“Nest” von der amerikanischen Autorin Esther Ehrlich ist ein Roman über eine Familie, deren Leben durch die plötzliche Diagnose Multiple Sklerose der Mutter völlig auf den Kopf gestellt wird. Eine Geschichte über Krankheit, Depression, Zusammenhalt und den Wert der Freundschaft, die zum Anker wird, wenn alles andere zu zerbrechen droht. Authentisch, berührend und erschütternd zugleich. Kein einfaches Buch, aber ein wertvolles (zumal es im Jugendbuch fast keine Bücher über diese Krankheit gibt). Für Jugendliche ab 12 Jahren und Erwachsene.
Cape Cod. Eine Halbinsel im Südosten von Massachusetts. Hier am Meer lebt die 11-jährige Naomi, die von allen nur “Chirp” genannt wird, mit ihrer Familie. Sie geht in die fünfte Klasse und liebt neben dem Beobachten von Vögeln auch das Tanzen über alles. So wie ihre Mutter, eine professionelle Tänzerin, die Choreographien entwickelt und sogar ein eigenes Studio hat. “Na komm, mein Spatz”, sagt sie und tanzt vor mir herum. Sie stellt den Plattenspieler sogar noch lauter. Ich nehme ihre Hand und sie führt mich in die Mitte der Küche. […] Ich könnte Mom den ganzen Abend nur anschauen, wenn sie die Augen so fest geschlossen hat und mit ihrem ruhigem, wunderschönen Lächeln auf den Lippen tanzt.” (Zitat aus “Nest” S.22) Doch in letzter Zeit tanzt Chirps Mutter nicht mehr soviel. Sie lacht auch seltener und hat Probleme mit ihrem Bein, das sie zeitweise sogar nachziehen muss. Die Treppen kommt sie auch ganz schlecht herunter und muss sich viel ausruhen. Als auf einem Elternabend sogar ihr eines Auge zu zucken anfängt, ist die Diagnose vom Arzt bald gestellt: Chirps Mutter hat Multiple Sklerose. Das verändert alles in der Familie und auch Chirp merkt, dass sie kaum mehr etwas für ihre Mutter tun kann, die von Tag zu Tag depressiver wird. Selbst ihr Vater, der Psychologe ist, kann seiner Frau nicht helfen und bringt sie schließlich in eine psychiatrische Klinik. Als sie die Mutter endlich besuchen dürfen, ist sie immer noch ganz verändert. “Es tut mir leid. Es tut mir so leid.” Moms Stimme klingt brüchig und ängstlich und so sehr nach einem kleinen Mädchen, dass ich mir die Ohren so fest zuhalten möchte, dass ich nur noch Wellenrauschen höre. […] Sie umarmt mich. Ich drücke mein Gesicht gegen ihren Hals. Waschmittel. Ich will Zitronen und Lavendel riechen. Ich will Mom riechen. “Okay, Liebling”, sagt Mom und versucht, sich loszumachen. “Nein”, flüstere ich, “nein, Mom” und klammere mich an sie…” (Zitat S.147) Chirps Mutter riecht nicht mehr nach Zitronen und Lavendel. Sie registriert auch den Kuchen kaum, den Rachel und sie extra gebacken haben. Wird ihre Mutter jemals wieder die Alte werden? Wird sie überhaupt wieder nach Hause zurückkehren?
