Der deutsche Autor und Lehrer Frank Schwieger, der Latein und Geschichte studierte, hat mit “Kinder unterm Hakenkreuz: Wie wir den Nationalsozialismus erlebten” ein biografisches Sachbuch geschrieben, das Kindern die Zeit des Dritten Reichs und des Zweiten Weltkriegs verständlich erläutert. Neben einigen begleitenden Sachinformationen, zahlreichen Abbildungen und Steckbriefen werden zehn Kinder in den Mittelpunkt gestellt, die ihre eigenen Geschichten erzählen. Wie sie die Zeit damals erlebt, welche Fragen sie sich gestellt und welches Leid sie erfahren haben, aber auch welche Hilfsbereitschaft und Menschlichkeit sie erleben durften, um all das zu überstehen. Ein sehr lehrreiches, schön illustriertes und bewegendes Buch, das auch einer jüngeren Zielgruppe diese Zeit näherbringt. Auch perfekt für den Schulunterricht geeignet. Für Jugendliche ab 10 Jahren und interessierte Erwachsene.
Zehn Kinder. Zehn Schicksale. Zehn Geschichten. (1) Die 11-jährige Erna, die 1933 in Norddeutschland lebt, liebt den Schuhladen von Esther Blum, genannt “Blümchen”, und die Besitzerin ganz besonders: “Blümchen war eine ältere Dame, bestimmt schon über fünfzig Jahre alt. Und sie war im ganzen Viertel beliebt, besonders bei uns Kindern.” (Zitat S.14) Für Erna ist sie wie eine Oma, bei der sie sich auch mal ausheulen kann und die ihr immer ein Himbeerbonbon zusteckt. Doch jetzt wird von der neuen Regierung dazu aufgerufen am Sonnabend die Geschäfte zu meiden, die von Juden geführt werden, auch Blümchens Geschäft soll dabei sein. Das versteht Erna überhaupt nicht. “Aber was soll das? Blümchen hat doch nichts Schlimmes getan!” (Zitat S.13). Erna beschließt selbst dagegen aktiv zu werden… (2) Der 11-jährige Willi, der 1936 in Süddeutschland lebt, ist Teil der Hitlerjugend und ganz stolz, dass er die Prüfung dazu überstanden hat, er gehört nun zum Deutschen Jungvolk. “Wir Jungvolkjungen hießen Pimpfe. Und um ein echter Pimpf zu werden, musste man eine Prüfung bestehen, die hieß Pimpfenprobe. Dafür hatte ich in den letzten Wochen ganz viel geübt.” (Zitat S.29) Doch bei einer Freizeit mit der Gruppe muss er feststellen, dass nur das Recht des Stärkeren zählt und sich die anderen sehr rücksichtslos verhalten. (3) Die 13-jährige Anneliese, die in Westdeutschland lebt, bekommt 1938 von ihrer Mutter eine schlimme Nachricht mit: “Tante Elfriede hat eben angerufen”, sagte Mutter. “Dort in Kassel haben sie gestern Abend die Synagoge zerstört. Alles wurde kurz und klein geschlagen und
wohl auch Feuer gelegt. […] Auch die Fensterscheiben einiger jüdischer Geschäfte sollen eingeschlagen worden sein.” (Zitat S.55) Dann brennt eines Nachts auch in Annelieses Straße plötzlich die Synagoge. Und die Polizei und die Feuerwehr stehen daneben und tun nichts! (4) Der 10-jährige Jakob, der Jude ist, lebt 1938 mit seiner Familie in den Niederlanden. Seine Tante Ria und sein Onkel Phil sind nach Amerika ausgewandert, weil die Zustände im Land immer schlimmer werden. Doch Jakobs Mutter will davon nichts wissen. “Hier ist meine Heimat. […] Ich bin in Enschede aufgewachsen, habe dich hier kennengelernt, die Kinder zur Welt gebracht. Ich kann nicht einfach wegziehen, Josef, und nach Amerika geen. Die Deutschen werden die Niederlande in Ruhe lassen, das haben sie im letzten Krieg doch auch getan.” (Zitat S.78) Aber dann greifen die Deutschen die Niederlande doch an und seine Eltern bekommen keine Eintrittskarte mehr nach Amerika. Was sollen sie denn jetzt bloß tun? (5) Die 12-jährige Lea, die Jüdin ist und in Österreich geboren wurde, ist mit
