“Es muss ja nicht perfekt sein” ist der zweite Roman der australischen Autorin Krystal Sutherland. Die Geschichte einer Familie, die mit Ängsten kämpft und dem Tod, der allgegenwärtig scheint. Mitten darin ein Mädchen, die sich all diesem stellen will und der die Liebe über den Weg stolpert. Ergreifend, tiefschürfend und sehr detailgetreu. Ein bisschen skurril, aber auch äußerst tragisch. Für Jugendliche ab 13 Jahren und interessierte Erwachsene.
Im Leben der 17-jährigen Esther ist nichts normal. Es beginnt schon mit dem Haus, in dem sie und ihre Familie wohnen: “Das Haus der Solars war ein riesiges, viktorianisches Gemäuer, in dem sogar das Licht irgendwie diesig und verblasst wirkte. […] Es war die Art von Haus, in dem Geister durch Wände gehen oder bei dem Nachbarn glauben, die Bewohner können verflucht sein.” (Zitat aus “Es muss ja nicht perfekt sein” S.17) Überall ist Isolierband über die Lichtschalter geklebt, denn die Familie mag es gerne hell. Auch nachts. Eigentlich pausenlos. Damit die Nachbarn sich über die ständige Helligkeit nicht beschweren, haben sie hohe Bäume um das Haus herum wachsen lassen. Und um sich vor bösen Blicken zu schützen, hat Esthers MutterRosemary lauter Amulette in die Zweige der Bäume gehängt: “Hunderte von den Scheiben aus blau-schwarz-weißem Glas ließen seither bei jedem Windhauch eine unheimliche Melodie erklingen.” (Zitat S.16). Rosemary, die ihr Einkommen durch Glücksspiel zu erstreiten versucht, hat vor allem Angst vor Pech. Deshalb zieren Linien aus Salz sämtliche Eingänge. Es hängt ein Hufeisen über der Tür. Und weil eine Hasenpfote Glück bringt, und vier Stück noch viel mehr, laufen in der Küche immer ein paar Kaninchen umher. Dazu noch ein bösartiger Hahn, der angeblich ein Kobold ist. Esthers Vater Peter geht es auch nicht unbedingt besser. Seit er einen Schlaganfall im Keller erlitten hatte, wagt er sich vor lauter Angst nicht mehr nach oben. Schon seit sechs Jahren hat er den Keller nicht verlassen. Und allmählich besucht ihn kaum jemand aus der Familie noch dort unten. Dann gibt es noch Eugene, Esthers Zwillingsbruder, dem sie äußerlich rein gar nicht gleicht. Er hat Angst vor Monstern und Geistern, die im Dunkeln auf ihn lauern, weshalb er die Dunkelheit meidet. Was Esthers größte Angst ist, das weiß sie noch nicht so genau. Aber Panik zu haben, das kennt sie: “Angst, die sich wie ein vierzackiger Anker anfühlte, den man ihr in den Rücken gerammt hatte. Je eine Spitze schien sich durch einen Lungenflügel, das Herz und die Wirbelsäule zu bohren. Das Gewicht zog einen gebeugt nach unten, wie zu den trüben Tiefen des Meeresbodens.” (Zitat S.29) Darum hat sie begonnen alles, was ihr nur ein wenig Angst macht, auf eine Liste zu schreiben und fortan zu meiden. Denn auf ihrer Familie scheint ein Fluch zu liegen. So hat es ihr Großvater, der mittlerweile im Altersheim lebt, ihnen erzählt. Und davon zeugen auch die bereits verstorbenen Familienmitglieder der Familie Solar. Ein Onkel, der Angst vor Infektionen hatte und aufgrund seiner übertriebenen Vorsichtsmaßnahmen schließlich an einer einfachen Erkältung starb. Ein Cousin von Esther, der Angst vor Bienen hatte und auf der Flucht vor diesen in eine Schlucht stürzte und tödlich verunglückte. Erst als Jonah, der Junge, der Esther in der Grundschule am Valentinstag hat sitzen lassen, wieder auftaucht, beginnt Esther — gemeinsam mit ihm — sich dem Fluch ihrer Familie zu stellen: sie will jede ihrer auf der Liste stehenden Ängste überwinden, um so vielleicht ihre Familie zu retten…
