“Hinter Glas” ist das zweite Jugendbuch der in Russland geborenen Autorin Julya Rabinowich, die seit vielen Jahren in Österreich lebt. Ein Roman über Macht, Kontrolle und Gewalt und ein junges Mädchen, das langsam aus ihrem Käfig auszubrechen beginnt. Das Porträt einer Befreiung. Mit einer glasklaren, intensiven Sprache. Bewegend. Für Jugendliche ab 14 Jahren und Erwachsene.
Die 17-jährige Alice hat manchmal das Gefühl ein Leben wie in einem Käfig zu führen. Sie lebt in einer “hübschen Villa, die hinter Oleanderbüschen verborgen lag. Gepflegter, tiefgrüner Rasen. Ordentlich geschnittene Hecke. Und eine Laube, von hellgelben Rosen umrankt. Dazu passend ein romantisch geschwungener Weg von der Gartentür bis zum Eingang.” (Zitat aus “Hinter Glas” S.21) Ihre Mutter war früher eine erfolgreiche Schauspielerin. Doch sie dreht schon seit einiger Zeit keine Filme mehr, konzentriert sich lieber mit all ihrer Kraft auf das Wohlergehen ihrer Tochter. Denn Alice ist oft krank. Traurig. Und einsam. Darf nicht sein, wer sie will. Muss still undvorsichtig sein. “Neben ihr stand eine kleine elfenbeinfarbene Milchkanne mit Goldrand, die so eine schöne bauchige Rundung besaß, dass ich sie als kleines Kind immerzu hatte streicheln wollen. Durfte ich nie. Ein Erbstück.” (Zitat S.35) In der Schule wird Alice regelmäßig gemobbt. Von Rosa und ihrer Clique. Auch dort versucht sie sich meistens zurückzuziehen: “In der Pause verschwand ich, so schnell ich konnte. Bevor jemand einen Witz auf meine Kosten riss, wie üblich. Meine Tasche vom Tisch fegte, wie beiläufig. Oder mir einen Stoß versetzte. Ich flüchtete wie immer in den Garten und verkroch mich in einen der hintersten Winkel.” (Zitat S.19) Doch dann taucht ein neuer Junge in Alices Klasse auf. Niko. Er war auf Weltreise. “Er war dünn, trug eine Jeans und ein rotes T‑Shirt. […] Von der Sonne aufgehelltes längeres Haar. Schöne Hände. Von Farbflecken übersät. Alles an ihm war verwegen. Als wäre er gerade dem angesagtesten Surfstrand entsprungen. Es war älter
als ich, vermutlich schon achtzehn.” (Zitat S.18) Irgendetwas an Niko macht Alice unruhig. Wühlt sie auf. Denn Niko sieht genauer hin. Bemerkt das Mobbing und stellt sich auf ihre Seite. Verteidigt sie sogar vor Rosa und ihren Freunden. “Das war nicht das erste Mal, oder?” “Doch”, log ich. Gejagt werden macht einen so klein und so wertlos, so klein und wertlos wollte ich vor ihm nicht erscheinen. Und sich verbergen müssen macht stumm und unsichtbar. Ob in der Schule oder zu Hause.” (Zitat S.30) Auf der Klassenfahrt kommt sie ihm das erste Mal etwas näher. Und schließlich wagt Alice mit Niko auch einen weiteren Schritt, der in ihrem Leben alles für immer verändern wird…
Mit einem auffallenden und zugleich aussagekräftigen Cover sticht “Hinter Glas” hervor und man erfährt in einer vorangehenden kurzen Passage bereits, dass Alice nach “Alice im Wunderland”, dem Mädchen hinter den Spiegeln benannt wurde. Angedeutet wird ebenfalls, was den Leser in dem Roman erwarten wird: “Manchmal war ich ganz klein, und manchmal war ich ganz groß. Manchmal fürchtete ich, in einem Meer aus meinen Tränen zu ertrinken. Aber ich habe es geschafft. Ich bin zurückgekommen und viel weiter gegangen, als ich es mir hätte erträumen lassen” (Zitat S.7) Dann folgt ein Prolog, der einen späteren Zeitpunkt der Geschichte zeigt: Alice ist gerade in eine kleine, neue Wohnung gezogen und entdeckt auf einem Flohmarkt eine Mütze, die ihr bekannt vorkommt und eine Erinnerung an Blut, Gewalt und Schreie in ihr hervorruft. “Er streckt mir die Mütze entgegen. Ich schüttele den Kopf. Der Spiegel rutscht mir aus der Umhängetasche und zerschellt in tausend silbern glänzende Scherben auf dem Asphalt.” (Zitat S.12) Diese zerbrochenen Scherben deuten die Rahmenhandlung der Geschichte an, denn es sind die Scherben, in die Alices Leben zerbrochen ist und die sie nun eingehend betrachtet: “Ich knie mich hin und versuche, die Scherbenstücke zu ordnen. So wie mein ganzes Leben. Diesmal kommt mir niemand zu
