Der amerikanische Autor und Schauspieler Gavriel Savit hat sein erstes Buch geschrieben: “Anna und der Schwalbenmann”. Ein Roman über den Verlust des Vaters, das Überleben eines kleinen Mädchens in Zeiten des Krieges und einen geheimnisvollen Mann an deren Seite. Ein Buch, das die Sprache und deren Komplexität sehr klug in Worte fasst und in eben einer solchen sehr sehr schön erzählt ist. Dieses Buch hat das Zeug zum modernen Klassiker! Für alle Fans von “Der Junge im gestreiften Pyjama” und “Die Bücherdiebin”. Für Jugendliche ab 14 Jahren und vor allem Erwachsene.
Krakau. Es ist der 6. November 1939. Anna ist erst 7 Jahre alt. Und sie ahnt noch nicht, dass heute der Tag ist, an dem sie ihren Vater verlieren und nie wieder sehen wird. Polen ist von den Deutschen besetzt worden. Jene haben die “Sonderaktion Krakau” ins Leben gerufen, um Intellektuelle und Akademiker zu beseitigen und ins Konzentrationslager zu verfrachten. Annas Vater ist Akademiker. Er ist Sprachen-Professor und spricht neun Sprachen. Ebenso wie Anna, die viel von ihm lernen durfte. “Alle Menschen waren an eine Sprache gefesselt, im besten Fall an zwei oder drei, nur Annas Vater schien vollkommen frei zu sein von diesen Grenzen, die jeden sonst in der weiten, bunten Landschaft von Krakau eingeschlossen. Er war auf keine Art zu sprechen beschränkt. Er konnte sein, was er wollte. […] Statt eine Sprache an seine Tochter weiterzugeben, die sie bestimmte, schenkte Annas Vater ihr die ganze Vielfalt der Sprachen, die er kannte…” (Zitat S.14) An jedem Tag der Woche sprach er mit ihr eine andere Sprache. Nur Polnisch nicht, weil sie das ohnehin außerhalb des Hauses sprachen. Anna liebt ihren Vater über alles (die Mutter ist vor Jahren gestorben) und genießt es sich mit ihm zu unterhalten. Als er sie einfach nicht von Doktor Fuchsmann, der in seiner Apotheke auf sie aufpasst, abholt, ist ihr das unverständlich. Sie verbringt sogar eine Nacht unter dem Tresen in der Apotheke, bis Doktor Fuchsmann sagt, dass er nicht mehr auf sie aufpassen könne und sie nach Hause bringt. Er geht nicht ganz mit zu der Wohnung ihres Vaters und sieht daher nicht, dass die Türe geschlossen ist und Anna nur davor auf ihren Vater warten kann. Der einfach nicht kommt. Eine zu neugierige Nachbarin verscheucht sie und Anna beschließt wieder vor der Apotheke auf ihren Vater zu warten. Der immer noch nicht kommt. Bis sie auf den Schwalbenmann trifft. Einen großen, dünnen Mann mit Anzug und einer alten Arzttasche bei sich. Er lockte eine Schwalbe vom Himmel, die sich auf seinen Finger setzt. “Es ging etwas Bedrohliches von ihm aus, eine leise Intensität, die nichts gemein hatte mit den gängigen Eigenschaften, mit denen die Menschen sich bei Kindern anzubiedern versuchen. Und doch war da ein Zug an ihm — vielleicht die Vertrautheit, mit der er mit der Schwalbe geplaudert hatte -, der Anna faszinierte. (Zitat S.34) Anna schließt sich dem Schwalbenmann letztendlich an. Denn sie ahnt bereits, dass ihr Vater nicht wiederkommen wird. Damit beginnt eine ganz besondere Reise. Eine Wanderung durch ganz Polen. Und noch viel weiter. Sie lernt viel vom Schwalbenmann, der nicht will, dass sie seinen Namen weiß. Der auch möchte, dass sie ihren Namen niemandem verrät. Sie lernt in der Welt zu überleben. Sie lernt “Straße” zu sprechen. Doch dann treffen sie auf Reb Hirschl, einen Juden, auf den sie mitten im Wald stoßen. Anna schließt diesen