“Bevor wir alles verlieren” ist ein Roman der deutschen Autorin Heike Abidi, die ein Mädchen in den Mittelpunkt stellt, das erfährt, dass es einen Gehirntumor hat. Ehe sie sich für eine lebensgefährliche Operation entscheidet, wagt sie noch einen Roadtrip nach Berlin, um das Leben vollends auszukosten. Eine Geschichte über das Sterben, die Lust am Leben und die Liebe, die manchmal unerwartet kommt. Ein äußerst bewegendes, authentisches und unterhaltsames Buch, das sich zu lesen lohnt! Für reife Jugendliche ab 14 Jahren, die sich auch mit ernsten Themen auseinander setzen möchten.
Die 18-jährige Victoria ist eine ehrgeizige Sportlerin. Ausgerechnet bei ihrer Lieblingsdisziplin, dem Hochsprung, stolpert sie jedoch mitten in einem Turnier über ihre eigenen Füße. “Ich war schon immer ziemlich groß für mein Alter. So kam ich dann auch zum Hochspringen. Dieser Sport ist für mich das Wichtigste im Leben geworden. Er passt zu mir — ich brauche nur mich selbst und meine langen Beine. Kein Team, niemanden, den ich an mich heranlassen muss.” (Zitat aus “Bevor wir alles verlieren” S.37) Eigentlich wollte Victoria ihren persönlichen Rekord brechen und auf das Siegertreppchen, jetzt hat sie sich ihr Bein verstaucht und liegt im städtischen Krankenhaus. Doch weil sie vor der behandelten Ärztin fast zusammenbricht, ordnet dieseeine Computertomografie ihres Kopfes an, um eine Hirnblutung auszuschließen. Und dabei wird ein Tumor festgestellt! Zu weiteren Abklärung soll sie über Nacht da bleiben. “Wie gut, dass ich volljährig bin und keinen Elternteil informieren muss. Ich stehe das allein durch. Die Frage ist bloß, wen ich wegen der Klamotten anrufen soll.” (Zitat S.21) Ihr Vater, bei dem sie wohnt und der Wissenschaftler ist, ist gerade auf einem Kongress, den möchte Victoria nicht unbedingt stören. Ihre Mutter kommt jedoch auch nicht in Frage. “Sie hat sich nämlich schon vor vielen Jahren aus dem Staub gemacht. Ihr war das Leben mit einem verschrobenen Wissenschaftler nicht glamourös genug. Und das Leben als Mutter einer schlaksigen Zehnjährigen hat sie bei der Gelegenheit dann auch gleich hinter sich gelassen…” (Zitat S.21) Echte Freundschaften hat Victoria nicht, nur oberflächliche Bekanntschaften. Mädchen, die sie
vom Sport kennt und welche, mit denen sie feiern geht. Also bittet sie kurzerhand Theo, ihren nerdigen Nachhilfelehrer um Hilfe. Er bringt ihr Kleidung und bietet ihr sogar an, sie bei dem klärenden Arztgespräch zu begleiten. Denn während Victoria immer wieder Wortfindungsprobleme oder Schwindelgefühle verspürt, macht sich Theo währenddessen sogar Notizen, um ihr hinterher alles noch einmal genau zu erklären. Denn sie hat einen Tumor, der operabel ist, dennoch ist der Eingriff riskant und kann lebensgefährlich werden. “Und was, wenn ich mich nicht operieren lasse?” “Dann lebst du vielleicht noch zwölf Monate. Aber es wird dir immer schlechter gehen.” “Ich werde also entweder gleich sterben oder in einem Jahr?” Das kann ja wohl nur ein Witz sein.” (Zitat S.43) Die Operation, für dich sich Victoria entscheidet, ist in genau einer Woche. Begleitet von Theo macht sie sich auf einen Roadtrip nach Berlin, wo der Eingriff
stattfinden soll. Unterwegs möchte sie noch möglichst viel erleben und entwirft eine Bucketliste. Inklusive letzter, bester Kuss. Auch Theo muss einige Punkte erfüllen. Dabei kommen die beiden sich unerwartet näher…
