“Toxische Macht” ist der neue Roman des deutschen Autoren Christian Linker. Er stellt eine junge Studentin in den Mittelpunkt, die unbeabsichtigt die richtigen Worte zur richtigen Zeit von sich gibt und an die Spitze der neuen Partei FUTURE landet und tatsächlich kurz davor ist Bundeskanzlerin zu werden. Doch ausgerechnet ihr Ex-Freund scheint dies verhindern zu wollen und plant einen Mordanschlag auf sie. Faszinierend und sehr unterhaltsam. Für politisch interessierte Jugendliche ab 16 Jahren und Erwachsene.
Constanze, genannt Coco, 24 Jahre alt und VWL-Studentin, hat einen Höhenflug hinter sich. “Den Tag heute mitgerechnet, ist sie während des Wahlkampfs einhundertdreimal aufgetreten, in einhundertdrei verschiedenen Städten, manchmal drei an einem Tag, erst gestern waren sie noch in… ja, wo denn bloß?” (Zitat aus “Toxische Macht” S.7) Die Wahl steht kurz bevor und sie, die an die Spitze der in Corona-Zeiten neu gegründeten Partei FUTURE gelangt ist, könnte die nächste Bundeskanzlerin werden! Noch vor zwei Jahren hätte Coco dies niemals für möglich gehalten. Ein bisschen die Welt retten, mal mit ihrer Freundin Tabea an einer Demonstration teilnehmen, ein bisschen “Fridays-For-Future” unterstützen, das war voll ihrs. Aber so richtig in die Politikzu gehen, das hätte sie sich niemals vorstellen können. “Das ist ja das Problem. Ich merke, dass ich zu ganz vielen Themen überhaupt keine Meinung habe, weil ich mich viel zu wenig auskenne.” (Zitat S.44) Als sie Maikel kennenlernt und mit ihm und ein paar Freunden auf ein politisches Camp geht, welches zum Ziel hat eine neue Partei zu gründen, denkt sie sich nichts groß dabei. Auch ihre Meinung dort zu verkünden, kommt ihr nicht falsch vor: “Unsere Eltern dachten, wenn man sich mehr anstrengt, kann man sich auch mehr leisten. Aber heute musst du dich nur immer noch mehr anstrengen, bloß um nicht abzustürzen. Davon wird man doch krank. Und dann kam das Virus und hat beim Planeten die Pausetaste gedrückt.” (Zitat S.47ff) Doch plötzlich verstummen die Gespräche um sie herum und die Leute hören ihr zu. Sogar das Fernsehen wird auf sie aufmerksam und filmt sie: “Machen wir weiter wie vorher? Oder erfinden wir uns neu? Schaffen wir einen Markt, dem es nicht mehr um Wachstum geht, und eine Politik, der es nicht ums Durchsetzen von
Interessen geht? Schaffen wir eine Gesellschaft, die sich Zeit nimmt für sich selbst?” (Zitat S.48) Coco wünscht sich eine neue Langsamkeit, eine neue Art der Freiheit. Weniger Autofahren, weniger Fleisch essen, mehr achtsam mit sich selbst umgehen, mehr Entschleunigung. Die Reaktionen auf diese Worte sind enorm. Ihre Rede wird im “Heute Journal” gezeigt, der Clip wird online immer wieder geteilt. Und schließlich beginnt Coco damit politisch aktiv zu werden. Nutzt ihre plötzliche Bekanntheit um mehr zu erreichen. Doch kurz vor der entscheidenden Wahl ist ihr alles ein wenig zu viel geworden. Sie flüchtet in das Wochenendhaus einer Freundin. Will niemanden sehen. Mit niemandem reden. Nur mit einer Person: “Sie hat sein Monaten praktisch nichts anderes mehr getan, als zu reden. Gefühlt mit allen achtzig Millionen Menschen in diesem Land, bis auf einen einzigen. Den, mit dem sie eigentlich am allerbesten reden kann. Den hat sie seit fast einem Jahr nicht mehr gesprochen. Aber seine Handynummer hat sie noch.” (Zitat S.8) Ihrem Ex-Freund Maikel. Aber Coco ahnt nicht, dass ausgerechnet er ihre politischen Aufstieg verhindern will und den Auftrag bekommen hat, sie zu töten…
Das leuchtende Orange des Textes und das abgebildete Labyrinth — das Cover fällt auf. Der Roman ist in personaler Erzählweise geschrieben und wird sowohl aus Cocos Sicht, als auch aus Maikels Sicht erzählt. Schon die ersten Sätze katapultieren den Leser mitten ins Geschehen: “Immerhin wird er mal von sich sagen können, er habe mit der späteren Bundeskanzlerin geschlafen. Aber wer will so etwas schon hören? Peinliches Gepose von einem, der verloren hat.” (Zitat S.5). Die Sprache von Christian Linker ist eine faszinierende Mischung aus locker und umgangssprachlich, aber durchaus auch anspruchsvoll und mit hochgeistigen Vokabular. Manche Stellen zeugen von einer schön unterschwelligen Ironie: “Sie kannte Maikel kaum vier Wochen und bis jetzt hatten sie so gut wie nichts miteinander erlebt außer Sex und langen Gesprächen und Pizzabestellen und Serienschauen. Andererseits gab es sicher Leute, deren Ehe über Jahrzehnte hinweg so funktionierte.” (Zitat S.19) “Toxische Macht” ist ein Gesellschaftsr