freundlichen, herzlichen, humorvollen, geschwätzigen und tollpatschigen Mann sofort in ihr Herz und möchte, dass er sie begleitet. Der Schwalbenmann möchte dies nicht und zieht sie mit sich. Einen Tagesmarsch später kann Anna nicht aufhören an Reb Hirschl zu denken. Sie kann den naiven Mann, der aus einem jüdischen Ghetto geflohen ist, nicht einfach alleine lassen. Er spricht nicht “Straße”. Er würde niemals überleben können. Heimlich schleicht sie sich nachts davon. Aber in der Dunkelheit kommt sie bald vom Weg ab…
“Anna und der Schwalbenmann” ist aus der interessanten Sicht eines allwissenden Erzählers geschrieben, der über den Dingen steht und auch geschickte Andeutungen macht, wie zum Beispiel “Wäre die alte Frau Niemczyk nicht gewesen, hätte Anna wohl nie den Schwalbenmann kennengelernt.” (Zitat S.25). Hierdurch wird einerseits Spannung erzeugt, andererseits werden aber auch (wie zu Beginn des Buches, als man mehr über den Verbleib des Vaters erfährt) Informationen vermittelt, die dem Leser sonst fehlen würden. Auch geschichtliche Hintergründe werden auf einfache Weise vermittelt und in den Zusammenhang mit der Geschichte eingeflochten: “Im Jahr 1939 war eine Gruppe von Menschen, die Deutsche hießen, in ein Land gekommen, das Polen hieß, und hatte die Herrschaft über die Stadt Krakau übernommen, in der Anna lebte.” (Zitat S.18) Die Sprache ist einfach und zugleich sehr schön, sodass ich mich zuweilen dabei ertappt habe, gewisse Sätze ein zweites Mal zu lesen. Besonders Anna als Charakter sticht sehr positiv hervor. Sie ist noch jung, versteht noch nicht alle Zusammenhänge, aber ist sehr klug und vor allem anpassungsfähig: “Ihr Leben hatte in diesen kurzen Jahren eine Reihe heftiger Umwälzungen und Rückschläge mit sich gebracht — den Verlust der Mutter, den Ausbruch eines Weltkriegs und nun das Verschwinden ihres Vaters -, doch für Anna war das eben der Lauf der Dinge. Was sie kannte, blieb nie gleich; was sie erwartete, verschwand. Für eine behütete Siebenjährige hatte Anna eine große Anpassungsfähigkeit entwickelt.” (Zitat S.36) So spricht das Mädchen jeden in seiner eigenen Sprache an. Als der Schwalbenmann sie das erste Mal etwas fragt und sie nicht gleich antwortet, stellt er ihr eine andere Frage in einer anderen Sprache, weil er denkt, sie verstehe ihn nicht. Nach ein paar weiteren Anläufen in anderen Sprachen und anderen Fragen, antwortet sie ihm schließlich. Auf jede Frage in der jeweiligen Sprache;-) Und Anna hat vor allem eines begriffen:
“Als Anna zum ersten Mal verstand, dass eine Sprache ein Kompromiss zwischen den Menschen war — dass zwei Menschen, die die gleiche Sprache sprachen, nicht unbedingt gleich waren -, stellte sie ihrem Vater das einzige Mal, seit sie denken konnte, eine Frage… (Zitat S.15) Der Schwalbenmann ist eine Figur die merklich distanzierter wirkt. Geheimnisvoll, unnahbar. Seine Gefühle sind schwer zu erahnen, seine Pläne. Aber er geht mit Anna (vor allem, wenn er ihre Fragen beantwortet) sehr behutsam um. Liefert ihr Erklärungen, so gut er kann und malt auch nichts schön an den Umständen des Kriegs. Und er erteilt ihr wichtige Lektionen: “Dein Vater ist nicht gekommen”, sagte der große Mann [der Schwalbenmann], “weil jemand ihn gefunden hat.” […] Das war die erste Lektion des Schwalbenmanns: Gefunden werden heißt für immer verloren zu sein.” (Zitat S.63) und “Man wird nicht gefunden werden, solange man in Bewegung