Esther Ehrlich — Nest

Esther Ehrlich - Nest19.September 2016

Nest” von der ame­ri­ka­ni­schen Autorin Esther Ehr­lich ist ein Roman über eine Fami­lie, deren Leben durch die plötz­li­che Dia­gno­se Mul­ti­ple Skle­ro­se der Mut­ter völ­lig auf den Kopf gestellt wird. Eine Geschich­te über Krank­heit, Depres­si­on, Zusam­men­halt und den Wert der Freund­schaft, die zum Anker wird, wenn alles ande­re zu zer­bre­chen droht. Authen­tisch, berüh­rend und erschüt­ternd zugleich. Kein ein­fa­ches Buch, aber ein wert­vol­les (zumal es im Jugend­buch fast kei­ne Bücher über die­se Krank­heit gibt). Für Jugend­li­che ab 12 Jah­ren und Erwachsene.

Cape Cod. Eine Halb­in­sel im Süd­os­ten von Mas­sa­chu­setts. Hier am Meer lebt die 11-jäh­ri­ge Nao­mi, die von allen nur “Chirp” genannt wird, mit ihrer Fami­lie. Sie geht in die fünf­te Klas­se und liebt neben dem Beob­ach­ten von Vögeln auch das Tan­zen über alles. So wie ihre Mut­ter, eine pro­fes­sio­nel­le Tän­ze­rin, die Cho­reo­gra­phien ent­wi­ckelt und sogar ein eige­nes Stu­dio hat. “Na komm, mein Spatz”, sagt sie und tanzt vor mir her­um. Sie stellt den Plat­ten­spie­ler sogar noch lau­ter. Ich neh­me ihre Hand und sie führt mich in die Mit­te der Küche. […] Ich könn­te Mom den gan­zen Abend nur anschau­en, wenn sie die Augen so fest geschlos­sen hat und mit ihrem ruhi­gem, wun­der­schö­nen Lächeln auf den Lip­pen tanzt.” (Zitat aus “Nest” S.22) Doch in letz­ter Zeit tanzt Chirps Mut­ter nicht mehr soEsther Ehrlich - Nestviel. Sie lacht auch sel­te­ner und hat Pro­ble­me mit ihrem Bein, das sie zeit­wei­se sogar nach­zie­hen muss. Die Trep­pen kommt sie auch ganz schlecht her­un­ter und muss sich viel aus­ru­hen. Als auf einem Eltern­abend sogar ihr eines Auge zu zucken anfängt, ist die Dia­gno­se vom Arzt bald gestellt: Chirps Mut­ter hat Mul­ti­ple Skle­ro­se. Das ver­än­dert alles in der Fami­lie und auch Chirp merkt, dass sie kaum mehr etwas für ihre Mut­ter tun kann, die von Tag zu Tag depres­si­ver wird. Selbst ihr Vater, der Psy­cho­lo­ge ist, kann sei­ner Frau nicht hel­fen und bringt sie schließ­lich in eine psych­ia­tri­sche Kli­nik. Als sie die Mut­ter end­lich besu­chen dür­fen, ist sie immer noch ganz ver­än­dert. “Es tut mir leid. Es tut mir so leid.” Moms Stim­me klingt brü­chig und ängst­lich und so sehr nach einem klei­nen Mäd­chen, dass ich mir die Ohren so fest zuhal­ten möch­te, dass ich nur noch Wel­len­rau­schen höre. […] Sie umarmt mich. Ich drü­cke mein Gesicht gegen ihren Hals. Wasch­mit­tel. Ich will Zitro­nen und Laven­del rie­chen. Ich will Mom rie­chen. “Okay, Lieb­ling”, sagt Mom und ver­sucht, sich los­zu­ma­chen. “Nein”, flüs­te­re ich, “nein, Mom” und klam­me­re mich an sie…” (Zitat S.147) Chirps Mut­ter riecht nicht mehr nach Zitro­nen und Laven­del. Sie regis­triert auch den Kuchen kaum, den Rachel und sie extra geba­cken haben. Wird ihre Mut­ter jemals wie­der die Alte wer­den? Wird sie über­haupt wie­der nach Hau­se zurückkehren?

