“Mein Bruder heißt Jessica” ist der neueste Roman des irischen Bestsellerautoren John Boyne (“Der Junge im gestreiften Pyjama”). Über ein Tabuthema, das in den letzten Jahren immer mal wieder im Jugendbuch auftaucht: Transsexualität. Ein Junge, der sich als Mädchen fühlt und sich outet. Interessant und faszinierend, weil nicht aus seiner Perspektive, sondern aus der des jüngeren Bruders erzählt. Einfühlsam, mitreißend und mal wieder brillant geschrieben. Für Jugendliche ab 12 Jahren und Erwachsene.
Der nun 13-jährige Sam liebt seinen Bruder Jason über alles. Denn Jason, der vier Jahre älter ist, ist immer für ihn da. Während ihre Eltern politisch sehr eingebunden sind — die Mutter ist Ministerin, der Vater ihr Privatsekretär — haben sich oft Au-Pairs um die Kinder gekümmert. “Meine Mutter sagt nämlich, wenn sie ihren Wählern nicht den Vorrang gibt, entscheiden die sich bei der nächsten Wahl für die andere Partei, und dann geht das ganze Land vor die Hunde. Und Dad sagt, es ist wichtig, dass Mum immer mit einem gewaltigen Vorsprung gewinnt, wenn sie auf der Karriereleiter noch weiter nach oben klettern will.” (Zitat aus “Mein Bruder heißt Jessica” S.11) Erst als Sam zehn wurde, und Jason 14, durfte er alleinauf Sam aufpassen. Sogar das Lesen hat er regelmäßig mit ihm geübt, da Sam eine Leseschwäche hat und dabei eine Engelsgeduld an den Tag gelegt: “Er hat nie geschimpft oder gesagt: “Lies doch einfach, was auf der blöden Seite steht”, wie Dad das immer machte, und er sagte ganz oft: “Irgendwann wird das garantiert besser, versprochen.” Er hilft mir, hat er gesagt und er wird immer für mich da sein, denn schließlich sind wir Brüder, und nichts kann uns trennen.” (Zitat S.20) Als sie in er Schule einen Aufsatz über Menschen schreiben sollen, die sie bewundern, schreiben Sams Klassenkameraden über Kate Middlton, David Beckham, J.K. Rowling oder Barack Obama; Sam aber schreibt über seinen Bruder. Doch in letzter Zeit ist Jason irgendwie komisch geworden. Manchmal sperrt er sich den ganzen Nachmittag über in seinem Zimmer ein, hat verheulte Augen und will nicht
darüber reden. Doch eines Tages rückt er heraus mit seinem Geheimnis. Dass er sich nicht als Junge, sondern als Mädchen fühlt. Und das verändert alles.…
Das Regenbogenfarbene Cover ist hinsichtlich der Thematik perfekt gewählt, dazu die Symbolik auf den zwei Buchstaben, die für das männliche und weibliche Geschlecht stehen, das ist sehr gut arrangiert. John Boyne hat sich einem Tabuthema in der Jugendliteratur angenommen. Im Nachwort gibt er an, auch mal etwas schreiben zu wollen, über das er sich nicht auskennt. Dass er nicht weiß, wie es sich anfühlt transgender zu sein. Aber er weiß, wie es sich anfühlt anders zu sein: “Als ich so alt war wie Sam, merkte ich, dass ich schwul bin, und diese Erkenntnis hat mir große Angst eingejagt. Ich habe mit niemandem darüber geredet, weil ich mir nicht vorstellen konnte, dass irgendjemand mich versteht. Als ich so alt war wie Jessica, wollte ich meine sexuelle Orientierung noch immer nicht wahrhaben” (Zitat S. 253ff) Erst drei Jahre später schafft er es sich zu outen. Gerade bei seinem Roman die Erzählperspektive des jüngeren Bruders zu verwenden, statt des Transexuellen selbst, ist sehr raffiniert und gibt auf das Thema noch einen ganz anderen Einblick. “Sie wussten Bescheid. Alle wussten jetzt Bescheid. Ich stand auf und rannte aus dem Zimmer. Dabei wäre ich fast über meine eigene Tasche gestolpert. Hinter mir hörte ich Gelächter. […] In dem Moment war ich felsenfest davon überzeugt, dass mein Leben zu Ende war. Und schuld daran war mein Bruder Jason.” (Zitat S.57) Für Sam bricht eine Welt zusammen, als sein Br
