“Girl running, boy falling” ist der neueste Roman der australischen Schriftstellerin Kate Gordon. Eine ganz zarte, anmutig erzählte Geschichte über ein Mädchen, das sich in ihren besten Freund verliebt hat und deren heimlicher Schwarm sich unerwartet das Leben nimmt. Eine Suche nach Gründen, eine Sehnsucht nach dem Unerreichbaren, eine Selbstfindung auf dem Weg erwachsen zu werden — mit einer Sensibilität und Schönheit erzählt, die fasziniert. Ein Kleinod, ein literarisches Schmuckstück. Für Leser außergewöhnlicher Geschichten, jenseits des Mainstreams. Für Jugendliche ab 13 Jahren und interessierte Erwachsene.
Therese ist 16. Sie lebt in einer kleinen Stadt auf einer kleinen australischen Insel. Bei ihrer Tante Kath. Ihre Mutter ist nicht mehr da, ihr Vater ebenso wenig. Das Mädchen verliert sich in den unterschiedlichsten Aktivitäten. Musical, Schulorchester, Arbeit im Supermarkt. Immer ist sie in Bewegung. Oder mit ihren Freunden zusammen. Mit Peter, der ein furchtbar schlechter Fußballspieler ist und trotzdem nie die Hoffnung verliert irgendwann in die Mannschaft aufgenommen zu werden. Mit Roz, die strenge Eltern hat, aber mit ihren Freundinnen manchmal sie selbst sein kann. Mit Melody, die es liebt andere Menschen zu psychoanalysieren und mal Therapeutin werden möchte. Und dann ist da noch Nick Wallace, den alle nur Wally nennen. Er ist Thereses bester Freund. Und doch ist er gleichzeitig mehr für sie: “Denn ich will nichts lieber als ihn küssen und er hat keine Ahnung. Er wird es nie erfahren. Denn wenn Nick Wallace wüsste, dass ich ihn liebe, würde ich meinen besten Freund verlieren.” (Zitat aus “Girl running, boy falling” S.19) Wenn Wally mit ihr zusammen ist, zitiert er aus Gedichten und stellt ihr auch die tiefsinnigen Fragen dieser Welt: “Hast du schon mal in den Himmel geschaut und gedacht, da gehören wir eigentlich hin? Als wäre die Welt verkehrt herum und wir müssten eigentlich da oben schweben?” (Zitat S.6) Wally ist beliebt, er ist ein hervorragender Footballspieler. Hat beste Chancen von einem Talentscout entdeckt zu werden. Aber dann ist er auf einmal tot. Er hat Selbstmord begangen, kurz nachdem er Therese das erste Mal geküsst hat…
Das Cover hat ein bisschen Retro-Charme, der Titel deutet bereits an, was passieren kann, ohne eigentlich all zu viel preiszugeben. Der Roman wird durchgehend aus Thereses Sicht in der Ich-Perspektive erzählt. Einem außergewöhnlichen Charakter: “Ich bestehe aus vielen Einzelteilen. So vielen, wie es Blätter im Garten gibt. Ich bin das Mädchen, das zur Schule geht, das bei Woolworth arbeitet. Ich bin das Mädchen mit der Hauptrolle im Musical. Ich bin das Mädchen, das die erste Klarinette im Schulorchester spielt.” (Zitat S.7) Gerade die Grundidee mit den Einzelteilen einer Person fand ich sehr gelungen. Immer wieder tauchen Anspielungen darauf in der Geschichte auf. Zum Beispiel schreibt Therese Briefe an eine Frau, die nie antwortet: “Irgendwo weit weg nimmt sie die Einzelteile und legt sie zu einem Bild von mir zusammen, das ihrer Vorstellung entspricht. Ich frage mich, ob es mir irgendwie ähnelt. Ich frage mich, ob sie meine Einzelteile wohl alle total bescheuert findet.