ihren Eltern 1942 nach Frankreich geflüchtet. Doch ihre Eltern werden verhaftet und so kümmert sich Sophie, das Kindermädchen, um sie. “…ich weiß, wo ihr in Sicherheit seid. In einem Dorf in den Bergen.” “Welches Dorf meinst du?”, fragte ich. Sophie wiegte den Kopf. “Es liegt im Süden. In der freien Zone. Die Bewohner haben schon vielen Menschen geholfen, vor allem Kindern. Dorthin werde ich euch bringen.” (Zitat S.129) Und so kommt Lea mit ihren zwei jüngeren Brüdern auf einem Bauernhof unter. Kann sogar mit anderen jüdischen Kindern zur Schule gehen. Bis eines Tages Soldaten in das Dorf kommen. Doch darauf sind der engagierte Pastor und die anderen Bewohner schon vorbereitet… (6) Der 16-jähige Marek ist in Polen geboren und wächst zweisprachig auf. Seine Mutter möchte, dass er ein Abitur in Deutschland macht, deshalb zieht er dorthin. Aber dann soll er plötzlich aus Deutschland ausgewiesen werden, weil er Jude ist. Er kehrt also zurück nach Warschau zu seinen Eltern. Sein Vater arbeitet als angesehener Zahnarzt. Aber die
Zustände verschlimmern sich auch in Polen immer mehr. Seine Eltern müssen ihre Wohnung abgeben. Sie landen in einem von Mauern umgebenen Getto, in das sämtliche Juden gesteckt werden. Und Marek macht eine besondere Bekanntschaft: “So plauderten wir noch eine ganze Weile über Fußball und einzelne Spieler, die wir besonders toll fanden — ein deutscher Soldat, mit einem Gewehr über der Schulter, und ein jüdischer Junge, der eigentlich den Fußboden mit seinem Hemd schrubben sollte.” (Zitat S.164) Nichts ahnend, dass genau dieser Soldat, der fast in seinem Alter ist, ihm später eine große Hilfe sein wird… (7) Der 14-jährige Willi, der 1943 in Hamburg lebt, hat eine Lehre als Briefträger angefangen. Sein Vater wurde in den Krieg eingezogen. Nachts müssen sie sich oft im Keller verstecken, weil die Stadt angegriffen wird. Nun wird auch sein Viertel beschossen. “Uns allen war klar, dass dieser Angriff unserem Viertel galt, dass wir in dieser Nacht um unser Leben fürchten mussten. […] Es donnerte und rumpelte, es krachte und knallte, der Lärm war
ohrenbetäubend. Und es wurde hell draußen. Nein, nicht weil die Sonne aufgegangen wäre, dafür war es viel zu früh, sondern weil die vielen Feuer um uns herum die Nacht zu einem grausigen Tag machten.” (Zitat S.194) Dann landet plötzlich auch in ihrem Haus eine Bombe und es fängt an zu brennen… (8) Der 12-jährige jüdische Pelle lebt mit seiner Familie in Dänemark. Und er hat Angst. Denn es geht ein Gerücht um. “Wollten die Deutschen uns tatsächlich abholen? Nur weil wir Juden waren? Wir waren vor allem Dänen! Mein Vater war ein angesehener Bürger von Kopenhagen. Er hatte in Deutschland Medizin studiert und arbeitete seit Jahren als Kinderarzt in einem Krankenhaus in unserer Stadt.” (Zitat S.211) Pelles Eltern planen die Flucht und die Familie versucht mit einem Boot nach Schweden überzusetzen. Doch wird es ihnen gelingen? (9) Die 10-jährige Sigrid, die 1945 in Ostpreußen auf einem Bauernhof lebt, muss mit ihrer Familie die Flucht ergreifen. Sie fürchten die Rote Armee, die immer näher rückt. “Dann haben sie die Tiere losgebunden und die Stalltür offen gelassen. Auch die Schweine, die Gänse und die
übrigen Hühner mussten wir auf dem Hof zurücklassen. Mama liefen die Tränen über das Gesicht, als sie auf den Bock stieg un nach den Zügeln griff.” (Zitat S.240) Mit einem zusammengezimmerten Planwagen verlassen sie den Hof, nehmen auch die 73-jährige, kranke Oma mit, die nicht mehr lange leben wird. Aber dann werden sie von einem Flieger angegriffen, ihr Pferd stirbt und sie müssen zu Fuß weiter. “So brachen wir an diesem Tag auf: eine Mutter, vier Kinder, eine sterbenskranke Oma, die von einem ukrainischen Gefangenen auf einer alten Tür durch den Schnee gezogen wurden, und ein zotteliger Hund.” (Zitat S.248) Werden sie es ins nächste Krankenhaus schaffen, damit ihre Oma in Frieden sterben kann? (10) Die 11-jährige Jana, die in Tschechien geboren ist, ist im Konzentrationslager in Auschwitz gelandet. Weil eine alte Klavierlehrerin sie dazu ermutigt, meldet sie sich und behauptet Akkordeon spielen zu können und darf dem Mädchenorchester von Auschwitz beitreten. “Ja, wir wussten von den Gaskammern, in die so viele Menschen getrieben
