“Klippen springen” von der australischen Autorin Claire Zorn ist ein Roman über ein junges Mädchen, die mit dem Unfalltod ihrer Schwester und den Folgen von Mobbing zurechtkommen muss und erst durch einen Jungen lernt, sich wieder neu auf das Leben einzulassen. Eine äußerst bewegende, schmerzvolle Geschichte, die in Australien zwei der renommiertesten Preise für Jugendliteratur erhalten hat. Für Jugendliche ab 13 Jahren und interessierte Erwachsene.
Australien. In den Blue Mountains. Die 15-jährige Hannah leidet immer wieder unter Panikattacken. Auch der Unfalltod ihrer älteren Schwester Katie vor fast einem Jahr macht ihr noch schwer zu schaffen. Sie war schon bei verschiedenen Psychologen, ist momentan bei der Schulpsychologin Anne in Behandlung. In ihrer Familie ist auch nichts mehr so, wie es einmal war: ihr Vater arbeitet viel und ihre Mutter hat seit Katies Tod das Haus nicht mehr verlassen. “Bizarrerweise bin ich fast lieber in der Schule. Zumindest werde ich dort abgelenkt. Die Stunden, in denen ich mit Mum allein zu Haus bin, dehnen sich aus wie ein Ozean, den ich mit gesenktem Kopf durchschwimmen muss.” (Zitat S.31) Doch auch in der Schule ist nicht alles perfekt. Hannah ist zum absoluten Außenseiter geworden. Während sie vor dem Unfall ihrer Schwester auf übelste Weise gemobbt wurde, hat sie nun keinerlei sozialen Kontakte mehr. Darum ist es für sie umso überraschender, als ein neuer Junge in ihrer Jahrgangsstufe sich für sie zu interessieren scheint: “Auf dem Weg zur Türe fühle ich, wie mir jemand auf die Schulter tippt. Ich zucke zusammen. Als ich mich umdrehe, sehe ich Josh, der mein Buch Jane Eyre von Charlotte Brontë in der Hand hält. “Das hast du fallen lassen”, sagt er. Seit fast einem Jahr ist es das erste Mal, dass ein Mitschüler mir in die Augen sieht.” (Zitat S.29) Kann sie sich aus ihrem Schneckenhaus wagen? Kann sie Josh vertrauen? Dann steht auch noch der Gerichtsprozess über den Unfall an. Bei dem sie aussagen soll. Doch ist Hannah dazu in der Lage sich dem zu stellen, was damals passiert ist?
Schon der erste Satz in “Klippen springen” springt einem geradezu ins Auge: “Nur noch drei Monate, dann wird Katie nicht mehr meine große Schwester sein. (Dann schließt sich die Lücke zwischen uns und ich überhole sie. Ich werde älter. Aber Katie wird für immer fünfzehn Jahre, elf Monate und einundzwanzig Tage alt bleiben…)” (Zitat S.5) Der Roman ist in einer sehr angenehmen, flüssigen Erzählform gehalten und wird durchgehend aus Hannahs Ich-Perspektive geschildert. Zwischen die Erlebnisse der Jetztzeit, die im Präsens geschrieben sind, schieben sich immer wieder Erinnerungen oder Rückblenden an vergangene Geschehnisse, die mit “+++”-Zeichen gekennzeichnet und in Vergangenheitsform erzählt werden. Gerade diese Einschübe sind sehr interessant und machen es dem Leser möglich mehr über die Zusammenhänge zu erfahren. Denn Fragen tun sich beim Lesen jede Menge auf: Warum wurde Hannah gemobbt und warum lässt man sie jetzt in Ruhe? Wieso schwimmt sie nicht mehr? Warum hält keiner mehr zu ihr? Das größte Rätsel stellt jedoch der Unfall selbst dar, über den man nur Bruchstücke erfährt. Warum erinnert sich Hannahs Vater nicht mehr daran und weshalb muss auch er vor Gericht? Es sind gerade die wenigen Informationen, die man nach und nach erhält, die einen besonderen Reiz beim Lesen ausmachen. Die Autorin streut diese sehr geschickt in die Geschichte ein. Beispielsweise steht an jedem Kapitelanfang eine Liste, die Hannah aufgestellt