Der amerikanische, mehrfach ausgezeichnete Autor Jason Reynolds hat mit “Long way down” ein Buch in ganz außergewöhnlicher Weise verfasst: ein Roman in Versform. Eine Geschichte über einen toten Bruder, Rache, Gewalt und eine Entscheidung, die in einem Fahrstuhl getroffen wird und alles verändert. Von Stockwerk zu Stockwerk steigen neue Menschen hinzu, die dem Protagonisten zu denken geben. Ein ungewohntes, intensives, eindrucksvolles Leseerlebnis. Für Jugendliche ab 14 Jahren und interessierte Erwachsene.
Wills Bruder Shawn wurde erschossen. “Es ist gestern Abend passiert./ Jemand ist ihm vom Laden aus gefolgt/ hat ihn überrascht/ hat ihn zweimal in die Brust geschossen/ genau vorm Haus […] Aber ich weiß/ dass es die Dark Suns waren./ Riggs und so./ Muss so sein.” (Zitat aus “Long way down” S.102). Will, der sich ein Zimmer mit ihm geteilt hat, greift nach Shawns Waffe. Die, die er in der Schublade versteckt hat. Von Waffen hat er keine Ahnung. Aber die Regeln, die kennt er. Wenn jemand zu Unrecht getötet wird, dann muss er Rache nehmen. Er darf niemanden verpfeifen. Und Weinen ist auch nicht erlaubt. Das hat er schon früh beigebracht bekommen. “Mir war zum Heulen/als wäre/jemand anders/ in meinem Kopf gefangen./ Kleine Fäuste/ trommelten von hinten/ gegen meine Augen./ Tritte trafen meine Kehle/ genau an der Stelle/ wo man schluckt./ Bleib wo du bist! flüsterte ich ihm zu./ Bleib stark! sagte ich zu mir selbst./ Denn Weinen ist gegen/ Die/ Regeln.” (Zitat S.38) Auf seiner Fahrt mit dem Fahrstuhl vom 8.Stock, wo er wohnt, hinab in die Lobby muss Will eine Entscheidung treffen. Will er seinen Bruder wirklich rächen? Wird er das tun, was in seinem Milieu “Gesetz” ist? Unterwegs steigen die unterschiedlichsten Personen zu, die ihm mit ihren Worten zu denken geben. Was wird er tun, wenn seine Fahrt zu Ende ist?
Jason Reynolds hat bereits im Alter von neun Jahren Gedichte geschrieben. Jahrelang hat er sich nur auf die Poesie konzentriert, ehe er mit 17 seinen ersten Roman las. Nach ein paar veröffentlichen Lyriksammlungen schrieb er ausschließlich Romane. Mit “Long way down” kehrt er nun zu seinen Wurzeln wieder zurück. Das komplette Versmaß des Buches ist beim Lesen zunächst recht ungewöhnlich, die eingerückten Zeilen, die vielen Überschriften, die Absätze zwischen den Zeilen. Es reimt sich nichts, aber die teils sehr wenigen Worte, die ganze Seiten füllen, sind akkurat gewählt. Intensiv. Auf den Punkt gebracht. Kraftvoll. Wenn auch irgendwie aus weiter Distanz erlebt man als Leser die Hauptperson Will, der in Ich-Perspektive berichtet und seine Welt zu Füßen legt, die mit dem Tod seines Bruders aus den Fugen gerissen wurde. Die Stimmung ist durchweg eher beklemmend und düster: “Das gelbe Licht/ im Treppenhaus surrte wie die Leuchtkäfer/ die ich und Shawn als Kinder/ fingen./ Wir setzten sie/ in gewaschene Marmeladengläser/ vier oder fünf von ihnen/ auf einmal./ Shawn schraubte den Deckel fest/ und wir setzten uns/ auf eine Bank/ und sahen ihnen/ beim Fliegen zu./ Wie sie zusammenstießen/ gefangen/ bis einem nach dem anderen/ das Licht ausging.” (Zitat S.77) Das Milieu, in dem Will und Shawn aufwachsen, ist kein Schönes. Gewalt scheint an der Tagesordnung zu stehen. Dass auf der Straße Schüsse ertönen, die einen sich zu Boden werfen lassen, nichts Außergewöhnliches. Der Autor scheint zu kennen, wovon er schreibt. So lässt es die Widmung zu Beginn des Buches erahnen: “Für alle Brüder und Schwestern in den Jugendgefängnissen im ganzen Land, für alle, die ich getroffen, und alle, die ich nicht getroffen habe. Ihr werdet geliebt.” (Zitat S.5) Die Personen, denen Will begegnet, sind Menschen aus seiner Vergangenheit, aus seiner Familie. Menschen, die ihm Fragen stellen, die ihn auf die Tragweite seiner Entscheidung aufmerksam machen und ihn und den Leser zum Nachdenken bringen. Ein brillant gewählte Stilmittel. Das offene Ende lässt viel Raum für Spekulationen. Der Roman ist sehr gut für eine Buchvorstellung (vor allem für Jungs, die nicht so gerne lesen und nicht so viel, da man das Buch unheimlich schnell durch hat) und als Klassenlektüre geeignet.
Fazit: Ungewöhnlich, anders, kurzweilig, aber unvergesslich!
Du magst Jason Reynolds Art zu schreiben? Dann lies noch seine anderen Romane. “Coole Nummer” (2015), “Love oder Meine schönsten Beerdigungen” (2017) und “Nichts ist okay!” (2018). Bekannt wurde der Autor vor allem durch seine “Lauf”-Reihe: “Ghost: Jede Menge Leben” (Band 1), “Patina: Was ich liebe und was ich hasse” (Band 2), “Sunny: Der Sound der Welt” (Band 3) und “Lu: Wir sind Familie” (Band 4). Nächstes Jahr erscheint von ihm im März: “Brüder: Mutig wie wir” und im Mai: “Die Sache mit dem Glücklichsein” (Neuauflage von “Love oder Meine schönsten Beerdigungen”). Dir gefällt der Erzählstil in Versform? Hier gibt es mehrere Varianten. Lies zum Beispiel “Die Sprache des Wassers” oder “Eins” von Sarah Crossan. Etwas älter sind “Wenn dir das Leben eine Zitrone gibt, mach Limonade draus” von Virginia E. Wolff oder “In Liebe, Brooklyn” von Lisa Schroeder (sehr berührend) oder “Crank” von Ellen Hopkins. Dieses Jahr mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet wurde sogar “Ich weiß heute Nacht werde ich träumen” von Steven Herrick. Lies noch sein erstes Buch, ebenfalls in Versform geschrieben: “Wir beide wussten, es war was passiert”. Lesealternativen zu Jason Reynolds unabhängig vom Versmaß gesucht? Sehr passend sind zum Beispiel “Kill all enemies” von Melvin Burgess, “Befreiungsschlag” von Stefan Gemmel & Uwe Zissener und “Dear Martin” von Nic Stone/ “The hate u give” von Angie Thomas.
Bibliografische Angaben: Verlag: dtv ISBN: 978-3-423-65031-1 Erscheinungsdatum: 23.August 2019 Einbandart: Broschur Preis: 14,95€ Seitenzahl: 320 Übersetzer: Petra Bös Originaltitel: "A Long way down" Originalverlag: Faber & Faber Amerikanisches Originalcover: Trailer zum Buch (auf Englisch):
Jason Reynolds im Interview (auf Englisch):
Kasimiras Bewertung:
(4 von 5 möglichen Punkten)
------------------------------------ Amerikanisches Cover: Homepage von Jason Reynolds