“Sadie: Stirbt sie, wird niemand die Wahrheit erfahren.” ist bereits das zweite Buch der kanadischen Schriftstellerin Courtney Summers, das ins Deutsche übersetzt wurde. Die Autorin, die von sich selbst erzählt, dass sie im Alter von 14 Jahren — und dem Einverständnis ihrer Eltern — die Schule abgebrochen hat, um selbst weiter zu lernen, erzählt die Geschichte eines Mädchens, die sich auf die Suche nach dem Mörder ihrer Schwester gemacht hat und die nun selbst vermisst wird. Bis ein Reporter sich auf ihre Spuren begibt. Ein Roadmovie, ein True-Crime-Podcast, ein Thriller und ein überaus erfolgreicher New York Times Besteller. Der besondere Pageturner — ein unglaublich intensiv und packend erzähltes Buch! Lesetipp!! Jetzt neu als Taschenbuch erschienen. Für (reife) Jugendliche ab 14 Jahren und vor allem für Erwachsene.
Cold Creek, Colorado. Ein 800-Seelendorf mitten in der Einöde. Wer hier wohnt, tut dies nur, weil er hier geboren wurde. “Ich lebe an einem Ort, der zu nichts taugt außer zum Weggehen, mehr muss nicht gesagt werden” (Zitat S.16) Hier lebt auch Sadie mit ihrer kleinen Schwester Mattie. In einem Trailerpark, in ärmsten Verhältnissen. Mit einer drogenabhängigen Mutter namens Claire und May Beth, der Ersatzgroßmutter der beiden, der Besitzerin des Trailerparks. “Nun, Claire war schwierig und dafür gab es keinen Grund. Manche Kinder sind einfach so… schlecht. Sie fing mit zwölf an zu trinken. Mit fünfzehn war sie auf Pott, Kokain. Mit achtzehn auf Heroin. Sie wurde mehrfach verhaftet wegen Gelegenheitsdiebstahls und anderer Kleinigkeiten. Einfach unberechenbar.” (Zitat S.28) Claire hat wechselnde Männerbeziehungen. Und ihre Tochter Sadie eine überaus einsame Kindheit, in welcher ihre Mutter (aufgrund ihrer Sucht) sich kaum um sie kümmern und so etwas wie Liebe ihr gegenüber empfinden konnte - ehe nach sechs Jahren, ihre kleine Schwester Mattie geboren wurde. Mit Mattie ist auf einmal alles anders. “Sadie liebte Mattie von ganzem Herzen und diese Liebe für Mattie hat ihr eine Aufgabe gegeben. Sadie machte es zu ihrem Lebensinhalt, sich um ihre kleine Schwester zu kümmern.” (Zitat S.49) Und sie von den “Problemen” ihrer Mutter möglichst fernzuhalten. Auch als Claire einfach weggeht und ihre Töchter alleine zurücklässt, als Sadie 16 Jahre alt war und Mattie 10, da versucht sie alles Mögliche, damit es ihrer Schwester weiterhin gut geht. Bis drei Jahre später Mattie tot aufgefunden wird. Ein stumpfes Schädeltrauma. Eine Leiche auf einer Apfelwiese. Kurz zuvor ein Streit zwischen den Schwestern und Mattie, die weggelaufen ist. “Sadie ist daran zerbrochen, an Matties Ermordung. Sie war danach nicht mehr dieselbe, und das ist verständlich, aber die Polizei hat das Monster nie gefunden, den Kerl, der das getan hat.” (Zitat S.22) Doch nun ist — Monate später — ebenso Sadie verschwunden und May Beth bittet einen Reporter, sich an ihre Spuren zu heften. Denn Sadie hat sich scheinbar auf die Suche nach dem Mörder ihrer Schwester gemacht…
