“Dann kannst du nicht mehr wegsehen” ist der Debütroman der deutschen Autorin Jana Fuhrmann, die ein junges Mädchen in den Mittelpunkt ihrer Geschichte stellt, die anfängt sich aktiv für den Tierschutz einzusetzen. Eigentlich ist Jella eine Außenseiterin, ist gerne für sich allein, doch als sie die charismatische Linn kennenlernt, schließt sie sich deren Gruppe an. Doch bald reichen Jella die “harmlosen” Aktionen wie Flyer verteilen oder Leute aktiv anzusprechen nicht mehr aus. Sie will wirklich etwas bewirken. Als sie sich Mattis und seiner Gruppe anschließt und sich nachts mit vielen anderen in einem Schlachthof ankettet, gerät die Situation außer Kontrolle. Jella erleidet eine Panikattacke. Plötzlich geht gar nichts mehr und sie muss in eine Klinik… Ein sehr faszinierender und authentisch erzählter Roman, der auf Tierschutz, Veganismus und Aktivismus aufmerksam macht, aber auch Mental Health damit geschickt kombiniert. Die Autorin, die selbst als Pressereferentin in einer Tierrechtsorganisation arbeitet, weiß zudem, von was sie schreibt. Berührend. Bewegend. Mitreißend. Für Jugendliche ab 14 Jahren und interessierte Erwachsene.
Die 16-jährige Jella lebt sehr zurückgezogen. Eine beste Freundin hatte sie zuletzt in der Grundschule. “Die Welt ist kaputt, die Klimakatastrophe nicht mehr aufzuhalten und narzisstische, moralisch verkommene alte weiße Männer haben die Macht, alles in die Luft zu sprengen. Die einen haben nicht mal genug zu essen, die anderen scheißen drauf und schießen Raketen in Penisform ins Weltall, und alles ist wahnsinnig kompliziert und eh nicht zu ändern.” (Zitat aus “Dann kannst du nicht mehr wegsehen” S.15) Ihr Zimmer ist ihr liebster Ort. Ihr Rückzugsort. “Alles, was ich brauche, sind mein Bett, mein Laptop und eine Tür, die ich zumachen kann.” (Zitat S.17) Zusammen lebt sie mit ihrer dauergestressten und oft erschöpften Mutter in einer Wohnung. Wirklich viel Geld haben sie nicht. Doch Jella braucht ohnehin nicht viel. Bingewatchen ist ihr liebstes Hobby. Oft macht sie Filmabende mit ihrer Mutter und schaut alleine regelmäßig Trash TV, um abzuschalten. Aber dann begegnet sie eines Tages in der Stadt der selbstbewussten Linn. “Und trotzdem strahlt sie etwas aus, wovon ich Welten entfernt bin. Eine absolute Sicherheit und Entschlossenheit. Unbeeindruckt von den Reaktionen der Vorbeigehenden steht sie da, mit geradem Rücken und einem verwegenen Zug um den Mund.” (Zitat S.19) Diese organisert sich sehr engagiert als Tierschützerin. Und obwohl Jella zunächst äußerst skeptisch ist, schließt sie sich ihrer Gruppe schließlich an. Genießt die Freundschaft zu Linn und hilft regelmäßig bei ihren Aktionen mit. Sie besuchen Demos und sprechen aktiv Leute in Zügen an. “Wir gehen durch den Gang und strecken den Leuten die Bildschirme entgegen. Kühe, deren grotesk große, von dicken Adern überzogenen Euter aussehen, als würden sie gleich
platzen. Schweine, die mit dem Kopf nach unten an Haken hängen, während aus ihren aufgeschnittenen Kehlen das Blut sprudelt und über ihre Gesichter läuft. Ausgemergelte Hühne mit trübem Blick und kahlen Stellen überall am Körper.” (Zitat S.47) Jella, die selbst Vegetarierin ist und nun zur Veganerin wird, informiert sich immer mehr über den Tierschutz. Will noch mehr bewegen auf dieser Welt. Bald reichen ihr die Aktionen mit Linn und ihren Freunden nicht mehr. Sie will noch mehr tun. Da stößt sie auf Mattis, der regelmäßig nächtliche Aktionen plant, in Ställe einbricht, um Misstände zu dokumentieren. Bei ihrer ersten Aktion rettet sie spontan ein kleines Ferkel, das ohne ihre Hilfe gestorben wäre. Doch dann geht es ihr zunehmend schlechter. “Oft wache ich zwischen drei und vier Uhr morgens auf und scrolle auf meinem Handy durch Videos aus Ställen und Schlachthöfen, bis ich aufstehen muss. Ängste schleichen sich bei mir ein. Am Ende einer Schulstunde traure ich mich kaum aufzustehen, weil ich auf einmal befürchte, dass meine Beine einfach unter mir wegbrechen könnten. Ich versuche, den Gedanken wegzuschieben, aber er taucht in
nächster Zeit häufiger auf.” (Zitat S.118) Als sie mitten in einer nächtlichen Aktion, bei der sie sich in einem Schlachthof mit anderen zusammen anketten, eine Panikattacke bekommt, gerät alles außer Kontrolle. Jella kann einfach nicht mehr. Kurz darauf wird sie in eine Klinik gebracht…