ist.” (Zitat S.64). Es sind vor allem die Gespräch zwischen Anna und dem Schwalbenmann, die interessant zu lesen sind. Die Klugheit, die sowohl von ihr, als auch von ihm ausgeht, die diese Unterhaltungen zu etwas Besonderem machen. Die Reise selbst — das Überleben — hat manchmal ein paar inhaltliche Längen, jedoch ahnt man, dass die Geschichte auf irgendetwas Großes hinaussteuern wird. Die Charaktere entwickeln sich weiter. Vor allem Anna, die zu Beginn des Romans zum Beispiel Folgendes nicht verstand: “Allerdings verstand Anna immer noch nicht, was genau das Wort “Krieg” bedeutete. Aber zumindest hatte die Kürzung der Keksvorräte damit zu tun und das konnte sie einfach nicht gutheißen.” (Zitat S.20) erfährt auf schmerzhafte Weise, was es bedeutet den Krieg und vor allem den Tod mitzuerleben, als sie auf ein Massengrab stößt: “Das war mehr
Tod, als Anna je an einem Ort gesehen hatte, und seine Gegenwart war anders als der Hauch des Todes, den sie vom Durchsuchen gefallener Soldaten kannte. Hier hatte man das Gefühl, der Tod wäre vorbeigekommen. Hier hatte man das Gefühl, der Tod wäre zu Hause.” (Zitat S.188) Das Buch ist heftig angesichts kindlicher Unschuld in Verbindung mit den Schrecken des Krieges. Zunächst hatte ich noch gedacht, die Altersvorgabe des Verlags mit 14 Jahren wäre zu hoch angesetzt, dass auch schon 12-Jährige “Anna und der Schwalbenmann” lesen könnten. Doch aufgrund gewisser Situationen erscheint mir diese Vorgabe absolut gerechtfertigt. Sehr gut eignet sich das Buch auch als Klassenlektüre oder für eine Buchvorstellung. Das Ende war mir — für meinen Geschmack — leider etwas zu offen, da wusste ich nicht so recht, was ich davon halten sollte, aber genau das sorgt im Schulunterricht sicherlich für interessante Diskussionen!
Fazit: Eine berührende, bemerkenswert erzählte Geschichte voller Klugheit und Poesie in einer Zeit voller Schrecken.
Hinsichtlich der Klugheit hat mich Anna ein wenig an die ebenfalls 9‑jährige Phoebe aus “Was fehlt, wenn ich verschwunden bin” von Bestsellerautorin Lilly Lindner erinnert. Eine richtig tolle Alternative ist neben dem bereits erwähnten “Der Junge im gestreiften Pyjama” von John Boyne auch “Winterpferde” von Philip Kerr. Hier kämpft ein Mädchen ebenso um das Überleben, an der Seite: zwei besondere Pferde und ein Hund. Wahnsinnig berührend! Sehr gut gefallen hat mir auch “Flügel aus Papier” von Marcin Szczygielski, das bereits für Leser ab 10 Jahren geeignet. Zwei fast schon “moderne Klassiker” zum Thema Nationalsozialismus im Jugendbuch sind zudem “Die Bücherdiebin” von Markus Zusak und “28 Tage” von David Safier. Ein wirklicher Klassiker und bereits Standardliteratur im Schulunterricht ist “Als Hitler das rosa Kaninchen stahl” von Judith Kerr (die Hauptperson heißt ebenso “Anna”, ein absolut lesenswertes Buch!). Hierzu gibt es noch zwei Fortsetzungen “Warten bis der Frieden kommt” und “Eine Art Familientreffen”.
Bibliografische Angaben:Verlag: cbt ISBN: 978-3-570-31167-8 Erscheinungsdatum: 12.März 2018 Einbandart: Taschenbuch Preis: 9,99€ Seitenzahl: 272 Übersetzer: Sophie Zeitz Originaltitel: "Anna and the Swallow Man" Originalverlag: Random House Children's Books Amerikanisches Originalcover:
Deutsches Originalcover:
![]()
Kasimiras Bewertung:
(4 von 5 möglichen Punkten)
--------------------------------------------------------------------------------- Amerikanisches Cover: Homepage von Penguin Random House