
Bibliografische Angaben:Verlag: Dressler ISBN: 978-3-7512-0189-6 Erscheinungsdatum: 8.März 2022 Einbandart: Hardcover Preis: 18,00€ Seitenzahl: 256 Übersetzer: Meike Blatzheim Originaltitel: "Kvantespring" Originalverlag: Gyldendal Dänisches Originalcover:
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