Die ausgezeichnete, deutsche Investigativjournalistin Isabell Beer, die sich auf Online-Recherchen spezialisiert hat, hat ein Jahr lang recherchiert, um zunächst eine Reportage über den Teenager Josh zu schreiben (erschienen in der ZEIT) und schließlich das Sachbuch “Bis einer stirbt: Drogenszene Internet — Die Geschichte von Leyla und Josh” zu veröffentlichen. Sie stellt zwei Jugendliche in den Mittelpunkt, die regelmäßig Drogen konsumieren und erzählt deren Lebensgeschichten. “Wir Kinder vom Bahnhof Zoo” in der heutigen Zeit. Heftig. Erschreckend. Bewegend. Ein Buch, das nichts ausblendet und wichtige Aufklärungsarbeit leistet, ohne zu bewerten. Buchstäblich “harter (Lese-)Stoff” für Jugendliche ab 14 Jahren und Erwachsene.
Josh wächst in ländlicher Idylle auf. Er ist “ruhig und sensibel, ein Träumer” (Zitat aus “Bis einer stirbt” S.14) und lässt sich für kaum etwas begeistern. Für keine der Sportarten, die seine Eltern ihn ausprobieren lassen. Am liebsten ist er in seinen eigenen vier Wänden. Anstrengungen vermeidet er. In der Schule ebenso wie im Privaten. Trotzdem ist er ein guter Schüler, kommt aufs Gymnasium. “Als er in die Pubertät kommt, zieht er sich weiter zurück. Nachts, wenn seine Eltern schlafen, schleicht er in den Keller, wo der Computer steht, und trifft sich in der Online-Welt mit gleichgesinnten Zockern.” (Zitat S.19) Freunde trifft er im echten Leben nicht mehr. Bald wird er in der Schule schlechter, lässt sich kaum mehr von seinem PC weglocken. Weil seine Eltern sich nicht anders zu helfen wissen, schicken sie Josh auf ein Internat. Doch dort kommt er mit Drogen in Berührung “Das Einzige, was das Internat mir gebracht hat, war: Ich weiß jetzt, wie man Joints raucht und Lines legt.” (Zitat S.22) Zwei Jahre später holen seine Eltern ihn dort weg, weil sie das Gefühl haben, dass er dort nicht gut aufgehoben ist. Konsequenzen hat sein Drogenkonsum trotz Gesprächen nicht gehabt. Zu einem Psychologen will er nicht gehen. Bald verlässt Josh sein Zimmer kaum mehr. Schmeißt die Schule. Experiment mit allen möglichen Drogen, bestellt sich alles problemlos im Internet direkt nach Hause. “Er schluckt mehr und mehr Ecstasy-Pillen, nicht mehr eine, sondern drei, vier Pillen auf einmal. “Mich hat’s einfach nur noch in die Couch gedrückt, und mir ging’s mega”, beschreibt er den Rausch. […] Damit entfernt sich Josh weit von Safer-Use-Empfehlungen. Er testet Grenzen aus — und riskiert dabei sein Leben.” (Zitat S.35) Leyla hingegen wächst in
einer Großstadt auf. Sie ist ein unruhiges, draufgängerisches Kind, eines, das nie stillsitzen kann. ADHS wird ihr von einem Arzt bescheinigt. “Ihre Eltern bleiben nie lange an einem Ort. Leylas Kindheit ist von ständigen Umzügen in Deutschland geprägt und längeren Aufenthalten in der Heimat ihres Vaters. Als sie acht ist, geht Leyla sogar in der arabischen Heimat ihres Vaters zur Schule” (Zitat S.16) Doch Unruhen und Bombenangriffe lassen die Eltern schließlich endgültig das Land verlassen. Auch wenn Leyla die Entscheidung versteht, vermisst sie ihre Heimat, vermisst das Gefühl von Freiheit, das sie dort empfunden hat. Als Einzelkind geben sich ihre Eltern viel Mühe, sie zu unterhalten, doch sie fühlt sich oft einsam. In der Schule wird früh über Drogen aufgeklärt, dennoch faszinieren Leyla diese Geschichten über Abhängige und sie “sehnt sich nac
