“Eisvogelsommer” von dem belgischen Autoren Jan De Leeuw ist ein Roman über Verlust, den Schmerz der Trauer und des Loslassens. In einer poetischen, meisterhaften Sprache und aus einer ganz besonderen Perspektive erzählt. Für Leser anspruchsvoller, außergewöhnlicher Geschichten. Ab 14 Jahren und vor allem für Erwachsene.
Niederlande. Der 15-jährige Thomas ist bei einem Unfall ums Leben gekommen. Zurückgelassen hat er seinen alternden, langsam dement werdenden Großvater, den großen Geschichtenerzähler: “Der Mann ist talentiert, das lässt sich nicht leugnen. Die Art, wie jemand dir die Hand gibt oder bloß seinen Hut trägt, genügt ihm, um dir das ganze Leben dieses Menschen zu erzählen. Gib ihm ein Sandkorn und er erfindet ein Schloss, zeig ihm eine Wimper und er erzählt dir eine Familiensaga.” (Zitat aus “Eisvogelsommer” S.48) Zurückgelassen hat er auch seine Eltern. Seinen Vater, den großen Schweiger, der mit der Trauer um ihn besser zurechtzukommen scheint als seine Mutter. Sie möchte sich auf einmal scheiden lassen, sieht keinen Sinn mehr in ihrem Leben und versinkt in der Bedeutungslosigkeit. Ihr einziger Mittelpunkt ist ihr verstorbener Sohn, dessen Zimmer sie bewacht und für den sie stets einen weiteren Teller auftischt und befüllt. “Wenn ich Thomas loslasse, dann…[…] falle ich, dann verschwinde ich in einem dicken, schwarzen Meer. Tausende Meter und tiefer falle ich und der Druck nimmt zu, ich bekomme keine Luft mehr. Öffne ich den Mund, dann schwappt mir dickes, schwarzes Wasser in den Hals, ich ersticke, ich werde zerschmettert. Er ist mein Atem. Ohne ihn sterbe ich.” (Zitat S.50) Und zurückgelassen hat er Orphee, seine Freundin, die ebenso von den Erinnerungen an ihre gemeinsame Zeit überwältigt wird. Sie verbrennt die Fotos von ihnen, die CDs, die er ihr geschenkt hat. “Ich habe sie hundertmal gesehen, wenn sie sich eine Zigarette anzündete. Meine coole Orphee. Meine rebellische Liebste, meine Raucherin. Sie wusste, wie ich dieses Rauchen hasste. “Ich bin nicht dein Eigentum”, sagte sie und blies mir mit jedem Zug ihren Eigensinn ins Gesicht.” (Zitat S.8) Doch selbst dieser Eigensinn und ihre Zerstörungswut helfen ihr nicht wirklich weiter. Sie kann nicht essen. Sie kann nicht schlafen. Sie kann ihn nicht vergessen. Doch Thomas, der all diese Menschen aus dem Off beobachtet und ihren Alltag verfolgt, leidet ebenfalls: “Denn ich kann nirgendwo auftauchen, ohne ein Messer ins Herz derjenigen zu rammen, die ich mag, und ich bin es so leid, bin es müde, will, dass es aufhört, will, dass man mich gehen lässt.” (Zitat S.30) Wann wird man ihn loslassen? Wie viel Schmerz muss vergehen, damit eben jener weniger wird?
“Eisvogelsommer” ist aus einer ganz speziellen Erzählperspektive geschrieben. Es ist Thomas’ Sicht, die den ganzen Raum in dem Roman einnimmt, so wie sein Verschwinden aus dem Leben der anderen. Er schaut ihnen über die Schulter, liest in ihren Gedanken und unterhält sich mit ihnen, ohne dass sie wissen oder nur erahnen, dass er da ist. Ich möchte nicht behaupten, dass das Buch mit großer Spannung glänzt — zwar schwebt über allem die große Frage nach den Hintergründen des Unfalls — aber es ist mehr eine ruhigere, bedächtig erzählte Geschichte, die seine Leser vor allem durch die brillante Sprache begeistern wird. Jan Van Leeuw erschafft grandiose Bilder beim Erzählen: “Mein Großvater ist eine Spinne. Er lebt in einem unsichtbaren Netz aus Worten. Er wartet. Wer so dumm ist, mal eben bei ihm vorbeizuschauen, ist verloren. Wenn er merkt, dass sich die Beute achtlos an den Küchentisch gesetzt hat, lässt er seine Worte los. Sie […] wickeln einen ein, sodass man wie gelähmt an seinen Lippen klebt, bis er das letzte Bisschen Aufmerksamkeit aus einem herausgesagt hat.” (Zitat S.28) Der Roman ist ein Sprachkunstwerk, voller Poetik und Ausdrucksstärke. “Das Getreide ist gerade gesät. Wo die Räder der Maschinen Furchen im Schlamm gezogen haben, zittern graue Wolkenpfützen. […] Zwischen den kahlen Feldern verläuft die Straße, mehr Schlagloch als Asphalt und übersät mit Kleintierleichen. Die Autofahrer können nichts dafür. Plötzliche Kurven nehmen ihnen die Sicht, und wenn Igel und Wiesel sich mit Todesverachtung unter ihre Räder stürzen, dann ist jedes Bremsen vergeblich.” (Zitat S.10)