“Es muss ja nicht perfekt sein” hat ein eher unscheinbares, aber doch schönes Cover. Wobei ich mich immer noch frage, was die Wassermelone, die im Buch selbst nicht auftaucht, bedeuten soll. Das englische Cover (siehe unten) ist da doch etwas deutlicher geworden. Der Roman ist aus der Sicht eines auktorialen Erzählers geschrieben, der jedoch Esther stark in den Vordergrund stellt und sich selbst sehr zurückhält. Immer wieder gibt es auch Auflistungen im Erzähltext. Was in der Geschichte im Mittelpunkt steht, ist auf jedem Fall das Thema Angst. Angst in allerlei Formen, die eine Familie komplett im eisernen Griff hält: “Einerseits wollte sie die Mutter an sich ziehen, ihre Wange streicheln und ihr versichern, dass alles gut würde; andererseits hätte sie sie am liebsten von sich gestoßen. Dieses dunkle Verlangen fühlte sich an wie Säure, die in ihrem Inneren auslief. Weil es einfach unfair war. Unfair, dass ihre Mutter so geworden war. Unfair, dass alle Solars dazu verdammt waren, in so lächerlicher Angst zu leben.” (Zitat S.22) Gleichzeitig offenbart sich unheimlich viel Tragik, wenn man sieht, wie verwahrlost die Kinder in dieser Familie leben. Die Mutter, die aufgehört hat sich für ihre Kinder zu interessieren und jeden Abend nur noch dem Glücksspiel nachgeht. Die teilweise die Rechnungen nicht mehr bezahlen kann und sich immer wieder Geld von anderen leihen muss. Die ihre Tochter nicht wie vereinbart mit dem Auto abholen kann, weil ihr eine schwarze Katze über den Weg gelaufen ist und Esther deswegen drei Stunden zu Fuß nach Hause laufen muss, weil sie kein Geld für den Bus hat, nachdem sie ein Taschendieb übers Ohr gehauen hat. Der Vater, der keinerlei Erziehungsfunktion mehr ausübt, seit er den Keller nicht mehr verlässt. Aber auch Jonah, der von seinem Vater immer wieder verprügelt wird, offenbart dunkle Seiten, die in einer Familie vorherrschen können. Hier zeigen sich in dem Roman auch immer wieder unerwartete Momente von Klugheit: “Eines Tages”, sagte er, “wacht jeder auf und erkennt, dass seine Eltern auch Menschen sind, genau wie man selbst. Manchmal sind sie gute Menschen, manchmal nicht.” (Zitat S.224) Von klaren, deutlichen Sätzen, die einfangen, wie das Leben sein kann: “Wenn man Leute nah an sich ranlässt, können sie einem wehtun, wenn sie wieder verschwinden.” (Zitat S.119) Das ist auch Esthers Credo, die genau miterlebt hat, wie ihre Mutter an dem Schicksal ihres Ehemanns, der seit dem Schlaganfall und seinem beständigen Kelleraufenthalt ein Wrack ist, zugrunde ging. Kann sie sich jemals auf Jonah einlassen? Der sie immer wieder begleitet und neue Orte mit ihr aufsucht, wo sie sich ihren Ängsten stellen kann. Der Plot des Buches ist gelungen, auch der Schuss Fantastik, der auftaucht, als Esther die Geschichte des personifizierten Todes erzählt, den ihr Großvater immer wieder getroffen hat, und der den Familienfluch begründet, macht einen besonderen