h ihrer ersten Drogenerfahrung. Als ein Mädchen eines Tages eine Zigarette zu einem Treffen mitbringt, ist die Gelegenheit da. Leyla zieht daran — und fühlt sich benommen. [..] Für sie steht fest: Sie will alles mal probieren.” (Zitat S.21) Jahre später ist sie süchtig. Führt eine toxische Beziehung mit einem Jungen, der ihr nicht guttut und den sie trotzdem nicht verlässt und dealt sogar mit Drogen, um diese zu finanzieren. “Koks gefällt ihr. Sie findet es so “geil”, dass sie es nicht nur am Wochenende nimmt, sondern immer haben will. Regelmäßig konsumiert sie Kokain und ist manchmal mehrere Tage am Stück wach.” (Zitat S.39) Leyla und Josh haben im Internet immer wieder Berührungspunkte, tauschen sich über ihre Erfahrungen aus. Doch ihre Sucht nimmt immer gefährlichere Züge an…
Das Cover ist passend gestaltet. Ein Umschlag, der wahrscheinlich Drogen enthält, schwarz umrahmt wie eine Todesanzeige. In einem Vorwort schreibt Isabell Beer in “Bis einer stirbt” Folgendes: “Dieses Buch hat nicht den Anspruch, abschreckend zu sein, sondern den, differenzierte Informationen zu liefern.” (Zitat S.8) und dies tut sie auf jeden Fall, wovon der Hauptteil zeugt. In verschiedenen Kapiteln und Abschnitten, die von Josh zu Leyla und wieder zurück wechseln, berichtet sie — beginnend bei der Kindheit der beiden — ein facettenreiches Bild zu zeichnen. Während das erste Kapitel noch Andeutungen auf bevorstehende Ereignisse macht, ist der weitere Handlungsverlauf meist chronologisch. Schildert beispielsweise die ersten Berührungspunkte mit Drogen, aber auch immer wieder Reaktionen der persönlichen Umgebung der Protag
onisten: “Als Leyla gerade an ihrem Zigaretten-Joint zieht, tritt ihre Mutter ins Zimmer. “Riecht komisch”, sagt sie. “Bringt das was?” Sie weiß, dass es Marihuana ist. Sie verbietet es Leyla nicht und geht locker damit um. “Ich sah nichts Gefährliches darin”, sagt sie. “Ein erzwungener Verzicht führt nur zu Trotzreaktionen.” (Zitat S.26) Es werden immer wieder Zitate mit in den Text eingeflochten. Vor allem Onlinezitate der Jugendlichen, die Isabell Beer genau recherchiert hat, die höchstens sprachlich, aber nie inhaltlich angepasst wurden. Die Geschichte von Josh und Leyla mitzuverfolgen liest sich äußerst heftig, hier muss man schon einiges “vertragen”. Trotz des sachlichen, nüchternen Erzählstils taucht man relativ rasch in das Leben der beiden ein und kann vor allem eines erkennen: wie leicht es heutzutage geworden ist, an Drogen zu kommen und welch große Gefah
r davon ausgeht: “Was sich nie geändert hat, ist der Reiz, der von diesen Substanzen ausgeht. Gerade auf junge Menschen. Geändert hat sich aber die Drogenszene durch Internet und Smartphone, die immer mehr unsere Leben bestimmen.” (Zitat S.7) Wie einfach Josh beispielsweise an seine Drogen bekommt, die er sich nach Haus ein sein Kinderzimmer schicken lässt. Es wird in dem Buch relativ viel an Hintergrundinformationen zu Drogen geliefert. Alles wird genaustens durchleuchtet. Wie zum Beispiel über Kokain: “Eines der häufigsten Streckmittel in Kokain ist das Entwurmungsmittel Levamisol, das in der Tiermedizin gegen Darmparasiten bei Pferden und Schafen eingesetzt wird. Es verstärkt und verlängert die Wirkung des Kokains, gleichzeitig kann es aber bei regelmäßigem oder intensivem Konsum schwerwiegende gesundheitliche Schäden auslösen