“Nest” fällt bereits durch sein schlichtes Cover auf. Es ist reduziert auf das Wesentliche: den Titel, groß und deutlich und die Protagonistin, nur mit Kopf, Händen und Füßen, ohne Körper, aber mit Flügeln. Es sind die Flügel, die Chirp selbst gebastelt hat, um sich zu verkleiden. Die aber nach einer Party bereits in der Ecke liegen. Denn für das junge Mädchen, aus deren Ich-Perspektive der Roman durchgängig erzählt wird, verändern sich nicht nur die Gesundheit der Mutter, sondern auch andere Umstände. Ihre Schwester möchte nicht mehr “Süßes oder Saures” an Halloween mit ihr spielen und lieber auf eine Feier gehen. In ihrer Klasse erhält sie scheinbar den “Mitleidsbonus”, weil sie ihre Mutter krank ist. Und mit ihrem Vater (ein sehr gelungener, erfrischender Charakter, der unfreiwillig komisch wirkt), kann sie auch nicht mehr wirklich reden: “Schätzchen, ich weiß, das ist schwer für dich. Ich bin mir sicher, dass du dich hilflos fühlst”, sagt Dad. Ich bin mir nicht sicher, wie ich mich fühle. “Das ist in dieser Situation eine völlig natürliche Reaktion.” Ich wünschte, Dad würde den Mund halten. “Wenn du über deine Gefühle sprechen möchtest, bin ich selbstverständlich für dich da.” Eigentlich möchte ich bloß, dass Dad aufhört zu reden. Nur ich und Mom. Nur Mom und ich.” (Zitat S.48ff) Das Buch ist in einem eher ruhigerem Erzähltempo geschrieben, es schildert eine sehr heimelige Atmosphäre des Familienzusammenlebens, in der Kuchen gebacken und den Regentropfen am Fenster zugesehen wird. Das Fehlen der Mutter prägt Chirp sehr, aber auch ihr verändertes Verhalten, als sie noch zu Hause ist: “Mom sieht blass aus. Ich würde gern ihre Hand halten, aber ich habe Angst, dass sie sich kalt und klamm anfühlt. Mom ist nie kalt und klamm, aber vielleicht hat die MS das bereits geändert.” (Zitat S.84) Wobei “Nest” eher die Symptome der Depression in den Vordergrund stellt, an denen die Mutter leidet, als die der Multiplen Sklerose. Die Sprache ist einfach, aber in ihrer Wirkung intensiv und bringt die Tragik der Geschichte in einem richtigen Maß zum Ausdruck: “Ich beobachte ihr Gesicht. Irgendwann spürt sie, dass ich sie ansehe und lächelt mich traurig an. Als ich Moms Hand berühre, ist sie kalt und klamm, und in diesem Augenblick ist mir klar, dass sich alles verändert hat.” (ZItat S.86) Am Ende hat mir das Motiv des Fliegens, wie auf dem Klappentext dargestellt, etwas gefehlt. Die Flügel, die am Anfang so schön symbolisch verwendet wurden, kamen leider nicht mehr vor. Dafür wirkt die Freundschaftsgeschichte zum Nachbarsjungen sehr realistisch, und auch Joeys Probleme zu Hause werden nicht — wie es so oft in Büchern der Fall ist — auf ein künstliches Happyend getrimmt.
Eine schöne Alternative zu “Nest” ist “Isla — Schwanenmädchen” von Lucy Christopher, in der ebenso das Motiv des Fliegens in Form zweier gebastelter Flügel aufgegriffen wird, aber der Vater krank ist. Eine richtig tolle Freundschaftsgeschichte vor dem Hintergrund familiärer Probleme ist auch “Bird und ich und der Sommer, in dem ich fliegen lernte” von Crystal Chan — ein herausragendes Buch! Gut könnte ich mir ebenfalls “Der Sommer der Eulenfalter” von Sara Pennypacker vorstellen, hier wird das Fehlen der Mutter in etwas anderer Art thematisiert, aber der Wert von Freundschaft steht sehr im Vordergrund. Das Buch spielt übrigens auch in Cape Cod! Zum Thema MS im Kinder- und Jugendbuch gibt es leider kaum Alternativen. Gebraucht gibt es noch im Jugendbuch “Traumschritte” von Brigitte Blobel und neu für 5–8‑jährige Kinder “Herr Meier erklärt es kinderleicht: Meine Dosenöffner haben Multiple Sklerose” von Kerstin und Markus Schaefer. Zum Thema Depression wurde dafür umso mehr geschrieben. Büchern, in denen die Mutter an einer Depression erkrankt ist, sind “Das Gegenteil von fröhlich” von Katrin Stehle, “Easy” von Christoph Wortberg und “Meine wahre erfundene Welt” von Kaat Vrancken. Sehr zu empfehlen ist auch “Das Schweigen in meinem Kopf” von Kim Hood. Es gibt übrigens noch einen ähnlich klingenden Titel wie der hier rezensierte: “Das Nest” von Kenneth Oppel, in diesem wird ebenso das Thema Krankheit thematisiert, allerdings geht der Roman in die Horror-Richtung (aber genial!).
Bibliografische Angaben: Verlag: Aladin ISBN: 978-3-8489-2077-8 Erscheinungsdatum: 1.September 2016 Einbandart: Hardcover Preis: 14,95€ Seitenzahl: 304 Übersetzer: André Mumot Originaltitel: "Nest" Originalverlag: Wendy Lamb Books Amerikanisches Originalcover: Hörprobe aus "Nest":
Kasimiras Bewertung:
(4 von 5 möglichen Punkten)