Die vielfach ausgezeichnete amerikanische Autorin und Journalistin Dashka Slater hat mit “Bus 57” einen Roman geschrieben, der zugleich eine Dokumentation einer sich tatsächlich ereigneten Straftat ist. Ein afroamerikanischer Junge zündet während einer Busfahrt den Rock einer gleichaltrigen Person, die sich als genderqueer bezeichnet, an. Die Autorin geht den Hintergründen dieser wahren Begebenheit auf die Spur, beleuchtet die Geschichte aus unterschiedlichen Perspektiven und liefert einen kriminalistischen, teils fast sachbuchhaften Roman. Ein bewegendes, heftiges Buch, das zum Nachdenken anregt. Für Jugendliche ab 14 Jahren und interessierte Erwachsene.
Oakland, Kalifornien. Es ist Montag, der 4. November 2013. Ein Tag, der das Leben zweier Jugendlichen für immer, unwiderruflich, verändern wird.
Da ist zum einen Sasha — 16 Jahre alt — ursprünglich auf den Namen Luke getauft, umbenannt vor einiger Zeit im Rahmen eines Outings: “Sasha geht in die zwölfte Klasse einer kleinen, privaten Highschool und identifiziert sich als agender — weder männlich noch weiblich.” (Zitat aus “Bus 57” S.8) Sasha liebt alle Arten von Spiele: Kartenspiele, Rollenspiel, Brettspiele und Videospiele. Ist Teil einer Clique, die mit Sashas Genderqueerheit keinerlei Problem hat. Ebenso die Eltern sind dem aufgeschlossen gegenüber und die Schule
, auf die Sasha geht, fällt gerade dadurch auf, dass unkonventionelles Verhalten positiv angesehen wird. Seit einiger Zeit trägt Sasha Röcke. Auch auf der Busfahrt nach Hause.
Zum anderen ist da Richard. Er ist Afroamerikaner, wohnt in einem sozial schwachen Viertel. “Er ist sechzehn Jahre alt, geht in die elfte Klasse der Oakland High School und hat haselnussbraune Augen und ein lässiges, nettes Grinsen im Gesicht.” (Zitat S.8) In der neunten Klasse hat wurden er und seine Clique nach einer Prügelei verhaftet und sogar des Raubs bezeichnet. Richard befand sich einen ganzen Monat lang in einer Jugendstrafanstalt, bis das Urteil endlich gefällt wurde. Er wurde mit elektronischer Fußfessel entlassen und verbrachte mehr als ein Jahr in einer betreuten Wohngruppe, weit von Zuhause entfernt, ehe er nach Oakland zurückkehren durfte. Seine Noten waren nicht gut, aber er fand eine Vertrauenslehrerin, die ihn unterstützte und an ihn glaubte. Sie war davon überzeugt, dass aus ihm etwas werden könne und er eines Tages einen guten Abschluss machen würde. Eigentlich hat Richard ein sonniges Gemüt: “Er wollte, dass Leute glücklich waren, das war etwas, das allen an ihm auffiel. Er machte ständig Witze, alberte herum. […] Er spielte Leuten Streiche, wie ihnen Ketschup aufs Gesicht zu schmieren, während sie schliefen, oder ihnen mit Wasserballons aufzulauern, wenn sie gerade erst aufgewacht waren. Für einen guten Lacher tat er alles” (Zitat S.107) Mit seinem Cousin und einem Freund fährt er am Montag, den 4. November 2013 mit dem Bus nach Hause.
“Die Buslinie 57 führt sowohl durch wohlhabende als auch sozial schwache Viertel, durchquert die Stadt von einem Ende zum anderen auf einer knapp achtzehn Kilometer langen Strecke.” (Zitat S.13) Während dieser Busfahrt zündet Richard Sashas Rock an. Lässt sein Feuerzeug daran züngeln. Steigt aus. Und wird durch den Schrei seines Cousins alarmiert. Der Rock hat Feuer gefangen. Sasha brennt. Erleidet schwerste Verbrennungen an den Beinen. Brandverletzungen des zweiten und dritten Grads und muss mehrmals operiert werden. Während Richard sich der Situation zunächst entzieht und abhaut, wird er jedoch am nächsten Tag in der Schule festgenommen. Auf Kameras im Bus ist alles genau zu sehen. Doch was genau ist passiert? Wie konnte es zu dieser Tat kommen? Und wird Richard tatsächlich nach Erwachsenenstrafrecht und zu einer lebenslänglichen Haftstrafe verurteilt werden?
