Thaddäus-Troll-Preisträgerin Katrin Zipse legt mit “Die Quersumme von Liebe” ihren nächsten Roman vor. Gekonnt und auf ihre besondere, tiefgründige Art erzählt sie von einem alten Familiengeheimnis, der Sehnsucht nach Sicherheit und der Liebe. Zutiefst ergreifend. Für Jugendliche ab 15 Jahren, die auch mit ein wenig anspruchsvollerer Literatur etwas anfangen können und Erwachsene.
In der Grundschule hat die nun 16-jährige Luzie damit angefangen. Mit dem Zählen. Sie zählte die Tage, bis Robert, der neue, unbeliebte Freund ihrer Mutter wieder ausziehen würde (es waren letztendlich 1080 Tage). Bis ihr frisch auf die Welt gekommene Halbbruder Aaron, mit dem der unbeliebte Freund die Mutter zurückgelassen hatte, wieder verschwinden würde (“Am eintausendeinhundertundeinundzwanzigsten Tag gab ich das Wünschen auf, weil ich keine Hoffnung mehr hatte. Aaron blieb. Aber ich zählte weiter. Man wusste ja nie.” Zitat aus “Die Quersumme von Liebe”, S.18). Im Alter von neuen Jahren entdeckte Luzie, als sie in der Schule das Dividieren lernt, dass hinter den Zahlen noch ein viel größeres System liegt. Dazu musste sie nicht einmal die Tage zählen. Es reichte auch ein Datum oder die Anzahl von Regenschirmen oder ein Autokennzeichen. Sie nahm jene Zahl und teilte sie durch deren Quersumme. Ist das Ergebnis eine gerade, wird alles gut. Ist eine Zahl nach dem Komma vorhanden, wird zwar keine riesengroße Katastrophe eintreten, aber optimal wird das Ereignis, auf welches sie sich bezieht, nicht laufen. Die Katastrophe tritt erst dann ein, wenn unendlich viele Zahlen nach dem Komma stehen. Dieses Rechnen gab Luzie, deren Vater auf einer Klettertour tödlich verunglückt war, als sie fünf war, lange Zeit große Sicherheit: “Endlich verstand ich, warum die Tage so unterschiedlich waren und wieso ich nichts dagegen machen konnte. Warum an manchen Tagen Katastrophen passierten und andere Tage strahlten vor Glück, wieso an einem Tag ein Kätzchen spielte und es am anderen tot war, warum Robert auftauchte und weshalb er plötzlich wieder verschwand, und wieso es an manchen Tagen auszuhalten war, dass es Aaron gab, und an anderen nicht…” (Zitat S.18) Ihre Ohnmachtsgefühle, ihre Panik, die sie zuweilen überkommt, lassen sich so in einen Rahmen pressen. Luzie kann berechnen, was passieren wird und sich innerlich bereits darauf vorbereiten, dass etwas Schlimmes geschieht. So hat es zehn Jahre lang funktioniert. Bis es auf einmal nicht mehr so war: “Der Tag, an dem das System anfing, mich im Stich zu lassen und die Zufälle begannen, war der dreitausenddreihundertundvierzigste Tag seit Roberts Erscheinen. Der Berechnung nach hätte er gut sein müssen.” (Zitat S.8). Doch das war er nicht. Denn Luzie findet in der Mülltonne unerwarteterweise eine Einladung zu einer Beerdigung, die ihre Mutter entsorgt hat. Die Beerdigung von Luzies Oma, der Mutter ihres verunglückten Vaters. Nur, dass diese doch eigentlich schon seit zehn Jahren tot war…? Luzie beschließt dem nachzugehen und heimlich an der Trauerfeier teilzunehmen und sticht in ein Wespennest…
