“What to say next: Vielleicht genügt ein Wort” ist ein Roman der amerikanischen Autorin Julie Buxbaum, der nun neu als Taschenbuch erschienen ist (ACHTUNG: früher trug es den Titel: “Mein Herz in allen Einzelteilen”) Eine Geschichte über ein Mädchen, das durch den Tod ihres Vaters zur Außenseiterin geworden ist und einen Jungen, der durch das Asperger-Syndrom schon immer einer war. Eine zarte Liebesgeschichte vor ernstem Hintergrund. Gefühlvoll und stimmig erzählt. Ein Herzensbuch mit tollen Charakteren. Für Jugendliche ab 12 Jahren und interessierte Erwachsene.
David ist ein bisschen anders als die anderen. “Ein Arzt hat mal behauptet, ich wäre “an der Grenze zum Asperger-Syndrom”. Dabei kann man das Asperger-Syndrom heute gar nicht mehr haben, weil es 2013 aus der DSM‑5 (die aktuelle Version des Werks Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen) gestrichen wurde. Von Menschen mit den entsprechenden Eigenschaften wird seitdem gesagt, sie hätten Hochfunktionalen Autismus.” (Zitat aus “What to say next” S.9) David, der einen IQ von 168 hat und sich natürlich die aktuelle DSM‑5 besorgt hat, um dem nachzugehen, glaubt jedoch nicht, dass er an dieser Störung leidet. Er ist manchmal eben nur ein bisschen ungeschickt und stolpert leicht. Und ja, er mag alles gerne ordentlich und liebt die Routine. Aber er hat kein Problem damit anderen in die Augen zu sehen oder flippt auch nicht gleich aus, wenn man ihn berührt. Nur mit manchen Redewendungen kommt er nicht ganz klar, versteht nicht immer, was sie bedeuten und führt deshalb fein säuberlich ein Notizbuch, in dem er solche Dinge einträgt. “Ich sehe Kit an. Was meinten ihre Freundinnen eigentlich damit, dass sie “neben der Kappe” wäre. Ist Kit sonst unter der Kappe? Neben welcher Kappe überhaupt? Kit und Kappe, das passt überhaupt nicht. Heute sieht sie sogar noch ordentlicher aus als sonst.” (Zitat S.14ff) Davids Schwester Lauren, eines der beliebtesten Mädchen überhaupt, steht ihm immer hilfreich zur Seite und analysiert mit ihm Worte, Verhaltensweisen und den Sinn dahinter. Und sie stellt gesellschaftliche Regeln auf, die er in sein Notizbuch einträgt, um sich möglichst daran zu halten. Ebenfalls über Menschen, mit denen David zu tun hat, erstellt er ausführliche Listen. Ihre Merkmale und ihre vergangenen Begegnungen. Wobei es davon nicht sonderlich viele gibt (abgesehen von einem Jungen, der ihn ärgert), denn Freunde hat David so gut wie keine. Umso überraschter ist er, als sich eines Tages die 16-jährige Katherine, die von allen nur Kit genannt wird, zu ihm an den Tisch in der Kantine sitzt. An den Tisch, an dem er normalerweise immer alleine sitzt. “Mich neben David Drucker zu setzen, halte ich für die beste Lösung, weil er immer so still ist, dass man ihn fast vergisst. […] Nicht, dass man mich falsch versteht: Auch ich habe Hemmungen und bin häufig unsicher, aber ich habe gelernt, es zu überspielen. David hingegen scheint nicht einmal zu versuchen, wie alle anderen zu sein.” (Zitat S.19) Kit hat vor Kurzem ihren Vater durch einen Autounfall verloren und kommt damit einfach nicht klar. “Von mir wird erwartet, dass ich einfach so weitermache. Dass ich wieder die Alte bin.” (Zitat S.24) Doch das kann sie nicht. Genau einen Monat ist es jetzt her, dass er tot ist. Und eigentlich wollte Kit an diesem Tag gar nicht zur Schule gehen, doch ihre Mutter sagt, dass sie muss. “…ihre Art zu trauern, sich mitfühlenden Fremden schluchzend um den Hals zu werfen, ist mir fremd. Was meine Art ist, habe ich dagegen noch nicht herausgefunden. Langsam fange ich an zu glauben, dass es sie nicht gibt.” (Zitat S.18) Und so zieht sie erneut das Hemd ihres Vaters an, marschiert zur Schule - und setzt sich zu David an den Tisch. Um einfach mal ihre Ruhe zu haben. “Ich komme mir blöd vor. Macht das die Trauer mit einem? Es ist, als würde ich mit einem Raumanzug durch die Schule laufen — mit einem Trübsalhelm, so undurchdringlich wie Glas. Niemand versteht, was ich durchmache. Wie