Vor allem Naturbeschreibungen, in denen Elemente der Natur personifiziert werden, lassen deren Bedeutung noch greifbarer werden: “In diesem Wald gibt es eine Lichtung, wo eine Birke, des Baumseins müde, eingeknickt und so zur natürlichen Bank zwischen den Nesseln geworden ist.” (S.7) oder “Es war unverschämt früh, noch kaum hell, am Horizont zögernd das erste Rosa. Die Erde war eine müde Schläferin, zog ein Augenlied hoch und ein Halbkreis aus Licht glitt durchs Dunkel.” (Zitat S.93) Gleichzeitig ist “Eisvogelsommer” aber auch ein Geschichtenroman. Denn neben der Erzählung von Orphees und Thomas’ Liebe — wie sie zusammengekommen sind, was sie gemeinsam erlebt haben — werden auch die Geschichten des Großvaters in das Buch mit eingeflochten. Die Geschichte von Philomena, einem Mädchen aus dem Dorf, die eines Tages schreiend aus dem Wald gerannt kam und seitdem verstummte und nur noch durch die Bilder sprach, die sie in ihre Teppiche hineinwebte. Und die Geschichte vom Eisvogel, der zugleich titelgebend ist und das Symbol für den herannahenden Tod. Thomas’ Großvater war zehn Jahre alt, als damals der große Schneesturm über sein Dorf kam. Als er alleine Zuhause war und selbst die Tiere aus dem Stall zu ihm in die warme Küche kamen. Er erinnerte sich an seinen Vater, der ihm selbst die Geschichte vom Eisvogel erzählte, “…einem riesigen Vogel, größer als ein Dorf, der im grimmigen Norden lebte, sich aber manchmal in die bewohnte Welt aufmachte. Nicht Hunger oder Neugierde lockten ihn, sondern der Ruf eines Menschen, ein kaltes Lied mit Worten aus Eis, das Unheil über einen ganzen Landstrich herabrufen konnte. Nur verzweifelte Menschen, so erzählte mein Vater, wagten es, den Eisvogel anzulocken, denn sie wussten, auch sie würden zur Beute des monströsen Vogels werden. […] Die Kälte wurde ihnen
zu viel, sie erfroren an Ort und Stelle und er packte sie mit seinem Schnabel, zermalmte sie, genoss das Knacken der eisigen Knochen.” (Zitat S.79ff) Der Großvater überlebte damals, aber seinen Vater fand er erfroren in einer Bar. In der Hand hielt er eine Zeitungsartikel über einen Großbrand bei einem Fest. Einem Fest, bei dem seine Frau kurze Zeit zuvor in Flammen aufgegangen war. Auch das Herz des Großvaters belegte sich damals mit einer dünnen Schicht Eis. Das Dorf kam davon, es taute auf. Aber das Eis auf seinem Herzen verschwand nie ganz und heute hat er nun den Eindruck, dass es immer mehr wird und der Eisvogel auch ihn bald holen wird, sein Tod bald naht. Das Cover wirkt minimalistisch und kommt mit ganzen drei Farben aus. Es wirkt freundlich und bedrohlich zugleich. Aber auf jeden Fall irgendwie anders und faszinierend. Für ein Jugendbuch dieses Umfangs ist es jedoch mit 16,95€ relativ teuer. Das sollte den Leser allerdings in diesem Fall keinesfalls vom Zugreifen abhalten;-)
Die wohl beste Alternative hinsichtlich der Erzählperspektive ist “In meinem Himmel” von Alice Sebold (ab 15⁄16), welches ein Mädchen in den Mittelpunkt setzt, das vom Himmel aus die Geschehnisse nach ihrem Tod beobachtet. Sprachlich gesehen zeichnet auch die Autorin Jenny Valentine in ihrer Neuheit “Durchs Feuer” fantastische Bilder. Das Thema Trauerverarbeitung findest du auf sehr sensible Weise in den Romanen “Wie viel Leben passt in eine Tüte?” von Donna Freitas und in “Nichts als Liebe” von Beth Kephart. Ein Titel eher für Jungs, ebenso im Gerstenberg Verlag dieses Jahr erschienen, das auch einen Verlust thematisiert, ist das gelungene “French Summer: A fucking great road trip” von Marian De Smet. Die Autorin stammt ebenso aus Belgien. Oder lies noch zwei andere Bücher von Jan De Leeuw: “Schrödinger, Dr. Linda und die Leiche im Kühlhaus” und “Roter Schnee auf Thorsteinhalla”.
Bibliografische Angaben:Verlag: Gerstenberg ISBN: 978-3-8369-5841-7 Erscheinungsdatum: 25.Januar 2016 Einbandart: Hardcover Preis: 16.95€ Seitenzahl: 256 Übersetzer: Rolf Erdorf Originaltitel: "Vijftien wilde zomers" Originalverlag: Davidsfonds Belgisches Originalcover:
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Kasimiras Bewertung:
(4,5 von 5 möglichen Punkten)
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