22.Mai 2020
Der italienische Autor Gabriele Clima wurde für seinen Roman “Der Sonne nach” mit dem Andersen Prize für das beste Jugendbuch ausgezeichnet. Außerdem schaffte er es auf die Auswahlliste des IBBY (Internationales Kuratorium für das Jugendbuch) als bestes Buch über einen behinderten Jungen. Ein Roadmovie, eine Freundschaftsgeschichte zwischen einem Unruhestifter und einem Jungen, der im Rollstuhl sitzt. Flott und äußerst unterhaltsam erzählt. Eine kurzweilige, rundherum gelungene Geschichte, die im Gedächtnis bleibt. Der Verlag wirbt mit “Ziemlich beste Freunde” für Jugendliche — ich sage “ziemlich beste Unterhaltung” für Jugendliche ab 14 Jahren;-) Und natürlich für Erwachsene. Nun neu als Taschenbuch erschienen. Ab 2021 übrigens Prüfungslektüre für Haupt- und Realschulen.
Der 16-jährige Dario hat mal wieder Mist gebaut. Eine Türklinke ist ihm in seinem Wutausbruch zum Opfer gefallen, die Lehrerin hat ihn sofort zum Direktor geschickt, als er verärgert aus dem Klassenzimmer gestürmt ist und laut die Türe zuknallen ließ. “Du bist eine Niete, Dario, aus dir wird nie was”, hatte sie zu ihm gesagt. “Das weiß doch jeder, oder? Auch dein Vater. Deswegen hat er sich ja davongemacht.” Das hatte sie zu ihm gesagt, vor der ganzen Klasse, einfach so, als ob nichts dabei wäre.” (Zitat aus “Der Sonne nach” S.7) Dass seine verhasste Lehrerin ihn Niete nannte, daran war er schon gewöhnt. Aber nun verdonnert ihn der Direktor des Gymnasiums auch noch zu gemeinnütziger Arbeit. Dario soll sich regelmäßig um behinderte Schüler an seiner Schule kümmern. Darauf hat er natürlich überhaupt keinen Bock. “Dario betrachtete die merkwürdige Gestalt vor sich, die da so schräg im Rollstuhl hing. Sie bewegte sich nicht, sah ihn schief von der Seite an, mit verdrehten Augen, als ob sie etwas suchte, was die anderen nicht sahen. Der Junge wirkte wie ein geknickter Blumenstängel. Was konnte so ein Halbidiot in einem Rollstuhl schon brauchen?” (Zitat S.12) Doch noch schlimmer als Andy, den er fortan begleitet und regelmäßig in den Wintergarten zum “Nachdraußenschauen” fährt, ist Elisa, die Pflegekraft, die sich um den Jungen kümmert. Sie betüdelt ihn die ganze Zeit und spricht mit ihm wie mit einem Baby. Und zieht ihm eine Mütze auf, obwohl es draußen fast 30° Grad hat. Er wäre angeblich kälteempfindlich. Dabei wackelt Andy, der kaum sprechen und sich wenig bewegen kann, die ganze Zeit mit dem Kopf, das ist doch eindeutig ein Zeichen, dass ihm zu warm ist, oder? Am allerschlimmsten ist jedoch Elisas Dauerlächeln, das sie sich ins Gesicht gekleistert hat:
“Jede Minute, jeden Augenblick des Tages, jedes Mal, wenn Dario sie ansah, lächelte Elisa. Als wäre das nicht nur ein Gesichtsausdruck, sondern eben ihr Gesicht. Einfach widerlich. Wie Karamellzucker. Denn wenn du jeden Tag Karamellzucker isst, wird dir davon irgendwann bloß noch schlecht.” (Zitat S.14) Sie tickt schon aus, wenn Dario Andy einfach auf den Schulhof hinausfährt. Und während er sonst immer die fünf Minuten, die sie zwischendurch auf Toilette verschwindet, dazu ausnutzt um heimlich einen Joint zu rauchen, so verlässt Dario mit Andy eines Tages sogar das Schulgebäude. Um dem armen, vor Langeweile eingehenden Kerl mal ein bisschen was von der Welt zu zeigen. In einem Park genießen sie die Sonne. Bis auf einmal die Polizei auftaucht und Dario in einer Kurzschlussreaktion mitsamt Rollstuhl und Andy zum Bahnhof flüchtet und spontan in einen Zug einsteigt. Und dann geht das Abenteuer der beiden richtig los. Denn sie machen sich auf den Weg ans Meer…
