Der deutsche Autor Gernot Gricksch hat mit “Ghetto Bitch” ein interessantes Buch geschrieben, das sogleich durch sein peppiges Cover auffällt. Das erste Jugendbuch des Autors, der sonst eher für jüngere Kinder oder Erwachsene schreibt. Eine Geschichte über plötzliche Armut, das Leben in einer Hochhaussiedlung und Klischees von Armen und Reichen, die aufeinandertreffen. Cool, unterhaltsam und sehr flüssig zu lesen. Für Jugendliche ab 13 Jahren und interessierte Erwachsene.
Die 15-jährige Nele führt ein Leben, wie man es sich nur wünschen kann: sie ist reich, beliebt und mit dem coolsten Jungen der Schule zusammen, für den all ihre Mitschülerinnen schwärmen. Ihre Mutter ist zugleich wie eine gute Freundin und sie bewegt sich in den besten Kreisen. Erst neulich war sie auf einem Konzert von Lisa T. alias Ghetto Bitch, der besten Rapperin Deutschlands. Doch dann stirbt Neles Vater bei einem Autounfall und hinterlässt der Familie nichts als Schulden. Er, der bekannte Architekt, der durch ganz Deutschland reiste, war schon seit zwei Jahren mit seiner eigenen Firma im Minus und hatte der Familie nichts davon gesagt! Jetzt muss Henriette, Neles Mutter, Privatinsolvenz anmelden und nicht einmal die Lebensversicherung will zahlen. Angeblich war der Autounfall kein Unfall, sondern Selbstmord und der Vater habe es nur so aussehen lassen, damit seine Familie gut versorgt ist. Die Villa wird nun gepfändet werden und sie müssen sich eine neue Bleibe suchen. Und nicht nur das: “Was heißt das? ALG II?!” “Arbeitslosengeld 2”, flüsterte Henriette. “Besser bekannt als Hartz IV.” “Was?!” Jetzt überschlug sich Neles Stimme. “Das ist doch Bullshit! Leute wie wir kriegen doch kein Hartz IV!” […] Nele sprang auf und rannte aus der Küche. Das konnte doch nicht wahr sein!” (Zitat S.45ff) Aber es ist wahr. Genauso wahr, wie die Plattenhaussiedlung im Hamburger Stadtteil Steilshoop, in die sie nun ziehen müssen. Um vor ihren Freunden nicht das Gesicht zu verlieren, tischen Nele und ihre Mutter allen eine erfundene Geschichte auf: sie ziehen nach New York für ein Jahr. Deshalb müssen sie auch ihr Haus “verkaufen”. Nele bricht alle Beziehungen zu ihren bisherigen Freunden ab, auch mit ihrem Freund Daniel macht sie indirekt Schluss, obwohl es ihr das Herz bricht. Denn vielleicht zahlt die Lebensversicherung ja doch noch und sie können wieder zurück? Doch bis dahin ist erst mal Alltag im neuen Wohnungsumfeld angesagt. Und Nele schafft es in jedes soziale Fettnäpfchen zu treten. Ihr Bruder Timo hingegen, ein Nerd, der gerne Metal hört und in der alten Schule ein kompletter Außenseiter war, findet überraschend schnell Anschluss. Aber dann lernt Nele den attraktiven Rick kennen…
Der Name “Ghetto Bitch” passt in dem Roman wie die Faust aufs Auge. Eingeleitet durch die berühmte Rapperin, Lisa T., ist es Timo, der seine Schwester das erste Mal so nennt: “Was glaubst du, wie lange du deine Luxusfreunde behältst, wenn du kein Geld mehr hast, um mit zu Starbucks zu gehen, und du beim Shoppen nur noch die Tüten der anderen tragen darfst? Wenn du nicht in den gleichen Vereinen bist und nicht mehr auf die Partys eingeladen wirst, weil du selbst nie welche gibst? […] Du bist jetzt ’ne Ghetto Bitch, Nele”, verkündete Timo und imitierte mit einem grimmigen Grinsen die Hiphop-Gesten von