Endlich wieder etwas Neues von der deutschen Autorin Katja Brandis: “Freestyler” heißt ihr neues Werk und entführt seine Leser in die Welt des Leistungssports im Jahre 2030 und erzählt die Geschichte einer jungen Sprinterin, die von Olympia träumt. Neben Leistungsdruck und Optimierung durch künstliche Körperteile in einer fortschrittlicheren Zeit, kommen auch die Themen Behinderung und den Preis, den man für Erfolg zu zahlen hat, zur Sprache. All das hat Katja Brandis in einen wirklich lohnenswerten und faszinierenden (Science-Fiction-)Roman verpackt, der sich sehr fesselnd liest. Ein Buch, das definitiv nicht langweilen wird! Für Jungs und Mädchen ab 14 Jahren. Und Erwachsene.
München. Die 17-jährige Johanna Larissa, genannt Jola, übt fleißig für den nächsten Wettbewerb. Sie ist im Nationalkader und wird von ihrer Trainerin Heike mit einer Gruppe anderer Sprinter auf dem Olympiagelände trainiert. Laufen ist ihre Leidenschaft. Und Jola ist gut. “Wenn du so weitermachst, muss ich dich wohl zur Weltmeisterschaft anmelden”, meinte Heike […] Weltmeisterschaft. Das Wort vibrierte durch sie hindurch, als hätte jemand sie an den Schultern gepackt und durchgeschüttelt. Dann breitete sich in ihr eine goldene Wärme aus, die sich bis in die Fingerspitzen zog. Das war ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Olympiade und von der träumte sie schon so lange.” (Zitat aus “Freestyler” S.38) Manchmal ist Jola ein wenig abgelenkt. Familiäre Probleme zu Hause (die Insolvenz des Vaters, das sich verschlechternde Verhältnis zwischen ihren Eltern) beschäftigen sie. Und dann ist da auch dieser interessante Typ im Rollstuhl, der sie ständig beim Training zu beobachten scheint. Jola spricht ihn schließlich an und kommt mit Ryan ins Gespräch. Er ist nett. Sie gehen nach einem Training zusammen einen Döner essen. “Ryan musterte sie nachdenklich, aber auch neugierig, und Jola hatte das Gefühl, dass ihm nichts entgehen würde, nicht die kleinste Regung. Das fühlte sich besonders an […] Sie fühlte, wie ein Lächeln auf ihr Gesicht kroch. “Wie viele Leute sind eigentlich süchtig nach diesem Lächeln?” fragte Ryan, ganz ruhig, ohne Verlegenheit.” (Zitat S.28) Doch ehe Jola ihm bei einem nächsten Treffen in einem Eiscafé näher kommen kann, ereignet sich dort eine zutiefst peinliche Situation, die Ryan wieder einmal an seine Behinderung erinnert. Er hat bei einem Unfall beide Beine verloren und im Rollstuhl zu sitzen und sich hilflos zu fühlen, damit kommt er einfach nicht klar. Er flüchtet aus dem Café und Jola kann ihn telefonisch nicht mehr erreichen. Er ändert seine Nummer. Er, der schon seit längerer Zeit Schlaftabletten hortet… Kurze Zeit später beginnt Jola unerwartet eine heimliche Beziehung mit einem anderen Trainer. Till. Niemand darf wissen, dass sie zusammen sind. Sonst würden sie große Schwierigkeiten bekommen. Umso erstaunter ist Jola nach einem dreiviertel Jahr wieder auf Ryan zu treffen. Ryan, der plötzlich in derselben Halle trainiert wie sie — der künstliche Beine hat! Er tritt nun in der Kategorie “Freestyle” an, in der Behinderte mit Prothesen oder normale Sportler mit optimierten Körperteilen an den Start gehen. Und Ryan ist ebenfalls richtig gut! Jola hingegen hat wiederholt Probleme mit ihrer Achillesferse. Was wenn sie durch eine Verletzung wieder ausfällt? Was ist dann mit ihrem Traum von Olympia im Jahre 2032? Till rät ihr dazu, sich ein künstliches Gelenk einbauen zu lassen. Das will Jola auf gar keinen Fall. Doch, was wenn ihre Leistung einfach nicht reicht? Auch ihr Sponsor macht plötzlich Druck. Jola muss sich entscheiden…
Was mir bei “Freestyler” und generell bei vielen Büchern von Katja Brandis immer sehr gut gefällt, ist die Tatsache, dass sie gleich zu Beginn interessant losgehen. Kein langes Vorgeplänkel, keine Seitenlangen Hintergrundbeschreibungen von Personen, Landschaften etc. — der Leser ist sogleich mitten im Geschehen! Auch wenn man vielleicht — so wie ich — mit dem Thema Leistungssport zunächst denkt nicht besonders viel anfangen zu können, schafft es die Autorin einem selbst dieses Thema schmackhaft zu machen. Der Roman wird hauptsächlich aus Jolas Sicht erzählt, aber auch Ryan kommt gelegentlich zu Wort. In Jola kann man sich als Charakter sehr gut einfühlen, ihre Sorgen und Ängste mitfühlen und mit ihr fiebern, wenn sie an einem Wettkampf teilnimmt. Es sind die Höhen und Tiefen, die sie durchlebt und die ihre Geschichte trotz zukünftiger Veränderungen authentisch machen: “Total albern, dieses kleine Treppchen, aber es war das coolste Gefühl der Welt, ganz oben zu stehen. Gab es irgendetwas, das sich damit vergleichen ließ? Jola beugte den Kopf, während zwanzigtausend Menschen applaudierten, und irgendein Offizier hängte ihr die Medaille um. Gold!” (Zitat S.57) In einer Welt, in der der Hochleistungssport an seine Grenzen gerät und durch legale Optimierung darüber hinausgeht, muss das junge Mädchen sich entscheiden. Denn der Druck ist hart und die Konkurrenz schläft nicht. Besonders die Frage nach der eigenen Leistung stellt das Mädchen sich zwangsweise immer wieder: “Jola fühlte sich schlaff und mutlos. Kein Sponsor. Nur Worte, die sie einfach nicht aus dem Kopf bekam. Wer nicht operiert ist, lebt in Zukunft außen vor. Würde sie wieder dieses