wurden. Wir wussten von den Krematorien, in denen ihre Leichen verbrannt wurden. Wir wussten: Die Musik war unsere einzige Chance, dem zu entkommen. Solange wir spielen konnten, wurden wir nicht ins Gas gejagt.” (Zitat S.259) Dann darf Jana das Lager auf einmal verlassen. “Dass ich die Hölle von Auschwitz verlassen durfte, hatte ich meiner Oma zu verdanken. Sie war die einzige Christin unter meinen Großeltern. Darum war ich in den Augen der Nazis nur eine Dreivierteljüdin.” (Zitat S.256) Sie kommt in das Konzentrationslager in Ravensbück. Doch auch dort sollen sie das Lager im April 1945 plötzlich räumen. Angeblich seien die Russen im Anmarsch. Auf der Weg durch die Kälte, ohne Essen und Trinken, fällt Jana plötzlich auf, dass die Wachmänner nicht mehr ganz so wachsam sind. Das ist ihre Chance…
Das Cover ist mit den Zeichnungen, aber auch den echten Fotografien im Hintergrund ist sehr treffend und ansprechend gemacht. In einem Vorwort an die Eltern gibt Frank Schwieger Folgendes an: “Da die NS-Zeit in der Schule erst in späteren Jahrgängen unterrichtet wird, ist das Wissen um diese Jahre bei Kindern sehr begrenzt” (Zitat S.5) Weil einzelne Schicksale viel mehr berühren, als lediglich Zahlen und Fakten, macht der Autorin in seinem Buch genau das — er erzählt aus der Ich-Perspektive der einzelnen Kinder. Lässt diese in eigenen Worten berichten. In einer Einleitung schreibt er außerdem: “Am liebsten hätte ich sie persönlich kennengelernt, aber das geht natürlich nicht. Dabei habe ich sie mir gar nicht frei ausgedacht! Nein, alle Geschichten lehnen sich an Personen an, die wirklich gelebt haben, und an Ereignisse, die so oder ganz ähnlich geschehen sind.” (Zitat S.7ff) Frank Schwieger will durch sein Buch zeigen, dass sich solch eine schreckliche Zeit nie wieder wiederholen darf und würde sich freuen, wenn die Leser*innen nach der Lektüre
ebenfalls zu genau dieser Erkenntnis kommen. Er bittet die Eltern jedoch ihre Kinder mit diesen Geschichten nicht alleine zu lassen, sondern mit ihnen darüber zu sprechen. Die einzelnen Kapitel sind immer nach dem gleichen Prinzip aufgebaut. Es beginnt mit einem Steckbrief des jeweiligen Kindes, in dem ein Bild, der Name, Geburtsdatum, Alter, Eltern, Geschwister und Wohnort abgebildet sind. Dann folgt der Bericht des Kindes und zum Schluss gibt es noch eine Doppelseite, die in einem Schaukasten den jeweiligen historischen Kontext des vorangegangenen Textes näher erläutert. Dazwischen finden sich (wenn auch manchmal nicht genau inhaltlich übereinstimmend, sondern etwas versetzt) wunderschön von Friederike Ablang illustrierte Zeichnungen, die jeweils eine ganze Buchseite einnehmen. Was ich etwas schade fand, war, dass die Begriffe im Glossar nicht im Fließtext (beispielsweise durch ein Symbol) gekennzeichnet wurden, man wusste also nie, welchen Begriff man nachschlagen konnte und welchen nicht. Der längste Teil in “Kinder
unterm Hakenkreuz” ist der von Jakob aus den Niederlanden, manche Geschichten umfassen tatsächlich auch mehrere Jahre, seine — die als Einzigste in Tagebuchform geschrieben ist — umfasst die Jahre 1938 bis 1944. Aber der 4./5. Geschichte gibt es tatsächlich inhaltlich des Öfteren Wiederholungen, da gleiche Ereignisse aus der Sicht von unterschiedlichen Kindern ähnlich wiedergegeben werden, während die Texte am Anfang eher chronologisch aufsteigend nach Jahreszahl erzählt werden. Dennoch tut dies der Spannung keinen Abbruch und es gibt jede Menge Sachen, die man selbst als Erwachsener noch lernen kann: “Die Rettung fast aller dänischen Juden ist ein einmaliger Vorgang während des Zweiten Weltkriegs. Während in Ländern wie Ungarn, den Niederlanden, Griechenland oder Polen 70 bis 90 Prozent der jüdischen Bevölkerung ermordet wurden, waren es in Dänemark weniger als ein Prozent.” (Zitat S.235) Natürlich spart Frank Schwieger auch Schlimmes nicht aus, er verpackt es zwar in eine einfache Sprache,