Das sehr schöne Cover von “Der Sonne nach” zeigt noch nicht, dass es um einen Menschen mit Behinderung gehen wird. Das Cover verspricht Freundschaft, Freiheit, Spaß und Abenteuer. Doch genau das verdeutlicht der Roman, dass das eine, das andere nicht ausschließen muss. Dass Menschen mit Handycap genauso viel unerschöpfliche Freude am Leben haben können, wenn man sie daran teilhaben lässt und nicht ausgrenzt und von Vorurteilen behaftet in die zweite Reihe stellt. Diese Offensichtlichkeit erkennt auch Dario relativ schnell, was sich in manchen Dialogen auf sehr unterhaltsame Art und Weise entdecken lässt: “Warum behandelst du ihn so? […] Der ist doch kein Idiot. Warum redest du mit ihm nicht wie mit einem normalen Menschen?” “Weil Andy kein normaler Mensch ist.” “Wer sagt denn, dass er kein normaler Mensch ist? Du?” “Nein, das sagt die Tatsache, dass er in einem Rollstuhl sitzt.” “Und was hat der damit zu tun? Wenn ich mir beide Beine breche, werde ich dann etwa auch schwachsinnig?” (Zitat S.22) Der Roman ist aus der Sicht eines allwissenden Erzählers geschrieben, der sich hauptsächlich auf Dario konzentriert, aber teils ebenso andere Sichtweisen aufgreift. Die Kapitel sind relativ kurz, mit vielen Dialogen gespickt und mit einer sehr angenehmen, flüssigen Sprache. Mit 151 Seiten reinem Text ist es auch nicht allzu umfangreich und daher sehr gut für eine Buchvorstellung oder als Klassenlektüre geeignet. Was mir vor allem sehr gut gefallen hat, ist die unaufdringliche
Klugheit, die sich zwischen die Zeilen schleicht und die einen manche Stellen ein zweites Mal lesen lässt: “Und als Dario Andy ansah, wie er so dünn, zusammengekrümmt und klein in seinem Rollstuhl saß, dachte er, dass der nun wirklich nicht wie ein Idiot wirkte. Sondern vielmehr wie etwas Schönes. Mit der Schönheit ist es so eine Sache, jeder hat da seine eigene Vorstellung. Es kann Millionen Menschen geben, die sagen, etwas ist schön, während du es genau andersrum empfindest. Und umgekehrt.” (Zitat S.53) Auch die Szene im Zug mit der vorurteilsbehafteten Mitreisenden, die Andy nur aus Mitleid und Höflichkeit anspricht, und Darios tolle Reaktion darauf, lesen sich sehr erfrischend. Ebenfalls die Entwicklung des Protagonisten — der sich für eine Niete hält und noch nie wirklich Verantwortung für etwas übernommen hat — ist sehr spannend mitzuverfolgen. “Dario war nie sehr gut darin gewesen, sich Dingen zu stellen. Er war viel besser darin, ihnen auszuweichen, nein, darin war er sogar ein Meister. […] Und doch, aus irgendeinem Grund war es mit Andy nicht so. Dario hatte kein Problem, sich um ihn