Das Cover verwirrte mich anfangs ein wenig, bis ich die Umrisse der zweiten Person eindeutig zuordnen konnte. Dennoch zieht der eindringliche Blick der Protagonistin sofort in den Bann. Der Roman wird durchgängig aus Victorias Sicht in der Ich-Perspektive geschildert. Eine Hauptfigur, die etwas spröde, geradezu verbittert herüberkommt: “Aber was ist schon fair? Das Leben jedenfalls nicht. Das ist mir klar, seit ich zehn bin — seit meine Mutter abgehauen ist. Damals dachte ich, meine Welt bricht zusammen. In dieser Hinsicht kann es meine Mutter locker mit einem Tumor aufnehmen…” (Zitat S.36ff) Die niemanden an sich heranlässt und der erst im Krankenhaus klar wird, dass sie im Grunde keinen hat, den sie darum bitten kann ihr ihre Klamotten zu bringen. “…leider habe ich allerhöchstens Kontakte, keine Freunde. Denn Freunde muss man nah an sich heranlassen, und das liegt mir einfach nicht. Mein emotionaler Panzer schützt mich vor Enttäuschungen. Aber in Situationen wie dieser nützt mir der ganze Schutz nichts.” (Zitat S.24) Keinen außer ihren Nachhilfelehrer Theo. Ihn fand ich als Charakter auch sehr gelungen, vor allem seine faszinierenden Logikrätsel, mit denen er Victoria in manchen Situationen auf die Sprünge hilft, sind mal etwas ganz anderes in einem Buch. Beide Figuren machen eine glaubhafte Entwicklung durch. Während Theo immer mehr aus sich heraus und über Grenzen geht, kann man bei Victoria immer mehr hinter die Fassade schauen. Der Grundton der Geschichte sprüht daher von manch knallhartem Sarkasmus und einer teils witzig, ironischen Erzählweise: “Vermutlich sollte ich jetzt heulend zusammenbreche
n. Ein Nervenzusammenbruch wäre sicher nicht übertrieben. Doch ich nicke nur und mache “Hm”. Sie hat recht. So was erfährt man nicht alle Tage. Ich kriege einfach keine angemessene Reaktion zustande. Immerhin ist es mein erster Hirntumor!” (Zitat S.16) Was mir ein bisschen zu einfach davongekommen ist, war für mich das Ende, da hätte ich doch gerne etwas mehr erfahren. Auch warum Theo wirklich auf die Reise mitgekommen ist, davon hätte ruhig noch etwas erwähnt werden können. Dennoch ist “Bevor wir alles verlieren” eine insgesamt sehr berührende, mitreißende und nachdenklich machende Geschichte, die den Blick auf das Leben schärft.
Dir gefällt Heike Abidis Erzählstil? Für Jugendliche hat sie zahlreiche Bücher geschrieben: “Close-up”, “Marrakesh Nights”, “Sunny Days”, die “We love fashion”-Reihe, “Tatsächlich 13” + “Plötzlich 14” + “Endlich 15” + “14: Kicker, Küsse, Katastrophen”, “Und dann kamst du” und “Unglaubliche 12”. Ein wenig hat mich “Bevor wir alles verlieren” auch an den Roadtrip “Liebe sich, wer kann” von Annette Mierswa erinnert, in den auch einige Problemthemen eingebaut sind. Auf eine Art ebenso sehr distanziert (aber noch etwas heftiger) verhält sich die Protagonistin in “Solitaire” von Alice Oseman. Du magst Bücher, in denen die Charaktere Punkte einer Liste erfüllen? Dann lies unbedingt “Bevor ich sterbe” von Jenny Downham oder “Wir fliegen, wenn wir fallen” von Ava Reed. Oder “Dreizehn Wünsche für einen Sommer” von Morgan Matson und “Glücksspuren im Sand” von Rachel Bateman. Eine sehr gute inhaltliche Alternative ist außerdem “Bucket list: Nur wer fällt, kann fliegen lernen” von Georgia Clark, in welchem die Protagonistin ebenfalls eine schwere Entscheidung hinsichtlich ihrer Gesundheit treffen muss.
Bibliografische Angaben:Verlag: Moon Notes ISBN:978-3969760222 Erscheinungsdatum: 8.Oktober 2021 Einbandart: Broschur Preis: 15,00€ Seitenzahl: 304 Übersetzer: - Originaltitel: - Originalverlag: - Originalcover: -
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