Ursprünglich hat Dashka Slater nur einen längeren Artikel in der New York Times geschrieben, der im Februar 2015 erschien. Doch dann ließ die Journalistin und Autorin — die vor allem für ihre sorgfältig recherchierten Hintergrundgeschichten mehrfach ausgezeichnet wurde — das Thema einfach nicht mehr los und sie beschloss ein ganzes Buch darüber zu schreiben. Dafür hat sie sehr gut recherchiert und das merkt man. Monatelang hat sie den Gerichtsprozess gegen Richard verfolgt, mit Zeugen gesprochen und aus verschiedensten Quellen, wie sie im Vorwort angibt, ihre Informationen zusammengetragen: “…unter anderem aus Interviews, Dokumenten, Briefen, Videos, Tagebüchern, Beiträgen in sozialen Medien und öffentlich zugänglichen Behördenunterlagen. Zitate aus diesen Quellen sind wortwörtlich wiedergegeben” (Zitat S.5) Zu Beginn deutet die Autorin in einem Kapitel bereits an, was passieren wird, und erzählt in einem weiteren noch Wissenswertes über die Stadt Oakland, um den Roman dann in mehrere Teile geteilt, beginnen zu lassen. In den ersten zwei Teilen werden die Protagonisten genauer vorgestellt. Teil eins widmet sich komplett Sasha und Teil zwei stellt Richard und seine Lebensgeschichte in den Vordergrund. Dann folgt Teil drei: “Das Feuer”, welches besagten 4. November 2013 genauer beleuchtet und schließlich in Teil vier die Folgen, die sich daraus ergeben, in “Justiz”. Der Erzählstil des Buches ist zum Teil sehr dokumentarisch, es sind sehr viele Sachinformationen eingearbeitet. Das lässt nicht immer ein flüssiges Lesen zu, ist aber dennoch sehr interessant aufbereitet. Auch muss man sich zu Beginn erst ein wenig an die ungewohnte Verwendung der Pronomen gewöhnen, die im Deutschen mit beispielsweise mit “sier” oder “siem” übersetzt werden — als neutrale Pronomen. Dies geschieht — laut Anmerkung der Autorin — nach Absprache mit Sasha. “Ich möchte nicht, dass Leute von mir als er denken […] Es berührt mich nicht wirklich direkt — zumindest es zu hören, — ich denke mir nur: Hm, das stimmt einfach nicht. Und wenn die Leute die
richtigen Pronomen benutzen, wenn sie sier oder ein anderes, geschlechtsneutrales Pronomen benutzen, fühle ich mich ernst genommen.” (S.52) Teilweise werden auch Auszüge aus trumblr- oder Facebook-Seiten mit abgebildet, oder Textnachrichten, die sich die Jugendlichen geschickt haben. Dies lässt ein sehr vielseitiges, tiefschichtiges Bild zu. Dashka Slater lässt in ihrem Buch keinen Aspekt unberührt, sie klärt ihre Leser auf, erläutert Begrifflichkeiten wie — was bedeutet überhaupt genderqueer? — liefert exakte Definitionen und benennt ebenso Fakten mit genauen Zahlen: “Zu Gewalttaten gegen Trans*Menschen kommt es erschreckend häufig. Eine von vier Trans*Personen ist schon Opfer eines vorurteilsgeleiteten Angriffs gewesen […] Von achthundertsechzig nicht binären Personen, die 2008 an der landesweiten Umfrage zur Transgenderdiskrimination teilnahmen, waren zweiunddreißig Prozent bereits einmal körperlich angegriffen worden.” (Zitat S.59) Durch die Schilderung beider Lebensläufe in unabhängigen Teilen geht die Autorin auf beide
Schicksale auf berührende Art und Weise ein und schafft dies auch nahezu wertungsfrei. Ein wichtiger Punkt in “Bus 57” ist das amerikanische Rechtssystem und die deutliche Hervorhebung der Tatsache, dass vor Gericht andersfarbige Menschen — im Gegensatz zu Weißen — immer noch teilweise nachteilig behandelt werden. Hiervon kann man vor allem im letzten Teil des Buches lesen, während man dem Urteil und weiteren Ausgang der Geschichte immer näher kommt. Der Roman ist teils in recht kurzen Kapiteln geschrieben und vor allem im hinteren Teil sehr mitreißend. Das Ende berührt und macht nachdenklich.
Du magst schicksalshafte Romane, die auf wahren Begebenheiten beruhen? Dann wäre vielleicht die “Mein Leben”-Reihe beim Arena Verlag etwas für dich. Hier erzählen Jugendliche wahre Geschichten über heftige Themen. Lies zum Beispiel “Die Schüler von Winnenden” von Daniel O.Bachmann (Thema: Amoklauf), “Euer Hass hat kein Gesicht” von Jessica Gehres (Cybermobbing), “Der Tod kriegt mich nicht” von Lisa-Marie Huber (Leukämie), “Plötzlich war ich im Schatten” von Ela Aslan (Illegal in Deutschland), “So lange bin ich vogelfrei” von Sabrina Tophofen (Straßenkind), “Mein Lollimädchen-Ich” von Christina Helmis (Magersucht) und “Dann bin ich seelenruhig” von Angela S. (Ritzen). Bewegende Bücher zum Thema “Schuld” sind zum Beispiel das fesselnde “Du” von Sandra Glover (schon etwas älter), “Wer ist Jennifer Jones?” von Anne Cassidy (ebenfalls etwas älter), das heftige “Du wolltest es doch” von Louise O’Neill, das nachdenklich machende “Zebraland” von Marlene Röder und das bewegende “Der Junge auf dem Berg” von John Boyne. In eine ähnliche Richtung gehen auch “Das wirst du nie mehr los” von Gail Giles und der amerikanische Klassiker “Das haben wir nicht gewollt” von Paul Zindel. Etwas Schlimmes getan haben auch die Protagonisten in “Was wir nicht wollten” von Paul Höra und in “Dreckstück” von Clémentine Beauvais. Hinsichtlich der Diskriminierung von Schwarzen musste ich ebenso ein wenig an “Dear Martin” von Nic Stone denken.
Bibliografische Angaben:Verlag: Loewe ISBN: 978-3-7432-0363-1 Erscheinungsdatum: 11.März 2019 Einbandart: Hardcover Preis: 18,95€ Seitenzahl: 400 Übersetzer: Ann Lecker Originaltitel: "The bus 57" Originalverlag: Farrar, Straus and Giroux Amerikanisches Originalcover:
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Kasimiras Bewertung:
(4 von 5 möglichen Punkten)
-------------------------------------- Amerikanisches Cover: Homepage von Farrar, Straus and Giroux
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