zu kümmern, vielleicht weil der Umgang mit ihm so einfach war. Im Gegensatz zu dem mit Elisa, der Delfrati, dem Direktor und dem Rest der Welt.” (Zitat S.22) Doch als er den Schritt wagt mit Andy in Richtung Torre Saracena abzuhauen, wo Dario seinen Vater vermutet, der die Familie vor neun Jahren verlassen hat, ist es genau das, was er tun muss: selbst Entscheidungen treffen, ein Verantwortungsbewusstsein an den Tag legen, von dem er nicht mal wusste, dass er es besaß. Natürlich geht es auf der Reise auch sehr turbulent zu, natürlich geschehen auch Dinge, die Dario im Nachhinein vielleicht anders machen würde. Aber gerade das zeichnet den Prozess seiner Entwicklung aus, seine Zeit sich selbst zu finden. Gabriele Clima hat zudem eine Vatergeschichte in den Roman mit eingebaut. Dario, der von seinem Vater früher immer “Darios, den Großen”, nach einem persischen König, genannt wurde, sehnt sich nach seinem Vater. Hat unterschwellig das Gefühl Schuld daran gewesen zu sein, dass dieser die Familie damals verlassen hat. Mit der tollen
Symbolik der Sonne, die in dem Buch immer wieder auftaucht, bringt der Autor diese Gefühle mit bestechender Klarheit auf den Punkt: “Und er dachte, dass man im Englischen Sonne und Sohn ja gleich ausspricht und dass es früher vielleicht mal ein und dasselbe Wort gewesen war, weil ein Sohn im Grunde für einen Vater die Sonne war. Und umgekehrt. Dario wäre auch gerne die Sonne für seinen Vater gewesen, das war sein größter Wunsch. Aber etwas war schiefgegangen, und sein Vater hatte sich seine Sonne woanders suchen müssen.” (Zitat S.115) Das Ende liest sich berührend und authentisch. Im Nachwort geht der Autor unter anderem noch auf den Wahrheitsgehalt der Geschichte ein. Denn die Figur von Andy beruht auf einer real existierenden Person. Dies zeigt auch die Widmung auf der ersten Seite: “Für Andrea. Und für Fabiola, die ihm Flügel geschenkt hat”. Sogar ein paar autobiografische Züge des Autoren finden sich in dem Werk.
Fazit: Ein Kleinod, das Horizonte öffnen und nebenbei beste Unterhaltung liefern wird!
“Ziemlich beste Freunde” von Philippe Pozzo di Borgo ist wie bereits erwähnt eine gute Lesealternative. Woran ich auch sofort denken musste, ist “Halbe Helden” von Erin Jade Lange, das zwar einen Jungen mit Downsyndrom in den Mittelpunkt stellt, aber hinsichtlich der Suche nach dem Vater einige Parallelen zu “Der Sonne nach” hat. Sehr gut könnte ich mir auch “Glück ist was für Anfänger” von Ortwin Ramadan vorstellen, in dem zwei Jungs (einer im Rollstuhl) ebenfalls ein besonderes Abenteuer wagen. Entdecken, dass in einem Menschen mit Behinderung mehr steckt, als man zunächst erwartet, dass erlebst du zudem in diesen Büchern: “Out of my mind: Mit Worten kann ich fliegen” von Sharon M. Draper (ich liebe dieses Buch!), “Flieg so hoch du kannst” von Barry Jonsberg, “Ein kleines Wunder würde reichen” von Penny Joelson und “Wunder” von Raquel J. Palacio (klasse!). Sich um einen Menschen mit Handicap für ein Sozialprojekt in der Schule kümmern, das passiert ebenso in “Das Schweigen in meinem Kopf” von Kim Hood (sehr berührend!). Du magst ein schönes Roadmovie und eine tolle Freundschaftsgeschichte lesen (unabhängig vom Thema Behinderung)? Dann greif unbedingt zu “Tankstelllenchips” von Antonia Michaelis.
Bibliografische Angaben:Verlag: dtv ISBN: 978-3-423-62728-3 Erscheinungsdatum: 22.Mai 2020 Einbandart: Taschenbuch Preis: 9,95€ Seitenzahl: 160 Übersetzer: Baraba Neeb, Katharina Schmidt Originaltitel: "Il sole fra le dita" Originalverlag: Edizioni San Polo Italienisches Originalcover:
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Kasimiras Bewertung:
(5 von 5 möglichen Punkten)
----------------------------------------------- Italienisches Cover: Homepage von Gabriele Clima