“Auf einer Skala von 1 bis 10” ist der Debütroman der noch recht jungen, britischen Autorin Ceylan Scott. Die Geschichte eines Mädchens, das in einer psychiatrischen Klinik gelandet ist und sich die Schuld am Tod ihrer Freundin gibt. Die Autorin, die in ihrer Jugend selbst unter psychischen Problemen litt und mit 16 in einer Klinik war, weiß wovon sie schreibt. Authentisch, heftig und bewegend. Kein einfaches Buch. Für Jugendliche ab 14 Jahren und interessierte Erwachsene.
Tamar ist in Lime Grove gelandet. In einer psychiatrischen Klinik. Sie muss sich bis auf die Unterwäsche ausziehen und wird mit Metalldetektoren abgescannt. Auch ihre Sachen werden durchsucht. “Kulis sind verboten. Zu spitz. Keine Kulis, kein Make-up, kein Parfüm, keine Klamotten mit Kordelzug, keine Schnürsenkel — alles verboten. Ich spüre ihre Blicke auf meinen Armen: Narbengewebe, Linien kreuz und quer, glänzend und rot, dazu ein paar frische Schnitte.” (Zitat aus “Auf einer Skala von 1 bis 10” S.12) Warum sie hier ist, das möchte Tamar den anderen Mitpatienten nicht erzählen. Vor allem nicht Dr. Flores, der sie mit Fragen immerzu bombardiert. Er will über Iris reden. Iris, die jetzt nicht mehr da ist und an deren Tod Tamar sich schuldig fühlt (“Warum ich hier bin? Weil ich eine Mörderin bin.” Zitat S.24). Ständig wird sie überwacht, darf nicht einmal alleine duschen oder schlafen. Immer hat man sie genau im Blick. Aber was genau passiert ist, das kriegt niemand aus ihr heraus. Denn es gibt eine Stimme in Tamar, die sie zum Schweigen bringt. “Ich sage nichts. Das Monster lässt mich nicht.” (Zitat S.9) Also lässt sie den Klinikalltag über sich ergeben, findet Anschluss an andere Mitpatienten und wünscht sich nur eines: bald wieder von hier verschwinden zu können. Doch irgendwann muss Tamar sich der Vergangenheit stellen und das wird schmerzhafter als gedacht…
Das auffällige Cover von “Auf einer Skala von 1 bis 10” zieht die Blicke auf sich. Ein Faden, der zum Zerreißen gespannt ist. Ein Leben, das in eine Sackgasse geraten ist. Ein Mädchen in der Psychiatrie. Tamar erzählt aus ihrer eigenen Sicht in der Ich-Perspektive. Immer wieder soll sie ihr aktuelles Empfinden einschätzen, auf einer Skala von 1 bis 10 — der Titel passt wie die Faust aufs Auge. Dennoch ist Tamar nicht immer greifbar, ist ein komplexer, schwieriger Charakter, zu dem eine Beziehung aufzubauen, nicht gerade einfach ist. Ihr selbst verletzendes Verhalten, ihr unverhohlener Selbsthass, ihre Aussage, eine Mörderin zu sein, das liest sich recht heftig. Die Sprache: zuweilen rasiermesserscharf, auf den Punkt treffend und ohne jegliche Verschönerung. Die Autorin, die selbst an einer Borderline-Störung leidet, zeigt wie schlimm eine psychische Krankheit sein kann: “Das Problem ist bloß: Sobald das
Schwindelgefühl weg ist, kreischen die bösen Gedanken gleich wieder los, noch wilder und schlimmer als vorher. Jetzt bist du nicht nur jämmerlich, hässlich und fett, sondern auch noch ein dummer kleiner Depp, der sich einbildet, er könnte Gedanken zum Schweigen bringen, indem er sich den Kopf anhaut. Also knallt deine Stirn, bevor du richtig weißt, was passiert, schon wieder gegen die Wand, ein echter Teufelskreis.” (Zitat S.39) Ceylan Scott enttabuisiert. Sie zeigt den Alltag in einer Klinik. In all seinen Facetten. Rückt Mitpatienten in den Vordergrund, die ebenfalls ihr Päckchen zu tragen haben. Raffiniert ist die Erzählweise in “Auf einer Skala von 1 bis 10”. Sie wechselt zwischen JETZT und VORHER. Letzteres setzt nach Iris Tod an und rückt immer weiter vor in die Gegenwart. Was ist passiert? Während ein beginnender Prolog noch zwei Mädchen beschreibt, die betrunken an einem Weiher sitzen und die eine die andere dazu auffordert ins Wasser zu springen, klafft schnell eine Lücke auf. “Spring, Iris”, sagte die Blonde. “Ich komme dann auch.” (Zitat