auch? Ich verstehe es ja selbst nicht.” (Zitat S.18) Nicht gerechnet hat Kit allerdings mit Davids direkten Art (“Dein Dad ist also tot”, sage ich.” (Zitat S.13)), seiner Aufrichtigkeit und seine Ehrlichkeit. Sie, die sich immer verantwortlich fühlt, ein Gespräch am Laufen zu halten, kann auch mit ihm schweigen. Oder ihm Dinge erzählen, die sie nicht einmal ihren besten Freundinnen erzählt hat. Dass sie beispielsweise immer wieder an diese Unfallnacht denken muss und versucht zu rekonstruieren, an welcher Stelle etwas hätte anders gemacht werden können, damit ihr Vater nicht gestorben wäre. “Ihre Wangen sind rosig, und ihre Augen glänzen ein wenig feucht. Ich muss mich abwenden, weil sie so atemberauend schön ist, dass ich es kaum ertrage, sie anzusehen.” (Zitat S.15) Unerwartet kommen Kit und David sich näher. Verbringen mehr Zeit miteinander. Doch dann wird Davids Notizbuch gestohlen und im Netz veröffentlicht. Das Notizbuch, in dem er sich so gut wie über jeden Schüler in seiner sachlichen Art und Weise geäußert hat. Das bringt eine große Welle ins Rollen und verändert alles…
“Mein Herz in allen Einzelteilen” wird sowohl aus Kits, als auch aus Davids Sicht in der Ich-Perspektive erzählt. Ich muss zugeben am Anfang ein wenig Zeit gebraucht zu haben, um mich mit Davids “anderer” Art anzufreunden. Er ist ein ganz eigenwilliger Charakter, der auch in seinen ganz eigenen (manchmal etwas hochgestochenen) Worten spricht: “Auf der Highschool besteht aber offensichtlich eine negative Korrelation zwischen beliebt sein und der Anzahl von Leuten, die dich wirklich mögen, dafür aber eine positive Relation zwischen beliebt sein und Leuten, die mit dir befreundet sein wollen. Nachdem ich eingehend darüber nachgedacht habe, ergibt es für mich Sinn, allerdings stelle ich fest, dass ich beides bin: Außenseiter und ein wunderbares Beispiel dafür, dass Korrelation noch nicht Kausalität impliziert.” (Zitat S.31) Jedoch bestand diese Befremdlichkeit wirklich nur zu Beginn des Buches. Irgendwann schließt man David einfach in sein Herz und lässt sich von ihm — der auf seine Art einen gewissen Charme hat — verzaubern: “Als er merkt, dass er etwas Komisches gesagt hat, guckt er total süß. Um ihn zu retten, hake ich mich bei ihm ein und gehe mit ihm die Straße hinunter. […] “Ganz ehrlich, manchmal glaube ich, nur Hunde können mich hören”, erwidert er. “Ich höre dich eigentlich ganz gut, falls das zählt.” “Das zählt sehr viel”, sagt David, und ich werde rot. Er auch, wenn ich mich nicht täusche.” (Zitat S.122) Es wird in dem Roman daher zeitweise zart romantisch und ebenso unfreiwillig komisch und erheiternd für den Leser Davids (erfrischende, andere) Sicht auf die Dinge mitzuerleben: “…ich erheb mich und verlasse den Raum, genau, wie Kit es kurz zuvor getan hat. Verpassen werde ich auf jeden Fall nichts. Das Physikbuch habe ich letzten Sommer bereits durchgelesen. Die wenigen Unklarheiten ließen sich mit einer kurzen Googlerecherche klären und mit einem kostenlosen Stanford-Onlinekurs vertiefen.” (Zitat S.36) Anderssein heißt Besonderssein, das impliziert das Jugendbuch auf eine schöne Art und Weise. Denn Erwachsenwerden heißt nicht nur zu hinterfragen, wer man sein möchte, sondern auch sich plötzlich in einem Dschungel aus Gefühlen und Verhaltensmustern wiederzufinden, die man (bei sich selbst und bei anderen) erst einmal verstehen muss. Dass genau das für jemanden mit Asperger-Syndrom (und das hat David, wie er sich am Ende eingesteht) noch viel schwieriger ist, zeigt “What to say next” sehr gut. Man fühlt und leidet gleichermaßen mit David mit, wenn er Kit näher kommt, aber ihr Verhalten einfach nicht “entziffern” kann: “Danke fürs Mitnehmen.” “Jederzeit”, antwortet sie, und ich hätte sie gern gefragt, was sie damit meint. Ist es ein echtes Angebot oder reine Höflichkeit? Die Sprache ist voller Mehrdeutigkeiten, die mir das Leben schwer machen.” (Zitat S.93)