oman, ein politischer Entwicklungsroman, der vor allem die weibliche Protagonistin stark in Szene setzt. Sie, die politisch doch so gar nicht ambitioniert ist, sich vom medialen Rummel zunächst völlig überfordert fühlt, landet mitten in einer neuen Welt. Was auf dem Papier noch Gedankenspielerei war (wer könnte welchen Posten im Kanzleramt besetzen, welche Funktionen hat man dort überhaupt?) wird plötzlich Wirklichkeit: “Was haben sie gelacht, während sie Namen in das Organigramm kritzelten. So wie wenn du dir mit dreizehn ausmalst, dein eigenes Leben würde mal verfilmt, und du überlegst, welcher Hollywoodstar welchen Mitschüler verkörpern könnte.” (Zitat S.13) Viele Diskussionen um politische und gesellschaftliche Themen spicken den Roman, auch die Rolle des Mannes spielt eine wichtige Rolle darin. Auch wenn es ab und zu mal Stellen gibt, die etwas weniger temporeich und teils sehr ausufernd sind — Cocos Werdegang mitzuverfolgen, liest sich äußerst faszinierend. Das Buch wird in großen Teilen in Rückblenden erzählt, um den Beginn ihrer politische Karriere zu skizzieren und schließlich in der Jetztzeit wieder anzukommen, in der sie Opfer eines Attentats zu werden droht. Auch wie sie Maikel kennengelernt hat, wird genauer erklärt: “Dating in Zeiten der Ausgangsbeschränkungen — es hatte den Reiz des Verbotenen. […] Irgendwann blieben sie stehen und Maikel unterschritt den Sicherheitsabstand
. Und Coco schob ihm den Hut aus der Stirn und küsste ihn” (Zitat S.17ff) Maikel nimmt eine besondere Stellung in dem Roman ein und sorgt für jede Menge Spannung. Denn zu Beginn weiß man bereits, dass er ihr den Sieg wohl schon gönnen würde, aber dennoch politisch zu agieren versucht hat, um sie zu stoppen: “Sie haben alles versucht. Posch und Maikel, die Akademie, die alternativen Medien bis hin zu Bot- und Trollarmeen. Aber ganz egal, was sie unternahmen: Coco und ihre Partei sind bloß immer stärker geworden.” (Zitat S.9) Warum ist ihre Beziehung auseinandergegangen? Warum ruft Coco nun ausgerechnet ihn an? Und wie sehr hat er sich in dem vergangenen Jahr, in dem sie keinerlei Kontakt mehr hatten, weiterentwickelt, um nun bereit zu sein sie zu töten? Eine Andeutung verletzter Gefühle wird gemacht: “Jetzt wäre es hilfreich, Hass zu spüren. Hass ist die Waffe gegen Zweifel. Er ruft sich das Bild ins Gedächtnis. Coco und Kerim. Es funktioniert.” (Zitat S.12) Aber den genauen Hintergründen nachzuspüren, das gelingt erst im weiteren Verlauf des Buches. Während alles auf den entscheidenden Moment zusteuert: wird Maikel sie tatsächlich töten oder nicht? Das Ende ist wahnsinnig spannend und endet mit einem Paukenschlag, der fast ein wenig gemein ist;-)
Dir gefällt der Erzählstil von Christian Linker? Dann greif noch zu seinen anderen Büchern, er hat bisher einiges für Jugendliche/(junge) Erwachsene geschrieben: “RaumZeit” (2002), “Das Heldenprojekt” (2005), “DoppelPoker” (2007), “Blitzlichtgewitter” (2008), “Absolut am Limit” (2010), “Stadt der Wölfe” (2015), “Dschihad Calling” (2015), “Der Schuss” (2017), “Scriptkid: Erpresst im Darknet” (2018), “Und dann weiß jeder, was ihr getan habt” (2019) und “Influence: Fehler im System” (2020). Du magst Bücher mit politischen Hintergründen? Dann lies zum Beispiel “Endland”, “Sein Reich” oder (noch aktueller) “Cleanland” von Martin Schäuble, der ebenfalls sehr kontroverse Themen aufgreift. Einen Anschlag bereitet auch der Protagonist in dem etwas literarischerem “Die Attentäter” von Antonia Michaelis vor. Das Ausbrechen aus festen Strukturen erlebst du auch in dem schon etwas älteren “Die Liga der Guten” von Rüdiger Bertram und der Neuerscheinung “Fürchtet uns, wir sind die Zukunft” von Lea-Lina Oppermann. Hinsichtlich der plötzlichen Berühmtheit der Hauptperson musste ich auch ein wenig an “Ein wirklich erstaunliches Ding” von Hank Green denken.
Bibliografische Angaben:Verlag: bold (dtv) ISBN: 978-3-423-23024-7 Erscheinungsdatum: 19.Februar 2021 Einbandart: Broschur Preis: 14,90€ Seitenzahl: 336 Übersetzer: - Originaltitel: - Originalverlag: - Originalcover: -
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