“Jukli oder wie ich einen kleinen Esel an der Backe hatte und nicht mehr loswurde” ist der Debütroman der deutschen Autorin Corinna C.Poetter. Sie erzählt die Geschichte eines Mädchens, das mit allerlei sozialen Probleme zu kämpfen hat und eine alte Frau kennenlernt, die zwei Esel hat und die sich mit diesen auf den Weg nach Frankreich machen will. Als etwas Unvorhergesehenes dazwischen kommt, ist es das Mädchen, das diese Tour alleine wagt. Ein Roadmovie, ein Entwicklungsroman, eine Tiergeschichte mit einer spröden Protagonistin, die man trotz allem irgendwie ins Herz schließt und die lernt über sich hinauszuwachsen. Unterhaltsam und abenteuerlich, besonders und anders! Jetzt nominiert für den Deutsch-Französischen-Literaturpreis 2022! Für Jugendliche ab 10 Jahren.
Die 11-jährige Flora lebt mit ihrer Mutter und ihren zwei älteren Brüdern in einer Hochhaussiedlung in eher ärmlichen Verhältnissen. Einen Vater gibt es nicht mehr. Weder ihren noch den ihrer Brüder Vincent und Patrick. “Das ist manchmal sehr schade, wie ich finde. Vincent versucht, mich dann in den Arm zu nehmen, und verstellt seine Stimme ganz tief. “Brüder sind auch Papas. Nur anders”, aber ich mag es überhaupt nicht, in den Arm genommen zu werden” (Zitat aus “Jukli oder wie ich einen Esel an der Backe hatte und nicht mehr loswurde” S.6). Flora hat es nicht immer leicht. In der Schule wird sie von einigen Mitschülern geärgert und wenn sie sich dann mal wehrt — und die erlernten Tricks ihrer Brüder anwendet — und einen Mitschüler beispielsweise in den Schwitzkasten nimmt, ist es sie, die Ärger mit der Klassenlehrerin kriegt und deren Mutter zum Gespräch antanzen soll. Ihre Mutter hätte es am liebsten, wenn Flora auch endlich eine Freundin fände. Doch selbst das neue Mädchen in der Klasse wendet sich bald von ihr ab, als sie die Hänseleien der anderen Mitschüler bemerkt: “Die ist so ein Vollpfosten! […] Boah, und so hässlich.” Coco kriegt sich gar nicht mehr ein. Ich jogge stur weiter. Bloß nicht stehen bleiben. “Wie die eben geschwitzt hat… gegrunzt… wie ein kleines, fettes Schweinchen.” Von hinten höre ich die drei kreischen. Ihr übliches “Flora, Floretti, Fetti, haha…” (Zitat S.11) Eines Tages lernt Flora jedoch Mamou kennen, eine alte Frau, die mit zwei Eseln in einem Schrebergarten wohnt. Sie ist eine Romni. “Offiziell heißen sie Sinti und Roma. Mamou seufzt und erklärt mir, das man das bekannte Z‑Wort nicht mehr benutzen sollte, auch nicht beim Schnitzel. “Eigentlich gibt es das Z‑Wort in unserer Sprache gar nicht. So wurden wir nur von anderen genannt. […] Sinti und Roma leben schon sehr, sehr lange in Deutschland und in ganz Europa, sie waren einmal ein “fahrendes” Volk” und sind mit ihren Pferdewagen kreuz und quer über den Kontinent getourt.” (Zitat S.38) Und so besucht Flora die alte Frau des Öfteren, verbirgt ihre Existenz vor ihrer Familie wie ein Geheimnis, das nur sie selbst kennt. Auch wenn sie mit den Eseln überhaupt nichts anfangen kann. Mit Tieren allgemein nich
t. Nicht einmal streicheln will sie den kleinen Baby-Esel Jukli. “Lieber nicht”, antworte ich höflich. Wie kann ich Mamou jetzt erklären, dass ich kein Bedürfnis danach habe, jedes Tier mit Fell zu kraulen? Tiere ohne Fell übrigens auch nicht. Gar kein Tier.” (Zitat S.32) Mamou will in Kürze zu einem Eselfest nach Frankreich reisen. Dort soll Jukli das erste Mal in ein Esel-Zuchtbuch eingetragen werden. Diese Reise ist ihr sehr wichtig und natürlich hat Flora schließlich gefragt, ob sie dabei sein kann. Auch wenn sie ihrer Familie gegenüber behauptet hat mit ihrer neuen Klassenkameradin nach Holland zu reisen. Doch dann bricht Mamou überraschend zusammen und muss ins Krankenhaus. “Jukli muss auf das Eselfest! Flora! Versprich es mir”, flüstert sie. Ich schüttele den Kopf. Aber Mamou ignoriert mich und fährt fort: “Morgen früh triffst du Bangi auf dem Rastplatz.” Ich bin total überfordert. Das kann ich nicht. So habe ich mir mein Sommerabenteuer nicht vorgestellt. […] “Ich bin doch erst elf”, höre ich mich sagen.” (Zitat S.67) Aber schließlich wagt sie es doch. Mit Hilfe ihrer Brüder gelangt sie zum Rastplatz, steigt in den Transporter und lässt sich mit Jukli nach Frankr
eich bringen. Ein aufregender Sommer steht ihr bevor. Schafft sie es wirklich Mamous Wunsch zu erfüllen?