die ohne Brutalität auskommt, aber die Taten sprechen eben auch für sich: “Da las ich etwas, was ich nicht glauben kann. In diesen Lagern sollen die Juden und viele andere Menschen alle ermordet werden, zu Tausenden. Und zwar mit Gas. Die Leichen würden dann verbrannt, ihre Asche über die Felder verstreut, sodass keine Spur mehr von den Menschen bleibt. Ganz besonders schlimm soll es in einem Lager zugehen, das Auschwitz heißt.” (Zitat S.103) Doch gerade die Hilfsbereitschaft vieler Menschen während des Zweiten Weltkriegs wird immer wieder in den Vordergrund gerückt. Auch wenn in den einzelnen Geschichten furchtbare Dinge geschehen, gibt es immer wieder Zeichen von Menschlichkeit, die beschrieben werden. So wie zum Beispiel die kleine Erna in der ersten Geschichte, die am Sonnabend zu dem von Nazis bewachten Schuhladen ihrer Lieblingsverkäuferin und Gelegenheitsoma geht. “Mir schossen die Tränen in die Augen, aber das war mit in diesem Moment egal. “Wollt ihr mich verprügeln? Sechs Kerle gegen ein elfjähriges Mädchen?” Zwei oder
drei von diesen Nazis schauten beschämt auf den Boden. Keiner sagt ein Wort. “Ihr solltet euch schämen!”, fauchte ich und schob mich an Werner vorbei zur Ladentür.” (Zitat S.25) Erna hat ihr ganzes Geld aus dem Sparschwein zusammengekratzt, um Blümchen zu unterstützen, will an diesen Boykott-Tag Schuhe kaufen und ist mutig genug, um sich an den Nazis vorbeizudrängen. Oder auch die die Aussage eines Mannes in einem kleinen, französischen Dorf, für den es ganz selbstverständlich ist zu helfen: “Gleich morgen früh wird meine Frau dann eine Bleibe für die Kinder suchen. Machen Sie sich keine Sorgen. Hier gibt es viele Familien, die bereit sind Flüchtlinge aufzunehmen. In diesem Dorf wissen wir übrigens gar nicht, was ein Jude ist. Oder ein Katholik oder Protestant. Wir kennen hier nur Menschen.” (Zitat S.132) Aber auch Kleinigkeiten, wie unerwartete Freude trotz widriger Umstände, die die Kinder empfinden, werden beschrieben: “Judith und ich waren heute draußen! Stundenlang! Das erste Mal seit dem letzten August! Ich kann es immer noch nicht fassen. Gert ist unglaublich. Der Bretterzaun ist für uns!
So können wir jeden Tag in den Obstgarten gehen, ohne dass uns jemand sieht.” (Zitat S.105) Selbst wenn die Kinder von damals ihre Umstände nicht immer verstanden haben, so haben sie doch einen ganz eigenen Blick auf die Dinge und können Sachverhalte mit ihrem eigenen Menschenverstand analysieren: “Haben Juden anderes Blut als Deutsche?”, fragte Walter. “Natürlich!”, blaffte Hermann. “Das weiß doch jedes Kind. Sie haben Judenblut.” Ich hatte mal gesehen, wie Michael sich beim Fußball das Knie aufgeschürft hatte. Es hatte ein bisschen geblutet. Ich fand, sein Blut sah genauso aus wie meins.” (Zitat S.39) Ganz am Ende des Buches findet man neben dem bereits erwähnten Glossar noch einen QR-Code zum Abscannen, der 48 Seiten noch ausführlichere Sachgrundinformationen zu den jeweiligen Geschichten enthält. Auch einen Verweis auf Lehrermaterial ist im Anhang enthalten.
Dir gefällt der Erzählstil von Frank Schwieger? Dann lies noch seine anderen Bücher. Zum Beispiel seine “Geschichte(n) im Freundschaftsbuch”-Reihe, in der Götter, Helden und historische Figuren selbst zu Wort kommen. Andere Bücher von ihm sind “Julia im Alten Rom” und “Erik, der Wikingerjunge”. Weitere historische Romane zum Holocaust/Zweiten Weltkrieg, die ebenfalls für eine jüngere Zielgruppe geeignet sind und die ich alle empfehlen kann, sind “Friedrich, der Große Detektiv” von Philip Kerr, “Der Pfad: Die Geschichte einer Flucht in die Freiheit” von Rüdiger Bertram, “Flügel aus Papier” von Marcin Szczygielski, “Die letzte Haltestelle” von Sharon E. McKay und “Krieg und Freundschaft” von Dolf Verroen.
Bibliografische Angaben:Verlag: dtv ISBN: 978-3-423-76440-7 Erscheinungsdatum: 12.Januar 2023 Einbandart: Hardcover Preis: 18,00€ Seitenzahl: 288 Übersetzer: - Originaltitel: - Originalverlag: - Originalcover: -
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