Reiz aus; was mir jedoch vor allem im Mittelteil des Buches gehörig gefehlt hat — das ist die entsprechende Dramatik. Zuweilen plätschert der Roman sehr stark vor sich hin. Eine Angst nach der anderen wird abgeklappert. Alles sehr detailliert und ausführlich. Auch die Zeichnung der Charaktere. Ja, es ist ein tiefsinniges Buch, ein unaufhaltsames Spiel gegen den Tod, ein philosophisches Sinnieren und ein Beschäftigen mit Existentiellem und ein leichtes Aufblitzen einer zarten Liebe — aber die Spannungskurve bleibt dennoch im Mittelteil zu geradlinig und die Handlung zu eintönig. So dass ich schon überlegt habe, das Buch doch noch zur Seite zu legen. Was dann aber versöhnt, ist — neben den außergewöhnlichen Charakteren — die Sprache von Krystal Sutherland, die mit zahlreichen Metaphern arbeitet, die äußerst intensiv wirken: “Von außen sah das Haus friedlich aus, aber auf traurige Art. So wie Verstorbene friedlich aussahen, nachdem man sie einbalsamiert und in einem offenen Sarg aufgebahrt hatte.” (Zitat S.296) und “Remy zog sie auf die Füße und schob sie hinaus, während sie “Geh, geh, geh, geh”, flüsterte und Esther zur Haustür brachte. Sie folgte ihr hinaus auf die Veranda, zog sich aber gleich wieder nach innen zurück. Wie ein Immunsystem, das einen Krankheitserreger abstößt.” (Zitat S.297) Gegen Ende hin wird es dann auf jeden Fall richtig bewegend und temporeicher.
Fazit: Wenn man ein bisschen Geduld mitbringt, erwartet einen eine ganz besondere, tiefgründige Geschichte jenseits allen Mainstreams.
Du magst Krystal Sutherlands Erzählstil? Dann lies noch ihr erstes Buch: “Unsere verlorenen Herzen”. Jenes erschien übrigens zwei Jahre später noch einmal unter einem anderen Titel: “Wer fliegen will, muss schwimmen lernen”. Eine Lesealternative zu “Es muss ja nicht perfekt sein” ist neben “Schau mir in die Augen, Audrey” von Sophie Kinsella vor allem “Die tausend Teile meines Herzens” von Colleen Hoover, welches auch von einer Familie erzählt, in der einiges im Argen ist. So lebt hier zum Beispiel die Mutter seit Jahren im Keller und kann wegen einer Angsterkrankung das Haus nicht mehr verlassen. Ebenso in Fragen kommen könnten die Familiengeschichten “Mein wildes blaues Wunder” von Carlie Sorosiak oder (schon etwas älter) “Es wird schon nicht das Ende der Welt sein” von Ali Lewis. Ein wenig musste ich auch an “Alle meine Leben” von Sarah Wylie denken, in der ebenfalls auf ganz besondere Art und Weise gegen den Tod gekämpft wird. Den Ängsten den Kampf ansagen? Das passiert in “Die verrückteste Nacht meines Lebens” von Lauren Barnholdt (sehr passende Lesealternative), in “Schlaft gut, ihr fiesen Gedanken” von John Green und in der Frühjahrsneuerscheinung “Alles. Nichts. Und ganz viel dazwischen” von Ava Reed.
Bibliografische Angaben: Verlag: cbj ISBN: 978-3-570-16523-2 Erscheinungsdatum: 22.April 2019 Einbandart: Broschur Preis: 15,00€ Seitenzahl: 400 Übersetzer: Henriette Zeltner Originaltitel: "A semi-definitive list of worst nightmares" Originalverlag: Penguin Books USA Amerikanisches Originalcover: Amerikanischer Trailer:
Kasimiras Bewertung:
(3,5 von 5 möglichen Punkten)
---------------------------------------- Amerikanisches Cover: Homepage von Krystal Sutherland