Hilfe. Ich muss es allein schaffen. Wie konnte es nur so weit kommen? Das frage ich mich. Oft.” (Zitat S.12) Die Ummantelung der Geschichte ist raffiniert gemacht, denn jedes Kapitel stellt eine Spiegelscherbe dar, auf ihrem Weg erwachsen zu werden. Der Roman wird durchgehend aus Alices Sicht in der Ich-Perspektive erzählt. Nur vereinzelte sehr kurze, in einem anderen Schriftbild abgedruckte Absätze schleichen sich zuweilen in den Fließtext. Die seltsame Perspektive einer Person, die alles über Alice zu wissen scheint: “Ich kenne sie so gut, wie sie sich niemals kennen wird. Aber sie weiß nichts von mir. Und ich werde weiter warten, bis wir vielleicht eines Tages wieder zueinanderfinden. Ich habe ja Zeit.” (Zitat S.23) Das wirkt interessant, aber auch etwas rätselhaft, da man nicht wirklich eine Ahnung hat, wer sich dahinter verbirgt. Ich habe mich beim Leser häufiger dabei ertappt nach einer Weile noch einmal zurückzublättern und diese Absätze noch einmal zu lesen, weil diese Ahnung, wer diese unbekannte Person sein könnte, tatsächlich
mehrmals wechselte. Die Sprache ist angenehm. Zuweilen sehr kraftvoll und mit viel Tiefgang und Bedeutung zwischen den Zeilen, dann aber auch wieder schlicht und manchmal sogar etwas derber: “Ja, Scheißlawine. So unromantisch kann man eine Urgewalt nur beschreiben, wenn man die Schnauze voll von der Liebe hat.” (Zitat S.15) Man spürt beim Lesen recht bald, dass in Alices Familie irgendetwas nicht zu stimmen scheint, dass da viel Schein und viel Schauspiel ist, braucht aber eine Weile um alles richtig einordnen zu können. Im Mittelteil verliert die Geschichte leider teilweise etwas an Spannung, interessant ja, aber nicht mehr ganz so mitreißend und atmosphärisch. Inhaltlich habe ich irgendwie auch noch etwas mehr erwartet, hätte gerne mehr über das Verhältnis zwischen Alice und ihrem Großvater erwartet. Dafür ist das Buch einfach zu kurz. Das Ende jedoch macht wieder einiges wett, das hat mich wirklich überrascht!
Fazit: Eine gut erzählte Geschichte mit kleinen Kritikpunkten und einer wichtigen Botschaft.
Dir gefällt Julya Rabinowichs Erzählstil? Dann lies noch ihr erstes Jugendbuch, für das sie einige Preise bekommen hat: “Dazwischen: ich”, in dem sie die Geschichte eines Flüchtlingsmädchen erzählt, das — als Vermittlerin in ihrer Familie — versucht eine Heimat zu finden und anzukommen. Ein Buch, an das ich beim Lesen von “Hinter Glas” sofort denken musste, war “Jetzt ist alles, was wir haben” von Amy Giles, das einige Parallelen zu dem hier rezensierten Buch hat und ebenfalls ein Mädchen in den Mittelpunkt stellt, das aus dem Käfig ihrer Familie auszubrechen versucht, als sie sich verliebt. Sehr gut könnte ich mir auch “Back to blue” von Rusalka Reh vorstellen, das die Emanzipation eines Mädchens auf sehr berührende Weise beschreibt. Etwas älter, aber ebenso eine gute Alternative ist “Drei Songs später” von Lola Renn. Richtig klasse fand ich - leider ist diese Autorin immer noch eher ein Geheimtipp — “In deinem Licht und Schatten” von Louisa Reid. Oder lies das bewegende “Das Ende der Lügen” von Laura Summers. Und ein letzter Tipp — dieses Buch ist der Hammer! — “Nur noch ein einziges Mal” von Colleen Hoover, auch die Geschichte einer Befreiung.
Bibliografische Angaben:Verlag: Hanser ISBN: 978-3-446-26218-8 Erscheinungsdatum: 28.Januar 2019 Einbandart: Hardcover Preis: 16,00€ Seitenzahl: 201 Übersetzer: - Originaltitel: - Originalverlag: - Originalcover: -
Kasimiras Bewertung:
(4 von 5 möglichen Punkten)