Die zweite große, “ernste” Thematik in dem Buch ist der Umgang mit Trauer, die Kit zu schaffen macht. Während die Geschichte anfangs noch von einem Geflecht aus Erinnerungen an ihren Vater durchzogen ist, versucht das junge Mädchen bald den Unfallhergang mit Davids (mathematisch-pysikalischer) Hilfe zu untersuchen. Gibt es eine Variante, in der dieser hätte verhindert werden können? In der er überlebt hätte? Und natürlich gibt es in diesen Teilen des Romans auch traurige Momente: “Ich habe die Eltern meines Vaters, meine anderen Großeltern, nie kennengelernt, und wenn ich je Kinder haben werde, werden sie meinen Dad nicht kennenlernen. Wenn ich eines Tages heiraten werde, wird mein Dad mich nicht zum Altar geleiten. Beim Schulabschluss wird nur meine Mom zuschauen.” (Zitat S.76ff) Dass Kit von allen mit Samthandschuhen angefasst wird, stört sie extrem. Daher ist ihre neue Zusammenkunft in den Mittagspausen der Schule mit David etwas völlig Neues für sie. “Deine schonungslose Ehrlichkeit ist… irgendwie erfrischend.” (Zitat S.92) Kit gelingt eine Auseinandersetzung mit dem Vergangenen, aber auch eine äußerst schwierige Auseinandersetzung mit ihrer Mutter und einem Familiengeheimnis, das unerwartet ans Licht rückt. “Es kann besser werden — bei mir, bei uns. Vielleicht werde ich eines Tages stolz sein auf die neue Kit — auf die auch mein Dad stolz wäre. Es ist in Ordnung, dass ich nicht mehr dieselbe bin wie früher. Das geht gar nicht. Vielleicht können wir aus etwas, das sich vollkommen sinnlos anfühlt, etwas Sinnvolles machen.” (Zitat S.314) Das Ende von “What to say next” offenbart eine überraschende Wendung und ein schönes Happyend :-)
Fazit: Eine gelungene Geschichte!
Wenn dir “What to say next” gefallen hat, lies noch das erste Buch, das Julie Buxbaum geschrieben hat: “Tell me three things” — ebenfalls eine schöne Liebesgeschichte verbunden mit der Thematik Trauer (hier ist jedoch die Mutter gestorben). Lovestory plus Tod, das vereinen viele Jugendbücher. Hier die besten Alternativen: “Wie viel Leben passt in eine Tüte?” von Donna Freitas (schon etwas älter, aber grandios — macht wieder Lust auf das Leben!), “Nichts als Liebe” von Beth Kephart (sprachlich gesehen sehr toll), “Wenn du mich küsst” von Juliana Stone (unheimlich ergreifend und romantisch!), “Das Jahr, nachdem die Welt stehen blieb” von Clare Furniss (gefühlvoll und herzerwärmend) und “Was uns bleibt ist jetzt” von Meg Wolitzer (unterhaltsam und großartig!). Ein Mädchen mit autistischen Zügen und eine äußerst sympathische Hauptfigur findest du in dem bezaubernden “Das Blubbern von Glück” von Barry Jonsberg. Eine berührende Liebesgeschichte verbunden mit einem Jungen, der unter dem Asperger-Syndrom leidet/ beziehungsweise Autismus hat, erlebst du in “Zwei Herzen im Goldfischglas” von Sally Partridge, in “Für uns macht das Universum Überstunden” von A. Meredith Walters und in “Ein Kuss ist ein ferner Stern” von Alexander Rösler (sehr bewegend!). Oder greif zu dem noch etwas neueren “Die Liebesbriefe von Abelard und Lily” von Laura Creedle, “Jeder von uns ist ein Rätsel” von A.J.Steiger, “Meine Checkliste zum Verlieben” von Anja Janotta und “Das Licht von tausend Sternen” von Leonie Lastella. Ein Junge, der aufgrund selber Problematiken auch noch eine Kriminalfall löst, das kannst du in “Der beste Tag meines Lebens” von Ashley Edward Miller, in “Smart oder Die Welt mit anderen Augen” von Kim Slater und in dem Klassiker “Supergute Tage oder Die sonderbare Welt des Christopher Boone” von Mark Haddon entdecken.
Bibliografische Angaben: Verlag: ONE (Lübbe) ISBN: 978-3-8466-0136-5 Erscheinungsdatum: 27.August 2021 Einbandart: Broschur Preis: 12,90€ Seitenzahl: 368 Übersetzer: Anja Malich Originaltitel: "What to say next" Originalverlag: Delacorte Press Deutsches Originalcover: Amerikanisches Originalcover: Julie Buxbaum über ihr Buch (auf Englisch):
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(4,5 von 5 möglichen Punkten)
--------------------------------------------- Amerikanisches Cover: Homepage von Julie Buxbaum