uder sich durch die Offenbarung seines Geheimnisses plötzlich von ihm entfernt. Eigentlich möchte er nur, dass alles normal bleibt. Ebenso wie seine Eltern, die ihn sofort zu einem Psychologen zerren und von Elektroschocks und medikamentöser Behandlung sprechen. Was mir in “Mein Bruder heißt Jessica” aber vor allem sehr gut gefallen hat, sind die tollen authentischen, erfrischend anderen Charaktere, so wie zum Beispiel der Fußballcoach oder die karrierebesessenen Eltern der beiden: “Für Mum und mich würde es sich sehr gut machen, wenn du in einem Profi-Club spielst. Die Wähler lieben so was.” “Aber ich will es nicht!”, beharrte Jason, “Ich möchte nur zum Spaß spielen.” “Zum Spaß?”, wiederholte Dad und starrte ihn an, als hätte er eine Fremdsprache gesprochen. “Du bist zehn Jahre alt, Jason! Glaubst du ernsthaft, im Leben geht es um Spaß?” (Zitat S.15), Eine
unterschwellige Ironie liegt auf so vielen Teilen der Geschichte, aber auch eine große Emotionalität. Eine Angst vor Veränderung. Ein Festhaltenwollen: “Weil unsere Zimmer direkt nebeneinanderlagen, hörte ich manchmal wie er weinte, wenn er schlafen ging, aber ich wollte trotzdem nicht zu ihm rüber. Seine Tränen machten mir Angst. Ich wünschte mir einen starken großen Bruder. Er war doch immer stark gewesen, und ich wollte nicht, dass er sich veränderte.” (Zitat S.130ff) Die Sprache von John Boyne ist klar, einfach, direkt und schnörkellos. Die Geschichte vereinnahmt einen von Anfang an, lässt einen mitfiebern, mitbangen, Und vor allem Hoffen. Dass Anderssein gar nicht so schlimm ist. Dass Mut sich letztendlich lohnt. Und dass Akzeptanz der erste Schritt für ein Miteinander sein kann. Das Ende ist passend (bis auf die Entwicklung von David, die war mir dann doch etwas zu weichgespült;-))
Dir gefällt John Boynes Erzählstil? Dann lies noch seine anderen Jugendbücher, hier chronologisch nach Erscheinungsdatum sortiert: “Der Schiffsjunge: Die wahre Geschichte der Meuterei auf der Bounty”, “Zu schnell” ( Thema: Schuld), “Der Junge mit dem Herz aus Holz” (eine Parabel über den Trost des Erzählens), “Die unglaublichen Abenteuer des Barnaby Brocket” (Thema: Anderssein), “So fern wie nah” (Thema: Erster Weltkrieg). Bekannt wurde John Boyne vor allem durch dieses Buch: “Der Junge im gestreiften Pyjama”, das auch verfilmt wurde und während des Nationalsozialismus spielt. Sein letztes Jugendbuch ist “Der Junge auf dem Berg” — ebenfalls mit historischem Kontext und brillant geschrieben! Eine Familiengeschichte mit einer besonderen Leichtigkeit und unterschwelligen Ironie zu erzählen, weiß auch die französische Autorin Marie-Aude Murail, wie zum Beispiel in “Vielleicht sogar wir alle” oder “Ein Ort wie dieser” oder dem bekannten “Simpel” (ebenfalls eine Brüdergeschichte). Du möchtest mehr über das Thema Transsexualität lesen? Herausragend ist ebenso “George” von Alex Gino, aus der Sicht eines Jungen erzählt, der sich als Mädchen fühlt. Die gleiche Perspektive erlebst du in “Zusammen werden wir leuchten” von Lisa Williamson. Genau anders herum ist es in “Jenny mit O” von Karen-Susan Fessel. Zum Thema Intersexualität gibt es ebenso einen Titel derselben Autorin: “Liebe macht anders” und von Christine Fehér: “Weil ich so bin”. Gut könnte ich mir auch “Bus 57” von Dashka Slater und “Als ich Amanda wurde” von Meredith Russo vorstellen. Und in “Meine Mutter, sein Exmann und ich” von T.A.Wegberg möchte die Mutter des Protagonisten zum Mann werden.
Bibliografische Angaben:Verlag: Fischer ISBN: 978-3-7373-4219-3 Erscheinungsdatum: 23.September 2020 Einbandart: Hardcover Preis: 14,00€ Seitenzahl: 256 Übersetzer: Adelheid Zöfel Originaltitel: "My brother's name is Jessica" Originalverlag: Puffin Englisches Originalcover:
John Boyne im Interview zu seinem Buch (auf Englisch):
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(5 von 5 möglichen Punkten)
-------------------------- Englisches Cover: Hompeage von John Boyne