Gefühl haben müssen, nicht gut genug zu sein? Sie hasste es und doch kam es immer wieder zurück zu ihr wie ein anhänglicher Hund.” (Zitat S.185) Doch zugleich drängt sich eine weitere Frage auf: wie menschlich bin ich noch, wenn ich aus künstlichen Metall- und Plastikteilen bin? Ändert sich dadurch meine Identität? Es gibt auch sehr extreme Beispiele von Freestylern: eine junge Frau, die statt zwei Beinen sich nun einen Delfinschwanz hat machen lassen, meistens im Wasser lebt und jetzt ziemlich schnell schwimmen kann. Oder einen Mann, dem Jola und ihr Vater begegnen, der nach einem Unfall seine Augen verloren hat und mit seinen angepassten sogar zoomen und eine Nachtsichtfunktion hat. Sogar Jolas Trainer Till ist modifiziert: “Ich hatte leider ziemlich schnell kaputte Knie — falsches Training”, erklärte Till. Nach der Olympiade brauchte ich neue und hab mir gleich rückfedernde Sportmodelle bestellt.” (Zitat S.104) Neben Leistungsdruck und Konkurrenzkampf mit unfairen Mitteln spielt auch das Thema Behinderung eine Rolle. Es ist Ryan, der sehr unter den Folgen seines Unfalls leidet. Auch als er bereits Laufprothesen hat, lässt ihn dieses Gefühl nicht immer los: “Er hinkte weiter, doch nun deutlich langsamer als zuvor. Und das ätzende Gefühl, hilflos zu sein, stieg wieder in ihm hoch. Ein Krüppel bist du, nichts als ein Krüppel. […] Es war sein eigener beschissener Kopf, der diese Gedanken hervorbrachte. Manchmal kam es ihm vor, als sei es schwerer, mit seinem Kopf klarzukommen, als mit Beinen, die unter dem Knie endeten.” (Zitat S.232) Zu den Hintergründen des Unfalls erfährt man auch erst gegen Ende des Buches Genaueres. Was mir auch sehr gut gefallen hat an “Freestyler” ist die interessante Schilderung zukünftiger Veränderungen im Jahre 2030: die Menschen benutzen kein Smartphone mehr, sondern einen Communicator oder auch Datenbrillen, mit denen sie Erlebtes gleich filmen und ins Netz stellen.
Die Polizei kann mittlerweile sogar virtuell auf Streife gehen (wie der Vater von Jolas Freundin). Es gibt Gehwegroboter, die die Straße reinigen und nebenbei automatische DNA-Proben von Hundekot machen und dem Besitzer des Hundes dann einen Strafzettel schicken (das kam bereits in “Schatten des Dschungels” vor) Aber auch im Privaten gibt es jede Menge Optimierungen: mit Nanosilber überzogene Schreibtische; Müllbeutel, die mit UV-Licht desinfiziert werden oder Haie, die mittels Projektion durch Jolas Zimmer schwimmen. Den Leser erwartet eine faszinierende Welt, über deren Erfindungsreichtum man staunen kann. Das Ende ist Adrenalin pur!
Fazit: Alles in allem ein wirklich toller Roman. Diese Autorin versteht einfach ihr Handwerk! Lesetipp.
Wenn dir der Erzählstil von Katja Brandis gefällt, dann lies doch noch ihren Bücher. Richtig klasse fand ich vor allem “Ruf der Tiefe” und “Schatten des Dschungels”, die sie beide zusammen mit dem Wissenschaftler Hans-Peter Ziemek geschrieben hat. Das Thema Umwelt ist in diesen beiden Romanen ebenso im Vordergrund wie in “Vulkanjäger” (das mir ebenso gut gefallen hat) und “Floaters”. Unabhängig von Umweltschutz ist “Und keiner wird dich kennen”, das eine Familie beschreibt, die von einem Stalker verfolgt wird — unfassbar spannend! Um Leistungssport geht es auch in “Wie ein Flügelschlag” von Jutta Wilke (schwimmen) und in der Neuerscheinung “Broken: Der Moment, in dem du fällst” von Tabitha Suzuma (Olympia & Turmspringen). Zwar keine Olympia-Anwärterin, aber auch eine leidenschaftliche Läuferin, ist die Protagonistin in “Gut. Besser. Das Beste auf der Welt”. von Johanna Lindbäck. Unter enormen Leistungsdruck steht auch die Hauptfigur in “Virtuosity: Liebe um jeden Preis” von Jessica Martinez.
Bibliografische Angaben:Verlag: Beltz & Gelberg ISBN: 978-3-407-82101-0 Erscheinungsdatum: 8.Februar 2016 Einbandart: Hardcover Preis: 16,95€ Seitenzahl: 432 Übersetzer: - Originaltitel: - Originalverlag: - Originalcover: -
Kasimiras Bewertung:
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