“Ich war der Lärm, ich war die Kälte” ist ein Roman der britischen Schriftstellerin Jenny Downham. Die vielfach ausgezeichnete Autorin beschäftigt sich in ihren Büchern wahrlich mit keinen leichten Themen, doch sie ist eine begnadete Erzählerin! In diesem Werk stellt sie ein junges Mädchen in den Mittelpunkt, das mit Aggressionen zu kämpfen hat, sich aber eigentlich nur danach sehnt, geliebt zu werden. Ein höchst eindrucksvolles Buch, intensiv, bewegend und brillant geschrieben. Eine Familiengeschichte, abseits des Mainstreams, die man sich definitiv nicht entgehen lassen sollte. Eines der besten Bücher, das ich in den letzten Jahren gelesen habe! Nun neu als Taschenbuch erschienen. Für Jugendliche ab 13 Jahren und Erwachsene, die man wieder etwas richtig, richtig Gutes lesen wollen!
Die 15-jährige Alexandra, genannt Lexi, wird manchmal wütend. Richtig aggressiv. Dann schreit sie und gibt Dinge von sich, die ihr hinterher wieder leidtun. Dann macht sie Gegenstände kaputt und stößt alle von sich. Seit sieben Jahren gehören auch John mit seinem Sohn Kass, der drei Jahre älter ist als sie und auf den Lexi heimlich steht, zu ihrer Familie. Iris ist das gemeinsame Kind der beiden. Genauso wunderschön wie ihre Mutter. In größerer Gesellschaft hat Lexi Probleme. Fühlt sich fehl am Platz, weiß nicht, was sie sagen soll, ohne anzuecken oder etwas falsch zu machen. Bei der Verlobungsfeier ihrer Eltern, die im Garten stattfindet, soll sie deshalbein paar Häppchen herumreichen, um besser Kontakte schließen zu können. Etwas, das sie nicht wirklich gerne macht: “…wenn sie mich dann komisch ansahen, würde mich das so wütend machen, dass ich das Tablett auf den Rasen schmeißen und davonstapfen würde. Johns gelackte und geschniegelte Arbeitskollegen würden herausfinden, was er schon wusste — dass ich eine fürchterlich jähzornige Idiotin war. Irgendwer würde ihn garantiert fragen: “Hat dieses Mädchen irgendwas mit dir zu tun?” Und dann würde er dieses furchtbar enttäuschte Gesicht ziehen und sagen: “Alexandra wird meine Stieftochter.” (Zitat aus “Ich bin S.12) Dabei möchte Lexi doch nur eines: unbedingt dazugehören. Teil dieser Familie sein. Geliebt werden. Doch dann rastet sie tatsächlich wieder aus, als ein aufdringlicher, älterer Herr — der Seniorpartner von John, zu dem sie eigentlich besonders nett sein sollte — ihr beim Tanzen zu nahe kommt und sie sich wehrt. Niemand glaubte ihr und als der Mann einen
Asthmaanfall erleidet, ist sowieso niemand mehr auf ihrer Seite. John schickte sie einfach nur ins Bett. “Fick dich!” Mir war klar, wie sich das anhörte. Ich wusste, was die anderen denken würden. Sah, wie sie ungläubig die Köpfe schüttelten. “Tut mir leid, Leute”, erklärte John ihnen. “Es war ein langer Tag.” Ich forderte ihn noch mal auf, sich zu ficken, ehe ich quer über den Rasen und die Treppe raufstapfte.” (Zitat S.47) Weil Lexi keine Freunde hat, gibt es nur zwei Menschen, mit denen sie ihre Sorgen teilen kann. Mit ihrem Stiefbruder Kass, von dem sie immer wieder betont, dass er nicht ihr Bruder sei (und mit dem sie sich sehnsüchtig eine Beziehung wünscht) und dessen Freundin Cerys, die beliebt ist und von der sie sich manchmal einen Rat holt. Sie leidet darunter, dass Kass schon seit einiger Zeit wegen seinem Studium nicht mehr bei ihnen wohnt. Ruft ihn immer wieder an und erzählt ihm von ihren Nöten: “Wo Iris und meine Mum beide so hübsch sind und du Architektur studierst, und jetzt n
och die Märchenhochzeit. Was ist an mir schon traumhaft? Dein Dad kann nicht zu Hause arbeiten, wenn ich da bin, weißt du das schon? Ich zehre an seiner kreativen Energie.” “Der zieht dich bloß auf.” “Du musst unbedingt zurückkommen und mich retten.” (Zitat S.50) Aber Kass ist nun mal nicht zu Hause. Bei ihr und bei John, mit dem das Zusammenleben immer schwieriger wird. “Sag ihnen, dass dir das mit der Party leidtut, und versprich, nächstes Mal, wenn du wütend wirst, bis zehn zu zählen und dich wieder zu beruhigen. Sieh es als Experiment, warum nicht?” Sei netter. Mitfühlender. Entschuldige dich. Beruhige dich. Cerys sagte: “Leg dir zu alldem ein neues Hobby zu und tu etwas mehr für die Schule, und schon haben wir einen völlig neuen Menschen aus dir gemacht.” (Zitat S.59) Und Lexi tut wirklich alles, um ihre gelegentlichen Ausbrüche wiedergutzumachen. Bringt John zum Beispiel