hat, zu den unterschiedlichsten Themen. Dadurch erfährt man auch erst allmählich von dem Mobbing, unter dem sie so lange gelitten hat: es gibt eine Liste über die Schimpfwörter, die ihr die anderen an den Kopf geschmissen haben. Oder eine der Gegenstände, die man mutwillig beschädigt hat. Das alles zu lesen, ist sehr ergreifend. Besonders die Verhältnisse, die Hannah zu Hause erlebt. Das Leid ihrer Mutter: “Nichts dringt aus meinem Mund. Kein Laut. Die Stille zwischen uns ist gewaltig. Obwohl ich weiß, dass die Stille sie zum Weinen bringt, kriege ich nichts heraus. Es geschieht meist gegen Abend, dass sie die Kontrolle verliert und stumme Tränen weint. Dad schweigt, denn im Ernst, was könnte man schon sagen? […] Also sitze ich meist einfach nur da und tue so, als sei ich zu tief in Gedanken versunken, um zu bemerken, dass meine Mutter hier in der Küche neben dem Kühlschrank langsam den Verstand verliert.” (Zitat S.31ff) Und die Qual ihres Vaters: “Sein Gesicht ist schmerzverzerrt, obwohl er sich bemüht, es zu verbergen. […] Er hat drei Stahlnägel in jedem Bein und wir nie wieder joggen können. Ich habe ihn nie darüber klagen hören. […] Es ist so seltsam, den eigenen Vater so kraftlos zu sehen. Den Vater,
der uns über den Kopf stemmte und der jetzt Unmengen von Schmerztabletten schluckt und nicht mehr in der Lage ist, länger als eine Stunde zu stehen.” (Zitat S.74) Einen besonders erfrischenden Charakter stellt die Schulpsychologin Anne dar, die anders redet und agiert, als man es von einer Psychologin eigentlich erwartet: “In allen Fächern bist du unter den fünf Besten, außer in Mathe und Sport. Weißt du, wo das Einkaufszentrum ist?” Das ist eine seltsame Frage. “Äh, ja.” “Schön, dann geh hin und besorg dir einen Taschenrechner. Dann ist das Problem gelöst.” Sie lächelt. “Deine Noten haben sich nach dem Tod deiner Schwester nicht verschlechtert. Offensichtlich stimmt was nicht mit dir.” “Okay.” “Das sollte ein Witz sein.” (Zitat S.18ff) Gegen Ende hätte ich mir persönlich noch irgendein unerwartetes Detail gewünscht, das aufgelöst wird und der Geschichte noch eine gewisse Würze gibt. Dies ist leider jedoch nicht der Fall.
Claire Zorn hat im Deutschen bisher nur dieses eine Buch veröffentlicht. Ein Mädchen, das zwar nicht gemobbt wird, aber auch einen Todesfall in der Familie erlebt hat und wieder lernen muss anderen Menschen zu vertrauen, findest du in “Nur dieser eine Sommer” von Becky Citra. Zwei sehr bewegende Geschichten über Mobbing sind “Die Welt wär besser ohne dich” von Sarah Darer Littman und “Unsichtbare Wunden” von Astrid Frank. Oder lies die Schwesterngeschichte “In deinem Licht und Schatten” von Louisa Reid, in der ebenfalls eine gestorben ist und das Rätsel darum erst langsam gelöst wird. Sehr emotional geschrieben! Eine richtig schöne Neuerscheinung ist “Wenn du mich küsst” von Juliana Stone, in dem die Protagonistin unter dem Tod ihres kleinen Bruders leidet und durch die Liebe lernt das Leben wieder zu genießen — Lesetipp!
Bibliografische Angaben:Verlag: Thienemann ISBN: 978-3-522-20220-6 Erscheinungsdatum: 15.Juli 2016 Einbandart: Broschur Preis: 14,99€ Seitenzahl: 256 Übersetzer: "The Protected" Originaltitel: Inge Wehrmann Originalverlag: University of Queensland Press Australisches Originalcover:
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Kasimiras Bewertung:
(4 von 5 möglichen Punkten)
-------------------------------------------- Australisches Cover: Homepage von University of Queensland Press