Romane von Katrin Zipse sind Romane, die man sich erst langsam erschließen muss. Kurze Abschnitte zu Beginn des Buches erzählen Dinge, die man nicht sofort versteht. Es werden geheimnisvolle Andeutungen gemacht, deren Bedeutung sich einem erst nach und nach offenbaren. Das gefällt mir so an ihrem Erzählstil, dass sie keine 0–8‑15-Schemata verwendet, sondern den Leser auf ihre eigene Art und Weise eine besondere Geschichte entdecken lässt. Rückblenden, die in laufende Abschnitte eingebaut werden, kurze Fragmente, die den Leser direkt ansprechen und Beschreibungen von unbekannten Gemälden fließen in den Text mit ein. “Die Quersumme von Liebe” wird jedoch nicht nur aus Luzies Sicht erzählt, sondern lässt zuweilen auch eine zweite Person zu Wort kommen: Puma (der eigentlich Luis heißt) und in Luzie verliebt ist und mit dem sie kurze Zeit zusammen war, ehe sie sich gestritten haben. Denn zu ihm kommt Aaron eines Tages und bittet ihn um Hilfe, weil Luzie auf einmal verschwunden ist. Puma ist es auch, der ihre Aufschriebe liest, in denen Luzie ihre Geschichte erzählt. Ihre Aufschriebe, die sie eigentlich niemanden lesen lassen wollte: “Ich schreibe meine Geschichte für alle, die sie lesen werden. Und das heißt: für niemanden, außer für mich selbst und für alle Maulwürfe, Regenwürmer, Schnecken und Mikroben, die sie zu Humus verarbeiten werden, weil ich sie im Obstgarten vergrabe, wenn ich mit ihr fertig bin. Sie werden sie annagen, sich durch die Seiten bohren, ihre Schleimspur darüber ziehen, sie aufweichen, verschlingen und wieder auskacken.
Bis nichts mehr davon übrig ist als satte braune Erde. Denn dies ist meine Geschichte und ich will sie nicht mehr haben.” (Zitat S.13). Gerade dieses zeitversetzte Lesen macht sehr neugierig. Da ist zum einen Puma, der Luzie bereits gefunden hat und rückwirkend erzählt, wie ihm das gelungen ist, während er ihre Aufschriebe liest und zum anderen Luzie, die erzählt, was danach kam, als sie sich aufmachte den Spuren ihrer Vergangenheit zu folgen. Sehr interessant fand ich auch die Symbolik des Riesen und die des Wassers, die Katrin Zipse in den Roman mit einbaut, um Luzies Ängste zu beschreiben. Es ist unglaublich, auf welch authentische Weise die Autorin es schafft, die Zerrissenheit des junge Mädchens und ihre Sehnsucht nach Sicherheit und Geborgenheit in Worte zu fassen. Die Geschichte, die sich wie ein Puzzle nach und nach zusammensetzt, verstört ebenso wie sie berührt und lässt den Schluss zu, dass ein Haus aus Lügengebilden immer irgendwann einstürzen wird und die Wahrheit, auch wenn sie erschreckend ist, helfen kann sich mit seiner Vergangenheit auszusöhnen.
Fazit: Ein äußerst lesenswertes Buch!
Sicherheit durch Zahlen, das findet auch die Protagonistin in “Wenn du dich traust” von Kira Gembri, die unter einer Zwangsstörung leidet und sich ständig alle Möglichen Zahlen in ihrem Notizheft notiert, um Kontrolle zu erlangen. Eine gute Alternative für vielschichtige Romane, die viel Raum für eigene Interpretationen lassen, sind auch: “Marienbilder” von Tamara Bach oder “Dünn” von Do van Ranst. Auseinandersetzen mit dem Gelesenen das muss man auch mit “2 1⁄2 Gespenster” von Peter-Härtling-Preisträgerin Regina Dürig. Oder lies noch das andere Buch von Katrin Zipse, mit dem sie bekannt und das mit dem Thaddäus-Troll-Preis 2014 ausgezeichnet wurde: “Glücksdrachenzeit”. Besondere Bücher, die anders und außergewöhnlich sind, findest du im selben Verlag, in dem “Die Quersumme von Liebe” und “Glücksdrachenzeit” erschienen sind: Dem Magellan Verlag, der noch recht neu ist. Mir haben folgende Titel sehr gut gefallen: “Bird und ich und der Sommer, in dem ich fliegen lernte” von Chan Crystal, “Back to blue” von Rusalka Reh und “Marienkäfertage” von Uticha Marmon.
Bibliografische Angaben:Verlag: Magellan ISBN: 978-3-7348-5011-0 Erscheinungsdatum: 17.Juli 2015 Einbandart: Hardcover Preis: 16,95€ Seitenzahl: 288 Übersetzer: - Originaltitel: - Originalverlag: - Originalcover: -
Kasimiras Bewertung:
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