Bestimmt schreibt sie deshalb nie zurück.” (Zitat S.8) Man ahnt bereits, dass es sich bei der Frau um Thereses Mutter handelt, die nicht mehr da ist und spürt erst allmählich deren Gründen nach. Dass Menschen aus verschiedenen Facetten bestehen können, aber auch verschiedene Rollen spielen, wird sehr gut durch die unterschiedlichen Namen dargestellt, mit denen Therese angesprochen wird. Ihre Freunde nennen sie Resey, ihre Tante nennt sie Tiger, und Wally nennt sie nur Champ. Kate Gordon verwendet eine äußerst schöne Sprache, die unheimlich atmosphärisch und wohlklingend ist: “Er knurrt mich an, dann lacht er und Unendlichkeit breitet sich in mir aus. Denn das hier sind wir. Ich und Wally und dreckige Fingernägel und gackernde Hühner und Grandma T, die in der Küche rumpusselt. Es ist der Himmel und Sommer und Freiheit. Es ist alles.” (Zitat S.5) Die Kapitel sind erzählerisch rund, mit gelungenen, passenden Abschlüssen und Überleitungen zum nächsten Kapitel. “Girl running, boy fa
lling” ist eine ruhige, tiefgründige Geschichte, eine mit Momenten voller Nostalgie und Sehnsucht, voller Liebe, Freundschaft und dem Wert der Familie. Eine, in der bezaubernde Charaktere im Vordergrund stehen dürfen und die Geschichte beleben und tragen, so wie zum Beispiel Melody: “Melody und ich sind schon seit der ersten Klasse beste Freundinnen. An unserem ersten Schultag ließ sie sich auf einen Baumstamm plumpsen, auf dem ich allein und verängstigt saß. “Melody Kwong”, sagte sie und reichte mir die Hand. “Du siehst deprimiert aus. Aber keine Sorge. Wenn ich groß bin, werde ich Psychologin. Ich krieg dich schon wieder hin.” (Zitat S.11) Einen dunkleren Anteil haben die grau unterlegten Briefe, die zwischenzeitlich in die Geschichte eingeschoben sind. Briefe voller Kummer, die von einer unbekannten Person an ihren Vater geschrieben werden. Immer wieder durchziehen Andeutungen den Text: “Nur ein Mädchen und
ihr bester Freund und ihre Großmutter und Sandwiches an einem Sommertag. Man müsste schon sehr genau hinsehen um die Risse zu entdecken.” (Zitat S.8) Dass das Schicksal zuschlagen wird, ist offensichtlich. Dass die Tragik eines Todes die Protagonistin trifft, die mit dem Verlassenwerden zu kämpfen hat, verleiht dem Roman eine noch andere Dimension. Aber auch neben Schwere und Schmerz offenbart sich am Ende wieder eine große Portion Zuversicht, Hoffnung und Vertrauen darauf, mit den richtigen Menschen an seiner Seite, alles zu schaffen. Im eigenen Tempo und auf die eigene Art und Weise.
Fazit: Eine außergewöhnliche, herzerwärmende Geschichte, die hervorsticht.
Dir gefällt Kate Gordons Erzählstil? Dann lies unbedingt noch ihr erstes Buch, das ins Deutsche übersetzt wurde: “Wohin meine Flossen mich tragen” — eine gelungene Geschichte! Als Lesealternativen von der Stimmung und der Art zu erzählen her, könnte ich mir auch sehr gut folgende Romane vorstellen: “Bird und ich und der Sommer, in dem ich fliegen lernte” von Chan Crystal, “Das Blubbern von Glück” von Barry Jonsberg (auch ein australischer Autor) oder “Papierfliegerworte” von Dawn O’Porter. Die Mutter-Thematik findest du zudem in “Der Sommer der Eulenfalter” von Sara Pennypacker und “Apple und Rain” von Sarah Crossan. Sehr bewegende und gut geschriebene Bücher über Trauerbewältigung sind zum Beispiel “Wenn du mich küsst” von Juliana Stone (mit Liebesgeschichte), “Wie viel Leben passt in eine Tüte?” von Donna Freitas und “Das Jahr, nachdem die Welt stehen blieb” von Clare Furniss.
Bibliografische Angaben:Verlag: Carlsen ISBN: 978-3-551-58416-8 Erscheinungsdatum: 2.Juli 2020 Einbandart: Hardcover Preis: 16,00€ Seitenzahl: 240 Übersetzer: Sylke Hachmeister Originaltitel: "Girl running, boy falling" Originalverlag: Rhiza Press Australisches Originalcover:
Die Autorin erzählt von ihrem Buch (auf Englisch):
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