Was bei “Sadie: Stirbt sie, wird niemand die Wahrheit erfahren.” sogleich auffällt, ist das ausdrucksstarke, geschickt gestaltete Cover: die ausgestanzten, schwarzen Buchstaben (bezieht sich auf die Broschurausgabe). Teile des Buches, die fehlen, ebenso wie sie die Protagonistin der Geschichte: Sadie. Ihren Charakter näher kennenzulernen, ihre Eigenarten, ihren Gedanken zu folgen, den Erlebnissen ihrer Vergangenheit nachzuspüren, macht einen besonderen Reiz beim Lesen aus: “Ich bin nicht für die feineren Dinge des Lebens gemacht. Mein Körper ist so kantig, dass man Glas damit schneiden kann, und braucht dringend ein paar Rundungen, aber manchmal ist mir das egal. Ein Körper mag nicht immer schön sein, kann aber eine schöne Täuschung sein. Ich bin stärker, als ich aussehe.” (Zitat S.31) Sadie ist eine eher sprödere Figur, sie ist eigenwillig und stur und hat gerne das letzte Wort. Smalltalk beherrscht sie gar nicht und als kleines Mädchen hat sie angefangen zu stottern und damit auch nie wieder aufgehört. Sie hat Ecken und Kanten und wirkt einfach echt. Und auch wenn sie eine Kämpferin ist, ist sie dennoch von einer gewissen Hoffnungslosigkeit erfüllt. Sie weiß, dass sie vom Leben nicht all zu viel zu erwarten hat: “Ich war sechszehn. Ich habe die Highschool geschmissen, was längst nicht so kompliziert war, wie ich angenommen hatte. Ich weiß noch, wie ich vor der Schule stand, darauf gewartet habe, dass mich jemand aufhält, mir sagt, dass ich meine Zukunft wegwerfe, aber so viel Fantasie gab es an diesem Ort nicht. Für manche Leute ist Zukunft eine Chance. Für andere ist es nur Zeit, die noch kommt, und da, wo ich aufgewachsen bin, war es nur Zeit.” (Zitat S.176) Gerade Sadies Charakter so intensiv und authentisch zu beschreiben, aber auch eine gewisse beklemmende und
drückende Stimmung zu erzeugend, ist Courtney Summers überaus gut gelungen. Es ist Sadie, die den Roman aus der Ich-Perspektive erzählt. Ihre Kapitel werden mit ihrem Namen betitelt und grenzen sich durch das Schriftbild von einer weiteren Perspektive ab. Denn es gibt noch eine weitere Sichtweise in “Sadie: Stirbt sie, wird niemand die Wahrheit erfahren.” und dies ist der besondere Clou des Buches: es ist nicht einfach nur der Reporter, der berichtet, sondern es ist ein Podcast, der abgedruckt wird: “Heute fangen wir etwas Neues an — etwas Großes. Statt der üblichen Folge von Always Out There starten wir mit der ersten Folge unserer neuen Podcast-Serie The Girls. […] Ins Leben gerufen und moderiert von unserem langjährigen Produzenten West McCray, ergründet The Girls, was passiert, wenn ein fürchterliches Verbrechen ein zutiefst beunruhigendes Geheimnis ans Tageslicht bringt. Es ist eine Geschichte über Familie, über Schwestern und das Leben in einer amerikanischen Kleinstadt. Darüber, wie weit wir gehen, um unsere Liebsten zu beschützen … und wie hoch der Preis ist, wenn es uns nicht gelingt. Und sie beginnt, wie so viele Geschichten, mit einem toten Mädchen.” (Zitat S.5) Hier erzählt West McCray von seinen Recherchen, fährt zu dem Ort, in dem Sadie und ihre Schwester groß geworden sind, spricht mit unzähligen Menschen und reist weiter, immer ihrer Spur nach. Die zwei Sichtweisen wechseln sich ab. Sadie ist West McCray immer ein wenig voraus. Bis er schließlich nach ihr auf die Personen trifft, mit denen auch sie gesprochen hat und die sie weiter dazu geführt haben den Mann zu finden, der ihre