Esther Ehrlich - NestNest” fällt bereits durch sein schlich­tes Cover auf. Es ist redu­ziert auf das Wesent­li­che: den Titel, groß und deut­lich und die Prot­ago­nis­tin, nur mit Kopf, Hän­den und Füßen, ohne Kör­per, aber mit Flü­geln. Es sind die Flü­gel, die Chirp selbst gebas­telt hat, um sich zu ver­klei­den. Die aber nach einer Par­ty bereits in der Ecke lie­gen. Denn für das jun­ge Mäd­chen, aus deren Ich-Per­spek­ti­ve der Roman durch­gän­gig erzählt wird, ver­än­dern sich nicht nur die Gesund­heit der Mut­ter, son­dern auch ande­re Umstän­de. Ihre Schwes­ter möch­te nicht mehr “Süßes oder Sau­res” an Hal­lo­ween mit ihr spie­len und lie­ber auf eine Fei­er gehen. In ihrer Klas­se erhält sie schein­bar den “Mit­leids­bo­nus”, weil sie ihre Mut­ter krank ist. Und mit ihrem Vater (ein sehr gelun­ge­ner, erfri­schen­der Cha­rak­ter, der unfrei­wil­lig komisch wirkt), kann sie auch nicht mehr wirk­lich reden: “Schätz­chen, ich weiß, das ist schwer für dich. Ich bin mir sicher, dass du dich hilf­los fühlst”, sagt Dad. Ich bin mir nicht sicher, wie ich mich füh­le. “Das ist in die­ser Situa­ti­on eine völ­lig natür­li­che Reak­ti­on.” Ich wünsch­te, Dad wür­de den Mund hal­ten. “Wenn du über dei­ne Gefüh­le spre­chen möch­test, bin ich selbst­ver­ständ­lich für dich da.” Eigent­lich möch­te ich bloß, dass Dad auf­hört zu reden. Nur ich und Mom. Nur Mom und ich.” (Zitat S.48ff) Das Buch ist in einem eher ruhi­gerEsther Ehrlich Nestem Erzähl­tem­po geschrie­ben, es schil­dert eine sehr hei­me­li­ge Atmo­sphä­re des Fami­li­en­zu­sam­men­le­bens, in der Kuchen geba­cken und den Regen­trop­fen am Fens­ter zuge­se­hen wird. Das Feh­len der Mut­ter prägt Chirp sehr, aber auch ihr ver­än­der­tes Ver­hal­ten, als sie noch zu Hau­se ist: “Mom sieht blass aus. Ich wür­de gern ihre Hand hal­ten, aber ich habe Angst, dass sie sich kalt und klamm anfühlt. Mom ist nie kalt und klamm, aber viel­leicht hat die MS das bereits geän­dert.” (Zitat S.84) Wobei “Nest” eher die Sym­pto­me der Depres­si­on in den Vor­der­grund stellt, an denen die Mut­ter lei­det, als die der Mul­ti­plen Skle­ro­se. Die Spra­che ist ein­fach, aber in ihrer Wir­kung inten­siv und bringt die Tra­gik der Geschich­te in einem rich­ti­gen Maß zum Aus­druck: “Ich beob­ach­te ihr Gesicht. Irgend­wann spürt sie, dass ich sie anse­he und lächelt mich trau­rig an. Als ich Moms Hand berüh­re, ist sie kalt und klamm, und in die­sem Augen­blick ist mir klar, dass sich alles ver­än­dert hat.” (ZItat S.86) Am Ende hat mir das Motiv des Flie­gens, wie auf dem Klap­pen­text dar­ge­stellt, etwas gefehlt. Die Flü­gel, die am Anfang so schön sym­bo­lisch ver­wen­det wur­den, kamen lei­der nicht mehr vor. Dafür wirkt die Freund­schafts­ge­schich­te zum Nach­bars­jun­gen sehr rea­lis­tisch, und auch Joeys Pro­ble­me zu Hau­se wer­den nicht — wie es so oft in Büchern der Fall ist — auf ein künst­li­ches Hap­py­end getrimmt.

Eine schö­ne Alter­na­ti­ve zu “Nest” ist “Isla — Schwa­nen­mäd­chen” von Lucy Chris­to­pher, in der eben­so das Motiv des Flie­gens in Form zwei­er gebas­tel­ter Flü­gel auf­ge­grif­fen wird, aber der Vater krank ist. Eine rich­tig tol­le Freund­schafts­ge­schich­te vor dem Hin­ter­grund fami­liä­rer Pro­ble­me ist auch “Bird und ich und der Som­mer, in dem ich flie­gen lern­te” von Crys­tal Chan — ein her­aus­ra­gen­des LesealternativenBuch! Gut könn­te ich mir eben­falls “Der Som­mer der Eulen­fal­ter” von Sara Pen­ny­pa­cker vor­stel­len, hier wird das Feh­len der Mut­ter in etwas ande­rer Art the­ma­ti­siert, aber der Wert von Freund­schaft steht sehr im Vor­der­grund. Das Buch spielt übri­gens auch in Cape Cod! Zum The­ma MS im Kin­der- und Jugend­buch gibt es lei­der kaum Alter­na­ti­ven. Gebraucht gibt es noch im Jugend­buch “Traum­schrit­te” von Bri­git­te Blo­bel und neu für 5–8‑jährige Kin­der “Herr Mei­er erklärt es kin­der­leicht: Mei­ne Dosen­öff­ner haben Mul­ti­ple Skle­ro­se” von Kers­tin und Mar­kus Schae­fer. Zum The­ma Depres­si­on wur­de dafür umso mehr geschrie­ben. Büchern, in denen die Mut­ter an einer Depres­si­on erkrankt ist, sind “Das Gegen­teil von fröh­lich” von Kat­rin Steh­le, Easy” von Chris­toph Wort­berg und “Mei­ne wah­re erfun­de­ne Welt” von Kaat Vran­cken. Sehr zu emp­feh­len ist auch “Das Schwei­gen in mei­nem Kopf” von Kim Hood. Es gibt übri­gens noch einen ähn­lich klin­gen­den Titel wie der hier rezen­sier­te: “Das Nest” von Ken­neth Oppel, in die­sem wird eben­so das The­ma Krank­heit the­ma­ti­siert, aller­dings geht der Roman in die Hor­ror-Rich­tung (aber genial!).

Bibliografische Angaben:
Schilder was wo wer wannVerlag: Aladin
ISBN: 978-3-8489-2077-8
Erscheinungsdatum: 1.September 2016
Einbandart: Hardcover
Preis: 14,95€ 
Seitenzahl: 304 
Übersetzer: André Mumot
Originaltitel: "Nest" 
Originalverlag: Wendy Lamb Books

Amerikanisches Originalcover:
Esther Ehrlich - Nest











Hörprobe aus "Nest":
 

Kasimiras Bewertung:

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(4 von 5 mög­li­chen Punkten)

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