Die kanadische Autorin Kim Hood hat mit „Das Schweigen in meinem Kopf“ einen Roman geschrieben, der sich mit dem Anderssein, dem Gehört- und Angenommenwerden beschäftigt. Auch Behinderung und psychische Krankheit spielen eine Rolle. Inhaltlich gesehen kein einfaches Buch, aber eine sehr sehr berühend erzählte Geschichte. Für Jugendliche ab 12 Jahren und interessierte Erwachsene.
Die 13-jährige Jo ist schon seit der ersten Klasse eine Außenseiterin. Kein Wunder, wenn die Mutter wie eine Furie im Klassenzimmer der Lehrerin in aller Lautstärke erklärt, welche Bücher für den Unterricht auf keinen Fall verwendet werden dürfen und munter das Regal aussortiert. Jo’s Mutter ist anders als alle anderen. Sie ist psychisch krank. Schon seit Jahren. Ihre Krankheit ist nicht eindeutig diagnostizierbar. Sie hat starke Stimmungsschwankungen, teilweise Wahnvorstellungen und übertriebene Ängste. Verfällt in Depressionen und ist dann wieder so übermutig, dass sie beim Einkaufen in einer Zoohandlung einfach mal die Wellensittiche aus dem Schaufenster befreit. Das Mädchen lebt alleine mit ihrer Mutter. Nur, wenn sie mal wieder in die Klinik muss, kommt eine Sozialarbeiterin vorbei und ihre Großmutter zieht kurzfristig bei Jo ein. In der Schule wird sie entweder ignoriert oder es wird über sie getuschelt. Jetzt hat sich Jo das erste Mal mit Sarah, einem neuen Mädchen in ihrer Klasse, nachmittags verabredet und es war auch richtig nett. Doch als sie nach Hause kommt, flippt ihre Mutter total aus. Vor Sorge, vor Panik. Ihr nächstes Stimmungstief naht und Jo kann nichts dagegen tun. Nur eines: Sarah aus dem Weg zu gehen. Ihre Freundschaft hat keine Zukunft. Sie muss sich um ihre Mutter kümmern. Deshalb meldet Jo sich auch bei einem Sozialprojekt in der Schule, damit sie die Mittagspause woanders verbringen kann. Nun darf sie sich um einen schwerbehinderten Jungen namens Chris kümmern. Er kann nicht sprechen, hat teilweise Zuckungen an Armen und Beinen und sitzt in einem Rollstuhl. Sie füttert ihn und fängt einfach an, ihm aus ihrem Leben zu erzählen. Denn Chris hört zu. Mit aufmerksamen Augen schaut er sie an. Endlich hat Jo das Gefühl irgendwie verstanden zu werden. Und dann findet sie heraus, woran andere Pflegekräfte und Lehrer gescheitert sind: auf einfache Weise kann man mit Chris sehr wohl kommunzieren…
„Das Schweigen in meinem Kopf“ (mit einem brillanten Cover!) ist durchgehend aus Jo’s Perspektive erzählt. Man kann sich in das junge Mädchen sehr gut einfühlen und nachvollziehen, wie es ihr geht. Jedoch merkt man sehr schnell, wie viel sie sich eigentlich zumutet, dass sie eigentlich nicht „Tochter“ sein kann, sondern eher „Betreuerin“ ihrer Mutter ist. Selbst eine Freundschaft zu einem gleichaltrigen Mädchen ist nicht möglich, eben weil sie das seelische Gleichgewicht ihrer Mutter dadurch gefährden könnte. Jo gibt alles für sie auf. Ihre eigenen Wünsche steckt sie zurück, will nur für ihre Mutter da sein. Jede Gefühlsschwankung führt sie auf eigenes Versagen zurück. Gleichzeitig wünscht sie sich jedoch nichts sehnlicher, als dass ihre Mutter normal wäre und sich beispielsweise einmal für sie interessieren würde, so wie Chris es tut. Eine besondere Freundschaft entsteht zwischen den beiden. Ausgrenzung aus der Gesellschaft ist ihre traurige Gemeinsamkeit. Verständnis und Mitgefühl für den anderen ihre Stärke. Kim Hood schildert ihr Zusammentreffen auf sehr sensible Weise und macht offen für mehr Toleranz gegenüber Behinderten. Die Autorin arbeitet selbst mit behinderten Kindern zusammen, sie ist Sozialarbeiterin im Bereich Erziehung und Therapie. Auch Jo ist in einer Therapie, schafft es aber nicht, über ihre Probleme zu reden. Dies ist wohl auch „Das Schweigen in meinem Kopf“, das sie nicht brechen möchte. Hilfe holen, kommt nicht in Frage, lieber alles alleine meistern. Dass das nicht geht, wird Jo früher oder später jedoch auf schmerzliche Weise bewusst. Die Geschichte nimmt jedoch ein positives Ende und versöhnt den Leser mit der klugen Weisheit: andere um Hilfe zu bitten, ist manchmal der allerbeste Weg, als immer stark sein zu müssen.
Fazit: ein wirklich lesenswertes Buch!
Die beste Alternative zu „Das Schweigen in meinem Kopf“ ist „Mit Worten kann ich fliegen“ von Sharon M. Draper. Hier fehlt zwar das Thema psychische Krankheit, aber die Behinderung der Protagonistin ähnelt sehr der von Chris und nimmt einen vergleichbaren Ausgang. Auch das Thema Außenseitersein wird in diesem Roman besonders schön geschildert. Behinderung gepaart mit jeder Menge Humor findest du in “Simpel” von Marie-Aude Murail, das auch mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet wurde. Eine richtige gute Lesevariante ist auch „Wunder“ von Raquel J. Palacio. Behinderung und Ausgeschlossenwerden fügen sich hier in einer wirklich herzerwärmenden Geschichte zusammen. Ebenfalls eine multiple Behinderung hat die Hauptfigur in „Die Wahrheit über Ivy“ von Kathy Stinson. Hier leidet der Bruder unter der behinderten Schwester. Bücher, in denen die Mutter an einer psychischen Störung (meist Depression) leidet sind: „Easy“ von Christoph Wortberg und „Meine wahre erfundene Welt“ von Kaat Vrancken. “Wie ein Flügelschlag“ von Jutta Wilke ist zwar eigentlich ein Krimi, darin spielt aber ebenfalls eine psychisch kranke Mutter eine Rolle. In “Noah und Echo. Liebe kennt keine Grenzen” von Katie McGarry ist die Mutter von Echo manisch-depressiv.
Bibliografische Angaben:Verlag: cbj ISBN: 978-3-570-40237-5 Erscheinungsdatum: 14.Juli 2014 Einbandart: Taschenbuch Preis: 7,99€ Seitenzahl: 288 Übersetzer: Anne Braun Originaltitel: "Finding a voice" Originalverlag: O'Brien Press Kanadisches Originalcover:
![]()
Kasimiras Bewertung:
(5 von 5 möglichen Punkten)
--------------------------------------------------------------------------------- 2.Bild v.o.: © Dieter Schütz/pixelio.de Kanadisches Cover: Homepage von O'Brien Press