“Doppeltot” des niederländischen Autoren Gideon Samson ist ein bemerkenswerter Roman über Freundschaft, Geschwisterliebe, Tod und Schuld. Ihn zu lesen ist wie ein herannahendes Gewitter über sich zu fühlen: dunkle Wolken, die immer näher kommen, Spannung, die mehr und mehr steigt, Sonnenschein, der einst war. Das Ende einer Kindheit, das durch etwas beendet wird, das als makabrer Scherz gedacht war, nun aber außer Kontrolle geraten ist. Eindringlich und ergreifend erzählt. Dieses Buch wird man so schnell nicht vergessen! Für Jugendliche ab 14 Jahren.
Krommeveer, ein kleiner (fiktiver) Ort in den Niederlanden. Beste Freundinnen, das sind die 12-jährigen Mädchen Rifka und Düveke. Wobei Düveke mächtig stolz auf ihre Freundschaft ist: “Rifkas Freundin zu sein ist das Höchste, was man erreichen kann. Ja, das ist es so ungefähr, denke ich. Und darum möchten es alle.” (Zitat aus “Doppeltot” S.13) Und alle anderen aus ihrer Klasse tanzen nur nach Rifkas Pfeife. Sie besticht sie mit Süßigkeiten oder verteilt unter ihnen (sie nennt sie “das Volk”, über das sie herrschen möchte) Murmeln, die sie einem anderen Jungen geklaut hat, weil dieser sie beleidigt hat. Ja, Rifka hat alles im Griff. Außerdem hat sie die verrücktesten Ideen. Sie zeigt Düveke, wie das mit dem Rauchen geht, sie ruft bei einem Kindersorgentelefon an um sich als Schwangere (vom Bruder!) auszugeben und sie plant einem Jungen mit langen Haaren, den Pferdeschwanz abzuschneiden. Ihre neueste Idee ist es auf ihrer eigenen Beerdigung zugegen zu sein: “Ich werde meine eigene Beerdigung erleben”, sagt sie, “Weil ich es will. Und wenn ich was will, passiert es auch.” (S.17) Und Düveke hilft ihr bei den Vorbereitungen. Das Mädchen tut eigentlich alles für ihre beste Freundin. Sie stiehlt für Rifka, sie “leiht” sich Geld von ihrem Bruder und sie ist es auch, die die gefakten Entführungsbriefe in den Briefkasten schmeißen soll, nachdem Rifka bereits in einem Versteck untergetaucht ist. Aber dann bekommt Düveke plötzlich Panik…
Das Interessante an “Doppeltot” ist die Einteilung des Buches in “Davor”, “Danach” und “Währenddessen”. Wobei sich diese Zeiteinteilung auf den Tag von Rifkas Verschwinden bezieht. Der erste Teil wird aus Düvekes Perspektive erzählt. Sie ist ein sehr naives Mädchen und wirkt viel jünger als ihre zwölf Jahre. Für sie ist die Freundschaft zu Rifka ein richtiges Abenteuer. Ihre Bewunderung für ihre beste Freundin ist hierbei sehr deutlich. Nur zuweilen fängt sie an, an Rifkas Ideen und Einstellungen zu zweifeln. Dann gibt es da noch “Das Gefühl”, das Düveke ab und zu heimsucht. Ein unerklärliches Angstgefühl, das sie manchmal überkommt, das sie weinen und Trost bei ihrem großen Bruder Oliver suchen lässt, der sie als Einziger zu verstehen scheint.
“Das Gefühl”, sage ich, “kann sehr lange weg sein. Tage, Wochen, Monate. Jahre sogar. […] Es kann so lange weg sein, dass man glaubt, es käme nicht mehr wieder. Aber letzendlich kommt Das Gefühl immer zurück. Immer, Ma. Es geht nie wirklich weg. Nie. Bis man tot ist.” (S.87)
Aus Olivers Sicht wird der zweite Teil des Buches erzählt. Er erlebt gerade eine beginnende erste Liebe zu einem Mädchen. Jedoch verbindet ihn auch etwas mit Rifka, über deren Verschwinden er sich Gedanken macht. Zu Düveke jedoch, seiner kleinen Schwester, besteht die stärkste Verbindung. Für sie würde er alles tun. So hat er einmal, als sie einen schwarzen Porzellanschwan ihrer Mutter versehentlich hat fallen lassen, ihr geholfen das Missgeschick zu vertuschen. Er hat die Scherben zusammengekehrt und verschwinden lassen. Als die Mutter das Fehlen ihres Sammlerstücks schließlich bemerkte, nahm Oliver sogar die Schuld auf sich.
