Es gibt viele Bücher, die man mit einer gesunden Distanz lesen kann — man weiß: okay, das hier ist fiktiv, das könnte zwar so oder so ähnlich passieren, aber es ist zu weit weg, um intensive Gefühle zu hinterlassen. Bei diesem Buch “Die Schüler von Winnenden”, geschrieben von sechs Schülern und einer Lehrerin, ist es jedoch nahezu unmöglich distanziert zu bleiben, denn das hier, das ist WIRKLICH passiert. Der Roman basiert auf den wahren Ereignissen des 11. März 2009, dem Tag des Amoklaufs, durch welchen die kleine Stadt Winnenden eine leidvolle Bekanntheit erlangte, die man keiner Stadt und seinen Bewohner je wünschen möchte. Für Jugendliche ab 14 Jahren und Erwachsene.
“Die Schüler von Winnenden” ist in der Reihe “Unser Leben” im Arena Verlag erschienen (in Zusammenarbeit mit Daniel Oliver Bachmann) und umfasst die Erlebnisse und Erinnerungen vor, während und nach dem Amoklauf an der Albertville-Realschule in Winnenden. Es wird aus sich abwechselnden Perspektiven erzählt, wobei stets der Name der betroffenen Person mit einem Zitat am Anfang steht. Die Schüler das sind: Jennifer Schreiber (15), Steffen Sailer (15), Marie Bader (16), Annabell Schober (11), Pia Sellmaier (8) und die Lehrerin Marie-Luise Braun, wobei die Namen teilweise geändert wurden und die Altersangabe sich auf das damalige Alter bezieht. Die geschilderten Ereignisse wirken dadurch noch umso heftiger, da die Erzähler auch den Tag vor dem Amoklauf schildern. Was sie in ihrer Familie unternommen haben, wie sie abends beispielsweise noch ein Fußballspiel im Fernsehen sahen oder für eine bevorstehende Klausur lernen mussten. Wie sie zur Schule gingen, was im Unterricht behandelt wurde. Wie sie die ersten Schüsse noch für lärmende Arbeiten des Hausmeisters hielten, bis das Entsetzen und das Erkennen dann langsam um sich griff und klar war: das Unfassbare geschieht nicht woanders, sondern genau hier: ein Amoklauf an dieser Schule in Winnenden. Normalität trifft auf eine unvorstellbare Gewalttat, die wirklich jeden aus seinem Alltag reißt, für grenzenlose Trauer sorgt und Spuren hinterlässt, die oft traumatisch sind.
“Ich habe sehr große Zukunftsangst”, schreibt die Lehrerin Marie-Luise Braun, “Meine Sicherheit ist verschwunden. Ich fürchte mich davor, dass meiner Familie etwas passiert. Ich habe ständig Bauchschmerzen, Herzrasen und Schlafstörungen. Es geht überhaupt nicht mehr weg.” Es wird von Schülern berichtet, die selbst heute noch Alpträume haben, die bei Dunkelheit nicht schlafen können, die sich als Außenseiter fühlen, weil die Welt um sie herum weitergegangen ist und kaum jemand sie zu verstehen scheint. Auch Bilder offerieren sich dem Leser. Aufnahme in schwarz-weiß, die den Ort der Trauer zeigen, so wie es auch schon das Titelbild vermag.
Warum? Diese Frage steht groß im Raum. Der 15-jährige Steffen schreibt dazu: “Eine Menge Leute werden sich diese Fragen stellen und es wird auch eine Menge Antworten geben. Experten melden sich zu Wort. Leute, die verrückt nach Waffen sind. Leute, die keine Waffen brauchen. Jeder wird das “Warum” so beantworten, wie es ihm am besten in den Kram passt. Keiner wird eine echte Antwort haben. Niemand hat die. Auch ich nicht.”
Natürlich ist dieses Buch kein einfaches Buch, denn es berührt nicht nur, es erschüttert seine Leser. Es lässt einem Tränen in die Augen steigen und sich erneut ins Bewusstsein rufen, was in jener Schule vor sich gegangen ist. Das Geschehene durch einen unverfälschten, kindlichen Blick zu erleben, trifft noch viel tiefer, als Presseberichte erwachsener Journalisten es können. Und doch ist es wichtig es zu lesen! “Es ist wichtig, dass wir niemals vergessen, was passiert ist, denn wir Menschen verdrängen schnell”, schreibt die 16-jährige Marie, “Die unfassbare Tat in Norwegen, wo 77 Menschen sterben mussten, weil ein einziger mit seinem Leben nicht zurechtkam, hat wieder gezeigt, dass wir noch immer nichts gelernt haben.”
Der Roman informiert auch über den Hintergrund zu Amokläufen. Beispielsweise präsentiert eine Schülerin folgende erschreckende Zahlen: “Jedes Jahr gibt es in Deutschland rund 400 Amoklaufdrohungen. Bei 230 Schultagen im Jahr sind das 1,7 Drohungen pro Tag. […] Nirgendwo in der Welt gibt es so viele School-Shootings wie in Amerika und Deutschland. Diese beiden Länder sind da einsame Spitze. Ein trauriger Rekord.”
Das Buch endet mit Danksagungen der einzenen Erzähler und Informationen über das Aktionsbündnis.
“Die Schüler von Winnenden” kann gut als Klassenlektüre verwendet werden, um Vergangenes zu bewältigen, zu Diskussionen anzuregen und Gespräche über das immer noch hochaktuelle Thema “Amoklauf” in Gang zu bringen.
Es gibt noch andere Bücher, die sich mit dem Thema Amoklauf auseinandersetzen: “Böser Bruder, Toter Bruder” von Narinder Dhami (ein außergewöhnliches Buch mit einem unerwarteten, untypischen Ende!) oder “Blown away” von Terhi Rannela oder “Klassenziel” von T.A.Wegberg. Sehr einfühlsam schreiben auch Brigitte Blogel “Alessas Schuld” und Myriam Keil “Nach dem Amok”.
Bibliografische Angaben:Verlag: Arena ISBN: 978-3-401-50345-5 Erscheinungsdatum: 1.Februar 2013 Einbandart: Taschenbuch Preis: 6,99€ Seitenzahl: 168 Übersetzer: - Originaltitel: - Originalverlag: - Originalcover: - Nachrichtenbericht zum 11.März 2009:
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