Schwester ermordet hat. Gerade diese sich abwechselnden Kapitel zu lesen, die meist mit einem Cliffhanger enden, ist überaus dramatisch und spannend, geradezu nervenzerreißend! Vor allem da man immer noch nicht weiß, was mit Sadie passiert ist. Die Polizei hat nur das Auto, das sie sich gekauft hat und ihre Sachen gefunden verlassen vorgefunden. Meilenweit von Zuhause entfernt. Was das Ganze noch aufwühlender macht, ist außerdem, dass der Leser zu Beginn bereits relativ schnell weiß, was Sadie vorhat, wenn sie den Mörder findet: “Ich werde einen Mann töten. Ich will ihm das Licht aus den Augen stehlen. Ich will sehen, wie es erlischt. Man soll auf Gewalt nicht mit noch mehr Gewalt antworten, aber manchmal glaube ich, dass Gewalt die einzige Antwort ist. Nicht weniger hat er Mattie angetan und deshalb verdient er auch nicht weniger.” (Zitat S.53) Es ist ein Wettlauf mit der Zeit, ein Lese-Sog, dem man sich — vor allem gegen Ende — kaum mehr entziehen kann! Denn die Wahrheit in der Geschichte entblättert sich erst langsam. Wie eine alte, zerfledderte Tapete. Und was darunter ist, das ist nicht schön. Das ist schmerzlich und zerstörend. Daher sei auch eine gewisse Reife beim Leser vorausgesetzt. Das Ende — macht sprachlos und nachdenklich. Ich bin mir noch nicht sicher, ob ich es gut oder schlecht finde… aber passend ist es in gewisser Weise schon irgendwie.
Fazit: Ein unheimlich aufwühlendes, fesselndes Buch. Eine Geschichte, die man nicht mehr vergessen wird!
Courtney Summers hat im Deutschen zuvor noch ein anderes Jugendbuch veröffentlicht: “Außer sich”, in dem sie das Thema Vergewaltigung thematisiert. Ich muss gestehen, dass ich dieses Buch damals angefangen, aber nicht zu Ende gelesen habe, weil es mich nicht ganz so mitgerissen hat. Aber am besten selbst eine Meinung bilden;-) Eine gute Lesealternative zu “Sadie: Stirbt sie, wird niemand die Wahrheit erfahren” könnte die zweibändige “The Amateurs”-Reihe von Sarah Sheppard sein: “Wer zuletzt stirbt” (Band 1) und “Wenn drei sich streiten” (Band 2). Hier ist die Schwester der Hauptfigur verschwunden und als fünf Jahre später die Leiche gefunden, aber die Polizei den Fall schließlich zu den Akten legt, beginnt die Protagonistin selbst der Wahrheit auf den Grund zu gehen. Tote oder verschwundene Mädchen, das findest du ebenso in “Schattenflügel” von Kathrin Lange, in “Schmetterlingsschatten” von Veronika Bicker und in “Der Atem der Angst” von Alexa von Hennig Lange. Von der Stimmung her musste ich auch ein wenig an “Nur in der Dunkelheit leuchten die Sterne” von Marieke Nijkamp denken. Ebenfalls “Jetzt ist alles, was wir haben” von Amy Giles könnte dir gut gefallen!
Bibliografische Angaben:Verlag: Beltz & Gelberg ISBN: 978-3-407-78509-1 Erscheinungsdatum: 19.August 2020 Einbandart: Taschenbuch Preis: 8,95€ Seitenzahl: 359 Übersetzer: Friederike Levin Originaltitel: "Sadie" Originalverlag: MacMillan USA Amerikanisches Originalcover:
Deutscher Trailer zum Buch:
Die Autorin spricht über das Schreiben des Buches (auf Englisch):
Die Autorin spricht über True Crime und Podcasts (auf Englisch):
Kasimiras Bewertung:
(5 von 5 möglichen Punkten)
Dieser Titel hat es in folgende Kategorie geschafft: **Kasimiras Lieblingsbücher**
---------------------------------------------------------- Amerikanisches Cover: Homepage von Courtney Summers