“Das also ist es, was man Liebe nennt, dachte er. Dass das Glück eines anderen dir wichtiger ist als dein eigenes. So sehr liebe ich Düveke. So sehr, dass ich mir wünschte, ich hätte das hässliche Kitschding auf den Boden fallen lassen. Für meine kleine Schwester würde ich tausend schwarze Schwäne zerbrechen.” (S.140)
Es gibt ein grundlegendes Ereignis, das sowohl Oliver, als auch Rifka unwissentlich prägt: die Beerdigung eines Mitschülers, der an einer Krankheit gestorben ist. Auf diesem Begräbnis verliebt sich Oliver in Ilona und Rifka kommt dort auf ihre bizarre Idee Zeuge ihrer eigenen Beerdigung zu sein. Der dritte Teil der Geschichte wird nun aus ihrer Perspektive erzählt, wobei man ihr nun sehr gut in die Karten schauen kann und erkennt, wie Rifka wirklich denkt. Ihre Eltern scheinen sich kaum um sie zu kümmern, eine Heile-Welt-Familie wie Düveke sie hat, kennt das Mädchen nicht. Die zentralen Sätze in ihrer Welt sind: “Ist das nicht zum Lachen?” oder “Weißt du, was auch zum Lachen wäre?”. Dabei macht sie nicht mal vor den makabersten Witzen halt: “Mein Vater ist heute Nacht gestorben.” “Was?!” “Kleiner Scherz.” (S.9). Rifka klaut regelmäßig und stiftet sogar Düveke dazu an.
Warum heißt der Roman “Doppeltot”? Das Wort prägt Düveke das erste Mal, als sie den Plan von Rifka ausführen soll: “Wenn du die Briefe vertauscht, bist du tot. Ja. Das hat sie gesagt. Wenn ich sie nicht in den Briefkasten werfe, bin ich ganz bestimmt doppeltot.” (S. 82) Doch er hat auch noch eine anderen Hintergrund, auf den der Leser bald stoßen wird… Auf jeden Fall greifen die drei Teile wie Zahnräder ineinander und ergänzen sich auf inhaltlicher Ebene perfekt. Das Cover hat mir auch sehr gut gefallen, es wirkt geheimnisvoll und bedrohlich (im Gegensatz zum verniedlichten, niederländischen Cover!) und nimmt den zerbrochenen Porzellanschwan zum Symbol für verdrängte Schuld (Düveke hört nach dem ersten Teil auf zu sprechen) und auf sich genommene Schuld (Oliver, der alles für seine Schwester tun würde). “Doppeltot” eignet sich aufgrund seiner mehrschichtigen Ebenen daher sehr gut als Klassenlektüre.
Fazit: Eine Geschichte, die seine Leser in einen Sog ziehen wird. Dramatisch, packend und absolut lesenwert!
Wenn dir Gideon Samsons Erzählart gefällt, kannst du noch seinen etwas älteren Titel “Der Himmel kann noch warten” (eine Krebsgeschichte) lesen. Ein Roman, der inhaltlich gesehen sehr viele Parallelen zu “Doppeltot” hat, ist “Die Komplizin” von Eireann Corrigan. Zwei Bücher, die an die Freundschaft zwischen Rifka und Düveke erinnern, sind “Love Alice” von Nataly Savina und “Spring in den Himmel” von Lotte Kinskofer. Ähnlich provokante Themen finden sich in “Butter” von Eric Jade Lange und “Die Liga der Guten” von Rüdiger Bertram.
Bibliografische Angaben: Verlag: Gerstenberg ISBN: 978-3-8369-5799-1 Erscheinungsdatum: 26.Januar 2015 Einbandart: Hardcover Preis: 14,95€ Seitenzahl: 224 Übersetzer: Rolf Erdorf Originaltitel: "Zwarte zwaan" Originalverlag: Leopold B.V. Niederländisches Originalcover:
Kasimiras Bewertung:
(5 von 5 möglichen Punkten)
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