S.8) Was danach geschah, wie Iris gestorben ist, das wird nicht verraten. Ein Geheimnis, das sich erst zum Ende des Romans lüften wird. Den Mittelteil fand ich persönlich etwas zäh zuweilen. Tamar, die ihren Klinikalltag beschreibt und Freundschaften knüpft, Erfahrungen sammelt. Positive wie negative. Der Roman macht sensibel für psychische Krankheiten und erzählt von Tamars Krankengeschichte, die auch schon lange Zeit vor der Klinik ihren Anfang nahm: “Als ich verrückt geworden bin, haben sich die Leute vor mir zurückgezogen. Sie haben ziemlich schnell kapiert, wer ich bin: Tamar, die durchgeknallte Einzelgängerin mit Narben auf den Oberschenkeln und Spinnweben im modrigen Hirn. “Haltet euch von Tamar fern”, warnten die Eltern ihre Kinder. […] Dabei war ich gar kein schlechter Umgang, es ging mir einfach nur schlecht.” (Zitat S.35) Das Ende ist bewegend. Im Anhang werden noch Adressen und Kontakte angegeben, an die man sich in Notsituationen wenden kann.
Du magst Romane, die in einer Klinik spielen? Hiervon gibt es jede Menge: “1:0 für die Idioten” von Karlijn Stoffels (Suizid), “Von ganzem Herzen, Emily” von Tanya Byrne (Rache), “Was uns bleibt ist jetzt” von Meg Wolitzer (Trauer; großartige Literatur!), “Cut” von Patricia McCormick (Selbstverletzung) und “Letzte helle Tage” von Martyn Bedford (Trauer). Sehr viele Romane, die in einer Klinik spielen behandeln das Thema Essstörung: “Nichts leichter als das” von Marnelle Tokio, “Heute will ich leben” von Nora Price (sehr bewegend!), “Das Lächeln der Leere” von Anna Sofia Höpfner (dieses beschreibt vor allem den Prozess der Heilung) und “Alles so leicht” von Meg Haston (dramatisch und schmerzhaft, mit autobiografischen Zügen). Sehr gut gefallen haben mir die Romane “Clean” von Juno Dawson (Drogen), “Mein Sommer auf dem Mond” von Adriana Popescu (verschiedene Themen) und die Neuerscheinung “Alles. Nichts. Und ganz viel dazwischen.” von Ava Reed (Panikattacken). Gut könnte ich mir auch “Mädchen in Scherben” von Kathleen Glasgow vorstellen, das ebenfalls etwas heftiger ist. Eine Neuerscheinung von diesem Jahr ist ebenso “Zusammen wie Schwestern” von Gayle Forman. Etwas spannender ist “Feuerschwester” von Emiko Jean und erzählerisch und literarisch grandios ist “Wicker King” von Kayla Ancrum. Aktuell nominiert für den Deutschen Jugendliteraturpreis ist zudem “Kompass ohne Norden” von Neal Shusterman (Schizophrenie). Bücher über die Borderline Störung sind zum Beispiel “Ich spür mich nicht” von Jana Frey, “Wir beide in Schwarz-Weiß” von Kira Gembri, “Grenzland” von Martina Wildner und “Wunder, die wir teilen” von Sara Bernard.
Bibliografische Angaben:Verlag: Chicken House ISBN: 978-3-551-52111-8 Erscheinungsdatum: 31.Mai 2019 Einbandart: Hardcover Preis: 15,00€ Seitenzahl: 256 Übersetzer: Beate Schäfer Originaltitel: "On a scale of 1 to 10" Originalverlag: Chicken House Britisches Originalcover:
Interview mit der Autorin (auf Englisch):
Kasimiras Bewertung:
(3,5 von 5 möglichen Punkten)
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