.” (Zitat S.38) In Onlinegruppen tauschen sich die Jugendlichen regelmäßig über Drogen aus. All dies wird in “Bis einer stirbt” abgebildet. Was sie einnehmen, wie es wirkt und welche Erfahrungen sie dabei machen. Gespräche, in denen auch Josh und Leyla sich begegnen. Immer mal wieder einen Kommentar zu einer Bemerkung des anderen schreiben. Und vor allem eines ist dort oft Thema: “In den Gruppen wird der Konsum zum Teil wie ein Wettbewerb zelebriert. Es geht darum, wer die größten Pupillen hat. Wer am meisten einwirft. Wer die meisten Tage am Stück wach ist. Auch Josh lädt ein Bild seines linken Auges hoch. Einer urteilt: Deine Teller sehen nicht so krass aus wie die von Lisa ;-)” (Zitat S.73) Josh ist oft der, der die meisten Drogen ausprobiert, die höchste Dosis nimmt, sich aber auch fachlich sehr für die Hintergründe interessiert und viel liest
. Doch wie weit wird Josh gehen? Kann er mit seinen Erfahrungen und seinem Wissen und seinem Drang, immer Neues auszuprobieren, wirklich die Kontrolle behalten? Das kleine Symbol auf dem Cover neben seinem Namen lässt anderes erwarten. Dass es immer Menschen geben wird, die Drogen nehmen, davon schrieb Isabell Beer bereits in ihrem Vorwort: “Denn wenn wir nicht verhindern können, dass Jugendliche an Drogen kommen und zu ihnen greifen, sollten wir ihnen das Wissen an die Hand geben, wie sie risikoärmer konsumieren und Überdosen vorbeugen können.” (Zitat S.9) und geht auch in einem Nachwort noch einmal auf diese Prämisse ein: “Ich habe damals geglaubt, dass Abschreckung der richtige Weg sei. Doch in den Drogen-Gruppen sah ich mit jedem Tag, dass das nicht funktionierte.” (Zitat S.267) Deshalb ist im Anhang neben ei
nem Interview auch Safer-Use-Regeln aufgelistet, viele weiterführende Informationen und Hilfsangebote für Jugendliche. Außerdem erläutert die Autorin ihre eigene Geschichte, die sie Erfahrungen mit Alkohol haben machen lassen, die ins Extreme gingen: “Seit meinem schlimmsten Moment sind neun Jahre vergangen. Mir geht es heute gut, und mir ist bewusst, dass das nicht selbstverständlich ist. Umso mehr hoffe ich, dass dieses Buch in Deutschland eine Diskussion anstößt — über Safer Use, unsere Drogenpolitik sowie unseren Umgang mit Konsumenten und Konsumentinnen.” (Zitat S.266) Das Buch eignet sich ebenfalls gut als Klassenlektüre, um sich intensiver damit auseinanderzusetzen und beispielsweise andere Ansätze zu diskutieren.
Du möchtest mehr über Sucht und vor allem Drogenabhängigkeit lesen? In der Jugendliteratur gibt es einige (moderne) Klassiker zu diesen Themen, die auch oft in der Schule gelesen werden: “Die Einbahnstraße” von Klaus Kordon, “Cold Turkey” von Angelika Mechtel, “Wir Kinder vom Bahnhof Zoo” von Christiane F. und “Wenn ich will, hör ich auf.” von Werner Färber. Etwas mehr Mainstream und flüssige Unterhaltung bieten außerdem diese drei Autoren: “Lass mich glücklich sein! Im Bann von Crystal Meth” und “Höhenflug abwärts: Marie nimmt Drogen” von Jana Frey, “Speed” von Maureen Stewart und “Die Party-Pille” von Helen Vreeswijk. Oder lies von Melvin Burgess “Junk” oder “Death”. Drogenabhängigkeit und ein langsames Abstürzen, das kannst du auch in “Du denkst, die Welt zerfällt, und brichst nur selbst in Stücke” von Armin Kaster entdecken. Sehr authentisch fand ich vor allem “Clean” von Juno Dawson, in dem ein junges Mädchen in einer Klinik sich ihrer Suchtprobleme stellen muss. Bewegend und mit einem überraschenden Ende ist “Keine halben Sachen” von Antje Herden.
Bibliografische Angaben:Verlag: Carlsen ISBN: 978-3-551-58438-0 Erscheinungsdatum: Broschur Einbandart: 23.September 2021 Preis: 14,00€ Seitenzahl: 288 Übersetzer: - Originaltitel: - Originalverlag: - Originalcover: - Isabell Beer erhält den Otto-Brenner-Preis 2019 für Ihre Reportage über Josh:
Isabell Beer auf der Frankfurter Buchmesse:
Kasimira auf Instagram:
Kasimiras Bewertung:
(5 von 5 möglichen Punkten)