Kaffee und ein paar Kekse in sein Arbeitszimmer. Doch dann nimmt sie in der Schule an einem Vorsprechen für die Theater-AG für Shakespeares “Der Sturm” teil und rastet erneut aus. Schmeißt einen Stuhl gegen eine Glasscheibe. Das hat ungeahnte Folgen…
Düster, kunstvoll arrangiert und genauso zerbrochen wie die Hauptfigur erscheint, wirkt das Cover von “Ich war der Lärm, ich war die Kälte” (bezieht sich auf die Hardcoverausgabe, siehe unten). Der ungewöhnliche, aber faszinierende Titel hebt sich genauso ab wie der Roman selbst. Jenny Downham hat eine Geschichte geschrieben, die anders ist, mit einer Protagonistin, die spröde und rau und voller zwiespältiger Gefühle ist. Genauso zwiespältig lässt sie den Leser erst einmal zurück, der in einem einführenden Prolog, der wie ein unheilvolles Märchen beginnt, auf die Person stößt, die keinem Stereotype gleicht: “Es war einmal ein Kind, das zu einem schlimmen Mädchen heranwuchs. Sie schmiss und schlug um sich, schimpfte und fluchte. Sie war ein tölpelhaftes Trampel und hatte keine Freunde. […] “Ich werde mich ändern”, sagte das Mädchen. “Von nun an benehme ich mich, versprochen.” […] Sie wollte von ihrer Familie geliebt werden. Doch die Wut lauerte in ihrem Bauch wie eine tückische Schlange. Und manche Versprechen lassen sich nicht so leicht einhalten.” (Zitat S.7) Gerade diese Ecken und Kanten ihrer Hauptfigur herauszuarbeiten, ist Jenny Downham außerordentlich gut gelungen. Trotz aller Widrigkeiten schließt man die Ich-Erzählerin Lexi in sein Herz, fühlt und fiebert mit ihr mit. “Ich war der Lärm, ich war die Kälte” ist mitunter kein einfaches Buch, es fordert den Leser. Es lässt ihn auf den Höhen und Tiefen der Protagonistin wandeln. Es ist wild und ungestüm, aber auch voller Heftigkeit und Schmerz: “Ich wollte, dass sie mich zu sich heranwinkte. Mich an sich zog und mir sagte, dass sie mich lieb hatte. Doch sie blieb einfach nur stirnrunzelnd sitzen, so als würde sie mich überhaupt nicht kennen.” (Zitat S.81) Dann aber auch wieder sanftmütig, traurig und klug: “Ich berührte eine schwarzsamtene Blattknospe mit der ausgestreckten Hand. Wenn ich ein Blatt wäre, würde niemand etwas von mir erwarten.” (Zitat S.9ff) Jennifer Downham schreibt einfach hervorragende Literatur. Ihre Sprache ist einfach, aber äußerst intensiv. Hier ist jedes Wort am richtigen Platz.
Man taucht in die Geschichte immer tiefer ein, wieder förmlich von ihr eingesogen. Entblättert eine Wahrheit, die so dramatisch, ergreifend und packend ist. Das Ende liefert einen besonderen und unerwarteten Showdown, theatralisch und einfach perfekt. Dass man “Ich war der Lärm, ich war die Kälte” jemals wieder vergessen wird — unmöglich!
Fazit: Großartige Literatur. Mitunter eines der besten Bücher, das ich in den letzten Jahren gelesen habe!
Dir gefällt Jenny Downhams Art zu erzählen? Dann lies noch ihre anderen Bücher. Sehr gut gefiel mir “Bevor ich sterbe”, das die Geschichte eines krebskranken Mädchens erzählt, das sich noch letzte Wünsche erfüllen möchte, bevor sie stirbt. Danach erschien “Ich gegen dich”, das sich auch sehr berührend liest. Daraufhin veröffentlichte sie im Deutschen “Die Ungehörigkeit des Glücks”, das später noch einmal unter dem Titel “Obwohl es dir das Herz zerreißt” neu aufgelegt wurde. Hinsichtlich der Wut und der Aggression musste ich sofort an den ebenfalls britischen Autoren Melvin Burgess und sein Buch “Kill all enemies” denken, das eine sehr gute inhaltliche Alternative ist oder auch an die Protagonistin in “Saligia: Das Spiel der Todsünden” von Swantje Oppermann. Du magst Familiengeschichten, bei denen man erst langsam unter die Oberfläche blickt? Dann lies unbedingt das herausragende “Jetzt, ist alles, was wir haben” von Amy Giles oder auch “Jeden Tag ein bisschen mehr” von Louisa Reid. Menschen, die zunächst keine Chance bekommen, findest du zudem in “Immer diese Herzscheiße” von Nana Rademacher, in “Befreiuugsschlag” von Stefan Gemmel & Uwe Zissener und in “Voll verkackt ist halb gewonnen” von Tom Limes. Gut könnte ich mir auch “Wie ein Fisch im Baum” von Lynda Mullaly Hunt vorstellen.
Bibliografische Angaben:Verlag: cbj ISBN: 978-3-570-31497-5 Erscheinungsdatum: 10.August 2022 Einbandart: Taschenbuch Preis: 10,00€ Seitenzahl: 432 Übersetzer: Astrid Arz Originaltitel: "Furios Thing" Originalverlag: David Fickling Books Britisches Originalcover:
Deutsches Hardcover:
Die Autorin stellt ihr Buch vor (auf Englisch):
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