Das Cover ist richtig schön, auffällig und passend gestaltet. Der Titel höchst treffend gewählt. Der Roman, der durchgehend aus Jellas Sicht in der Ich-Perspektive erzählt wird, startet mit einem Prolog, der bereits andeutet, was mit der Protagonistin im Laufe des Buches passieren wird: “Ich bewege meine kribbelnden Arme und Beine. Sie funktionieren, aber fühlen sich fremd an. Ich kenne das mittlerweile, also ganz ruhig. Ich weiß, dass ich nicht verrückt bin. Ich weiß, dass der Lärm, dass die Schreie in meinem Kopf sind, und nicht von außen kommen.” (Zitat S.7ff) Sie ist in einer Klinik. Hat immer wieder Panik. Und wird von einer Therapeutin begleitet. “Denk immer daran, was dich motiviert. Überleg dir, wo du hinwillst”, hatte Frau Kitali gesagt. Ich will nirgendwo mehr hin. Ich habe die Hölle gesehen. Die Welt ist dunkel und ich bin schwach. Nutzlos. Ein Nichts.” (Zitat S.9) Dann setzt der Hauptteil, der 6 Monate vorher spielt. Die Autorin verwendet eine sehr klare, flüssige Sprache. Während in der ersten Hälfte des Buches sich sehr stark auf das Thema Tierschutz fokussiert wird (hier wird es zuweilen schon etwas heftiger und es wird nichts ausgespart), beschäftigt sich die zweite Hälfte von “Dann kannst du nicht mehr wegsehen” (der Titel ist passend doppeldeutig!) mit mentaler Gesundheit, vor allem mit Panikattacken, es geht aber auch in Richtung Depression/Burnout. Die Wandlung der Protagonistin fand ich allgemein sehr überzeugend dargestellt. Anfangs versucht sie alles Unbequeme zu verdrängen, sich nicht mit politischem Weltgeschehen, Klimawandel etc. auseinanderzusetzen. “Es gibt Augenblicke, in denen mir das nicht gelingt. Augenblicke, in denen mir aus dem Nichts mit einem Schlag bewusst wird, dass ich tatsächlich da bin und dass jetzt jetzt ist. Es ist ein grauenvolles Gefühl, viel zu viel, viel zu grell, viel zu nah. Meist scrolle ich dann so lange durch Instagram, bis ich wieder den Zustand von angenehmer Selbstvergessenheit erreicht habe.” (Zitat S.16) Doch als Jella Linn kennenlernt
, ändert sich alles. Sie verändert sich. “Es ist, als wäre ich aus einem viel zu langen Schlaf endlich aufgewacht. Plötzlich sehe ich völlig klar. Mein altes Ich, das zwar alles am Rande mitbekommen hat, aber sich mit unbequemen Wahrheiten nicht beschäftigen wollte, kann ich nicht mehr verstehen. Ich unterziehe alles, was ich besitze einer gründlichen Prüfung und schmeiße weg, was nicht vegan ist.” (Zitat S.50) Jella wird in ihren Ansichten bald jedoch immer extremer und entfernt sich von Linn und ihrer Clique. Eckt auch mit ihrer Mutter zunehmend an. “Was soll sie machen? Mich einsperren? Kann sie nicht. Mich zu Hause rausschmeißen? Wäre vielleicht sogar gut, dann könnte ich machen, was ich will.” (Zitat S.111) Dann kommt der Absturz. Ihre Zeit in der Klinik, aber auch das, was danach kommt, wird sehr einfühlsam beschrieben. Für ein Jugendbuch wird leider etwas zu oft das Rauchen erwähnt. Das Ende ist äußerst passend. Vor allem die Zeit auf dem Lebenshof und die Begegnungen dort berühren. Die Botschaft kommt an — dass man nicht über seine Grenzen gehen darf. Dass man trotzdem etwas bewirken kann in der Welt, jeder auf seinem Level.
Erzählerisch wird das Thema Umweltschutz/Tierschutz nicht allzu oft im Jugendbuch aufgegriffen, etwas älter schon sind zum Beispiel “2084 — Noras Welt” von Jostein Gaarder (2015), “Meine Ökokrise und ich” von Ilona Einwohlt (2014) und “Euer schönes Leben kotzt mich an” von Saci Lloyd (2013). Einige Umweltromane hat auch Carl Hiaasen geschrieben, zum Beispiel “Fette Fische” oder “Eulen”. Oder Katja Brandis in “Floaters”. Oder lies das gelungene “Weltverbessern für Anfänger” von Stepha Quitterer oder “Die drei !!! — Voller Einsatz für die Erde” von Kirsten Vogel. Etwas neuer sind noch “Sturm” von Christoph Scheuring oder “Catching Feelings: Das Herz findet immer einen Weg” von Kiera Licht. Sehr empfehlen kann ich auch “Es war die Nachtigall” von Katrin Bongard, hier verliebt sich einen Tierschützerin in einen Jäger oder “Long Road” von Kevin Brooks (hier wird ein Affe gerettet). Zur Thematik Depression/Angststörung/Burnout gibt es einige sehr lesenswerte Romane im Jugendbuch: “Alles. Nichts. Und ganz viel dazwischen.” von Ava Reed, “Graue Wolken im Kopf” von Juliane Breinl, “Nur ein bisschen Angst” von Alexander Kielland Krag und “Sowas wie Sommer, sowas wie Glück” von Lise Villadsen. Sehr gut fand ich außerdem “Mein Sommer auf dem Mond” von Adriana Popescu, in welchem sich ein paar Jugendliche in einer psychiatrischen Einrichtung ihren Problemen stellen müssen (u.a. auch ein Mädchen mit einer Angststörung).
Bibliografische Angaben:Verlag: Thienemann ISBN: 978-3-522-20311-1 Erscheinungsdatum: 24.April 2025 Einbandart: Broschur Preis: 15,00€ Seitenzahl: 304 Illustrator:in: Formlabor
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