Lisa T.” (Zitat S.54ff) Der Roman wird aus zwei Perspektiven in abwechselnder Form erzählt: Nele und Timo kommen hierbei in der personalen Erzählsicht zu Wort. Die Einblicke der Geschwister sind höchst unterschiedlich und liefern einen interessanten Einblick in ihr sich veränderndes Leben. Trotz Tragik schafft es Gernot Gricksch immer wieder komische Momente in die Geschichte einzubauen, die dem Leser ein Schmunzeln ins Gesicht locken. Vor allem gelingt es ihm mit Vorurteilen über Arme und Reiche aufzuräumen: “Ist eben alles anders hier. Nicht schlechter. Nur anders.” “Nicht schlechter? Machst du Witze?”, rief Nele. “Das ist alles total RTL2 hier! Alles nur Assis!” “Stimmt doch gar nicht”, protestierte Timo. “Zwei Mädchen aus meiner Klasse haben bei Jugend forscht mitgemacht. Ein Mädchen ist im Jugendchor von der Staatsoper. […] Man kann mit ganz vielen Leuten hier total normal reden. Die Assis sind nur lauter und auffälliger als die anderen.” (Zitat S.138) Die Sprache ist frech, einfach und zum Teil jugendsprachlich, aber absolut passend zum Kontext. Auch Wenigleser — Jungs und Mädchen gleichermaßen — dürften sich von diesem Buch schnell mitgerissen fühlen! Zum Ende hin wird es richtig dramatisch und spannend. Etwas gewundert hat mich nur, dass die Trauer um den toten Vater während der Geschichte nicht mehr erwähnt wird.
Übrigens: für den Roman hat der Dressler Verlag zusammen mit der Zeitschrift BRAVO ein Casting ausgeschrieben, bei dem ein Mädchen gesucht wurde, das die Hauptfigur in der verkürzten Version von “Ghetto Bitch” in einer BRAVO Foto-Love-Story spielen durfte. Der Titel lautete hier: “Von der Skyline zum Bordstein”. In dem Trailer (siehe unten) hat das Mädchen, das gewonnen hat, ebenfalls mitgespielt. Es gibt auch eine eigene Website zu “Ghetto Bitch” mit einer Leseprobe und einer Umfrage.
Fazit: Auf lockere Art und Weise und mit viel Authentizität entführt Gernot Gricksch seine Leser in eine Welt, die gar nicht ganz so anders ist, wie man denkt;-)
Die wohl inhaltlich ähnlichste Lesealternative zu “Ghetto Bitch” ist “Viel Lärm um Liebe — viel Liebe um nichts” von Sharon Huss Roat, in der ein Mädchen mit ihrer Familie über Nacht von einer Villa in ein ärmliches Stadtviertel ziehen muss. Auch sie versucht dies wie Nele vor den anderen geheim zu halten. Mit plötzlichen Existenzproblemen zu kämpfen haben ebenso die Hauptpersonen in “Jenna-Belle wohnt hier nicht mehr” von Alyssa Brugmann und “No place, no home” von Reality-Bestseller-Autor Morton Rhue, in welchem es eine Familie aus der Mittelschicht sogar bis hin zu einer Art Zeltstadt für Obdachlose führt. Mit wenig Geld umgehen, das müssen auch die Protagonisten in “Der Penner im Pyjama ist mein Papa” von Elisabeth Schmied und in der Neuauflage als Taschenbuch “Und wenn schon” von Karen-Suan Fessel, die im November diesen Jahres erscheinen wird. In letzterem lebt eine Familie von Hartz IV.
Bibliografische Angaben:Verlag: Dressler ISBN: 978-3-7915-0006-5 Erscheinungsdatum: 9.Mai 2016 Einbandart: Hardcover Preis: 14,99€ Seitenzahl: 320 Übersetzer: - Originaltitel: - Originalverlag: - Originalcover: - Trailer zum Buch:
Kasimiras Bewertung:
(4,5 von 5 möglichen Punkten)
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Ausschnitt aus der BRAVO: Homepage von Ghetto Bitch (siehe oben)