Das Cover wirkt ein bisschen altgebacken, sticht aber doch irgendwie hervor durch die auffälligen Farben. Es ist anders und außergewöhnlich, genauso wie die Geschichte um Flora und ihre Bekanntschaft mit Mamou und den Eseln. Der Roman ist in Kapitel eingeteilt, die mit einem abgedruckten Eselsbild starten, und wird durchgehend aus Floras Sicht in der Ich-Perspektive erzählt. Das Mädchen ist kein einfacher Charakter. Am Anfang hatte ich fast etwas Schwierigkeiten mit ihr warmzuwerden. Sie ist rau und spröde, stampft schon mal wütend auf dem Boden, wenn ihr etwas nicht passt oder schlägt um sich, wie bereits der erste Satz des Buches deutlich macht: “Alles an diesem Tag war scheiße. Wütend mähe ich mit einem Stock die Brennnesseln nieder. “Scheiße!”, fluche ich und lausche dem knallenden Klang dieses Wortes. Ich dresche noch heftiger auf die Pflanzen ein, dass sie links und rechts zur Seite fliegen.” (Zitat S.5) Sie ist kein typisches Mädchen, das Tiere sofort in ihr Herz schließt, mag keine Berührungen und muss in der Schule ordentlich einstecken. Auch irgendwelche Begabungen oder prägende Hobbys hat sie keine: “Ich habe kein Talent. Zumindest keins, von dem ich etwas weiß. Meine Mutter seufzt dann immer und betrachtet ich von der Seite, sie denk wahrscheinlich, ich merke das nicht. Dann räuspert sie sich und schlägt mir irgendeine Aktivität vor, was ich “einmal ausprobieren könnte, um meine Talente zu wecken.” Ich wäre ja froh, wenigstens eins zu haben, aber gleich mehrere Talente?” (Zitat S.13) Die Freundschaft zu Mamou lässt Aufbruchsstimmung verheißen, selbst wenn Flora zunächst noch vor unbequemen Wahrheiten davonläuft. So ist sie äußerst erschrocken, als sie von Mamous Familie erfährt: “Meine Mutter ist die Einzige aus der Familie, die den Terror der Nazis im Dritten Reich überlebt hat.” Ratlos frage ich: “Und die anderen Kinder auf dem Foto?” […] “Ach, čhaj, die sind alle tot. Die Nazis haben sie umgebracht. […] Es waren Z‑Kinder, darum!” (Zitat S.40) Damit kann Flora gar nicht umgehen. Doch sie wagt — auch wenn das fast ein wenig unvorstellbar scheint, wie sie ihre Mutter mit Ausreden an der Nase herumführt, als sie angeblich mit einer Freundin nach
Holland reist — die Reise nach Frankreich. Wird ebenso dort wieder mit der Geschichte der Sinti und Roma kontrontiert, als sie weitere Verwandte von Mamou kennenlernt. Die Thematik der Sinti und Roma hat Corinne C.Poetter äußerst gut in die Geschichte eingebaut. Nicht mit hoch erhobenem Zeigefinger, sondern einfach so nebenbei klärt sie Jugendliche über dieses Volk auf und spricht selbst Vorurteile an: “Wir müssen viele Vorurteile aushalten, uns traut niemand etwas zu. Wir haben angeblich keine richtige Schulbildung, leben von Sozialhilfe — viele Menschen haben von uns ein bestimmtes Bild im Kopf.” (Zitat S.95) Flora macht am Ende eine glaubhafte Wandlung durch. Das Buch klingt mit einem kindgerechten Happyend aus. Etwas gefehlt hat jedoch die Mobbingthematik, die zum Schluss leider gar nicht mehr angesprochen wurde. Da hätte ich mir noch ein runderes Ende oder zumindest eine Andeutung über eine mögliche Verbesserung gewünscht. Auch was genau eigentlich Mamou und dem zweiten Esel passiert ist, war mir irgendwie nicht ganz klar.
Dich interessiert das Volk der Sinti und Roma? Deren heftige Erlebnisse im Dritten Reich kannst du zum Beispiel in “Denk nicht, wir bleiben hier!” Die Lebensgeschichte des Sinto Hugo Höllenreiter” oder “Mano: Der Junge, der nicht wusste, wo er war” oder “Muscha” von Anja Tuckermann lesen. Eine Geschichte, in der ein Tier vorkommt und eine Hauptperson über sich hinauswächst? Das findest du in der Neuerscheinung “Der Junge, der mit den Wölfen spricht” von Sam Thompson. Ein Roadtrip, der quer durch Frankreich führt? Das kannst du in “Die Königinnen der Würstchen” von Clémentine Beauvais, in “Glücksdrachenzeit” von Katrin Zipse oder in “French Summer: A fucking great road trip” von Marian de Smet entdecken. Sehr gut gefielen mir ebenfalls diese (nicht in Frankreich spielenden) Roadtrips: “Marilu” von Tania Witte, “Liebe sich, wer kann” von Annette Mierswa und “Mut. Machen. Liebe.” von Hansjörg Nessensohn.
Bibliografische Angaben:Verlag: Magellan ISBN: 978-3-7348-4743-1 Erscheinungsdatum: 15.Februar 2022 Einbandart: Hardcover Preis: 15,00€ Seitenzahl: 208 Übersetzer: - Originaltitel: - Originalverlag: - Originalcover: -
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